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Wintersturm uber Deutschland

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Nur allmählich beruhigt sich die Atmosphäre. Langsam verebben die Wogen der Leidenschaft, wie vor ihnen das eisgraue Wasser des Rheins, das bereits die gläsernen Flanken des Bundeshauses umspülte. Die Pariser Verträge haben Gesetzeskraft erhalten, nur eine dünne Membrane — das Votum des Rates der Republik in Paris - muß noch durchstoßen werden und das Langdurchdachte, Vielerörterte wird in den Raum der Wirklichkeit treten.

Wo sind die Einwände, die man vorbrachte, als der Plan zum erstenmal in die Welt trat? Wo die Furcht, die damals manch unbeugsames Herz umklammerte? Erinnern wir uns der Mahnung des großen sozialistischen Führers Schumacher, daß die Sowjets die Aufstellung deutscher Divisionen nur dann dulden würden, wenn das Geschehen von einer aufmarschierten amerikanischen Riesenarmee abgeschirmt würde. Vergangen, verklungen. Das Konstante im Widerspruch war die Erregung, die Leidenschaft, das letzthin Irrationale; rückblickend wirkt die Politik Adenauers wie eine starre Achse, um die die Einwände der Gegner bald langsam, bald schneller rotierten.

Die deutsche Demokratie hat die erste Runde im Kampf um ihre Existenz siegreich bestanden. Die Gefahr kam diesmal von links, von sozialistischer Seite. In ihrem Feldzug gegen die Wiederaufrüstung trat an das Führungskorps dieser großen Partei, in der so viele deutsche Arbeiter ihre politische Vertretung erblicken, die Versuchung heran, die Entscheidung nicht im Bundeshaus, sondern in den Betrieben, den Gewerkschaftssekretariaten und schließlich auf der Straße zu suchen. Massenkundgebungen, Volksbefragungen und öffentliche Abstimmungen zum deutschen Manifest sollten an Stelle des Votums im gläsernen Palast zu Bonn treten. Aber im letzten Augenblick erfaßte die Führer der Sozialisten selbst ein heimliches Grauen vor ihrem Vorhaben; die Bewegung verlor an Schwungkraft, die Abstimmungen blieben stecken, das demokratische Gewissen Ollenhauers und der Männer um ihn, das für eine Weile von den giftigen Partikelchen der Leidenschaft überflutet zu werden drohte, bewies eine Kraft und Vitalität, an die man kaum mehr zu glauben gewagt hatte.

Man wird also gut daran tun, diese Männer nicht allzuoft und aufdringlich an die Stunde der Versuchung und den Augenblick, da sie ihr zu erliegen drohten, zu gemahnen. Dies um so weniger, als in der Auseinandersetzung um die Verträge, dort wo das Saargebiet ins Blickfeld rückte, auch die Haltung der FDP zwielichthaft wurde und mit dem vehementen und sehr persönlichen Angriff Dehlers gegen den Kanzler entgleiste. Die Aspekte Dehlers und Ollen-hauers könnten kaum verschiedener sein, aber die Heftigkeit ihres Einspruches gegen die glasklare Logik Adenauers wird im Grunde aus demselben emotionellen Tiefengrund gespeist. Die Einsicht, daß die Wiedervereinigung mit der Kraft Deutschlands allein nicht durchgeführt werden kann, daß man das russische Mißbehagen vor einer neuen deutschen Wehrmacht gründlich überschätzt hat, wie die Erkenntnis, daß die Saar — ein amerikanischer Kommentator sprach ungeduldig von einem Gebiet, das kaum größer als eine Ranch in Texas sei —, wie die Lage jetzt ist, nicht rückgeführt werden kann, und daß es schließlich nicht angeht, das gesamteuropäische Konzept daran scheitern zu lassen; all dies sind Wahrheiten, gegen die man sich in blinder Seelennot zur Wehr setzt. Das „Noch einmal“ Ollenhauers — es ist das „Noch einmal“ von „Tor und Tod“, das „Noch einmal“, das nur in den Märchen Erfüllung findet —, dieses so menschliche Verlangen nach einem weiteren Schicksalstermin und das stolze und überhebliche „Niemals“ Dehlers, sie sind sich also im Grunde verwandt. Auch darf man sich nicht darüber im unklaren sein, daß die Haltung beider mehr Resonanz gefunden hat, als das schließliche Abstimmungsergebnis vermuten ließe.

Bis ganz zum Schluß schwelten in vielen Herzen gefährliche Illusionen. Könnte man ganz sicher wissen, daß Adenauer in neuen Verhandlungen mit Paris nicht eine bessere Lösung für die Saar aushandeln würde? War es nicht doch möglich, daß die Sowjets bei einem neuen Versuch, ins Gespräch zu kommen — aber dieser wäre dann sicher der letzte — sich bereitfinden würden, die deutsche Ostzone fahren zu lassen, Ulbricht und Grotewohl wie das ganze ostzonale Regime preiszugeben? Der alte Herr hat darauf verzichtet, den eisernen Ring seiner Argumente zu schließen. Aber Kiesinger hat es für ihn getan, und es war auffallend, wie ernüchternd seine Frage wirkte, ob die atlantischen Mächte überhaupt bereit sein könnten, die Bundesrepublik mit ihrem gewaltigen Potential in die Bündnislosigkeit zu entlassen.

Die deutsche Demokratie hat die erste Runde um ihre Existenz siegreich bestanden. Das Ergebnis, die Armee von zwölf Divisionen im atlantischen Rahmen, tritt gegenüber der großen, inneren Belastungsprobe und der Art, wie schließlich die Entscheidung in echter, parlamentarischer Auseinandersetzung gefallen ist, beinahe ein wenig zurück. Zwölf Divisionen angesichts ungeheurer Machtzusammenballung in Ost und West, angesichts grauenvoller Zerstörungswaffen! Ein Versuch mit unzulänglichen Mitteln, ein mutiger Protest gegen das Ueber-wältigende der Umstände? Man könnte sagen, daß die Menschheit im Grunde ihre Existenz immer mit unzulänglichen Mitteln sicherstellen mußte, daß der Weg des Fortschrittes durch mutige Proteste gegen das Ueberwältigende der Umstände markiert ist. Könnte hinzufügen, daß bereits das Besinnen auf die eigene Kraft ein Fortschritt ist, auch wenn diese eigene Kraft Europas zunächst noch unzureichend ist. Aber der Schicksalsakzent liegt weniger auf „zwölf Divisionen“ als auf den Worten „im atlantischen Rahmen“; gibt dieser Umstand doch Deutschland die Garantie, daß es nie zum politischen Niemandsland werden kann, zu dem zweiten Korea eines gewagten Aggressionstestes, daß vielmehr die westlichen Hauptatommächte sofort eingreifen müßten, daß, mit anderen Worten, die Bundesrepublik ebenso gesichert erscheint wie England, Frankreich oder die USA-

Wenn aber die zwölf Divisionen im großen Weltspiel nicht mehr das Gewicht besitzen, das man ihnen anfänglich zuschreiben wollte — sie sind nicht dazu da, einen „großen Krieg“ zu entscheiden, sondern den Ausbruch eines „kleinen Krieges“ zu verhindern —, so muß man sich doch über eines im klaren sein: Im innerdeutschen Geschehensraum werden sie einigermaßen wuchtig dastehen. Da und dort wird man sich daher vielleicht die Frage stellen, ob etwa d i e zw eite Runde im Kampf um die deutsche Demokratie gegen rechts geführt werden muß.

Nun, das Phänomen eines von Seeckt wird sich sicherlich nicht wiederholen, und es wird in der Bundesrepublik keinen Schleicher, Grö-ner oder Hindenburg geben. Aber eine große Organisation, der ein bestimmter Teil des Nationaleinkommens zugewiesen werden muß und der Hunderttausende junger Menschen für eine bestimmte Zeit angehören, hat nun einmal einen Strahlbereich, von Formung und Einfluß. Dazu kommt, daß bei aller Vorsicht und Siebung zumindest in die kleineren Befehlsposi-tionen Männer vom Schlage Kesselrings und Ramckes einziehen werden, die, wie weiland die Bourbonen, nichts vergessen und nichts dazu-gelernt haben. Zweifelsohne werden sich auch alte und neue Querverbindungen zu den westdeutschen Industriellen ergeben. Die kommunistische Propaganda hat uns diese Männer bis zum Ueberdruß als bluttriefende Verkäufer des Artikels Massentod geschildert. In Wirklichkeit handelt es sich natürlich um differenzierte Erscheinungen, deren politisches Urteil allerdings recht unsicher ist und die gegenwärtig zwischen der äußeren Fata Morgana eines überdimensionalen Ostgeschäftes und der inneren eines strammen Rechtskurses hin und her wanken und manchmal Instinktlosigkeit mit einer freien Hand für politische Abenteurer verbinden. Erfolgt mit anderen Worten die Einreise Otto Strassers, dieses tiefgekühlten politischen Gespenstes aus Kanada, in dem schicksalhaften Augenblick, da die Bedrohung von links un: merklich ab-, die von rechts unmerklich zunimmt? Alles wird offensichtlich davon abhängen, ob sich die beiden großen Parteien des Bundestages in dem verflossenen Streit soweit auseinandergelebt haben, daß die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie erschüttert sind. Solange nämlich Regierung und Opposition sich in grundsätzlichen Fragen einer Meinung wissen, werden die Schatten der Vergangenheit nicht mehr über die freundliche Landschaft und die emsigen Menschen des deutschen Wirtschaftswunders fallen. Abschließend aber muß hier als hoffnungsvolles Zeichen vermerkt werden, daß die Gefahr rechtzeitig erkannt wurde und man nicht auf jene Dumpfheit und auf jenes diagnostische Unvermögen stößt, das die meisten Würdenträger von Weimar auszeichnete. Noch vor der großen Debatte hat Bundes* Präsident Heuß zur Mäßigung gemahnt und mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß das. was die beiden großen Parteien in der Außenpolitik trennt, nur eine ,.unterschiedliche Beurteilung der taktischen Chancen“ sei. Gewinnt diese Erkenntnis Raum, dann wird der deutschen Demokratie die zweite Runde erspart bleiben.

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