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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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UNSERE STUTZPUNKTE. Die Welt spricht von Stützpunkten. Von den Startbahnen der Flugzeuge und den Basen für die Flotten. In dieses Gespräch der Großen beginnt sich — spät, aber doch — Oesterreich einzuschalten. Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, daß unsere „Stützpunkte“ anderer Natur sein müssen. Das Wort von der „kulturellen Großmacht Oesterreich“ ist reichlich strapaziert und soll deswegen hier auch vermieden werden; allein wir haben stets die Meinung vertreten, dafj gerade auf dem kulturellen Sektor unser Land mit manchem an militärischen und wirtschaftlichen Potential ungleich mächtigeren Land keine Vergleiche zu scheuen braucht. Die Möglichkeiten, die sich daraus für eine weitsichtige Staatspolitik ergeben, liegen auf der Hand. Der Anlafj zu dieser Erinnerung ist gegeben: erst vor wenigen Tagen eröffnete in London das dort neugegründete Oester-reichische Kulturinstifut seine Tore. An das regsame Insfitut in Rom, das Zentrum in Paris reiht sich nun das Haus in der englischen Metropole. Weitere sollen, müssen folgen. So gebührt vor allem dem Projekt, im Vorderen Orient ein solches „Oesterreich-Haus“ zu eröffnen, Vorrang. Gerade hier hat Oesterreich nicht geringe Chancen, die, wenn sie nicht bald genützt werden, verlorengehen. Unser Land ist nicht als Kolonialmacht „belastet“, die Erinnerungen an das Studium in Wien werden in vielen Familien von den Vätern auf die Söhne weitergegeben. Freilich: nicht nur zum Kriegführen gehört nach dem Wort eines bekannten österreichischen Feldherrn Geld, Geld und wieder Geld; auch eine offensive Kulturpolitik brauch, will sie erfolgreich sein, nicht unbeträchtliche Mittel. Allein sie amortisieren sich. Denn, so lehrt die Erfahrung: bewufjte Kulturpolitik zieht die Wirtschafts- und die Außenpolitik nach. Freilich darf man nicht ernten wollen, kaum dafj man gesät hat... Das erste Jahrzehnt des neuen Oesterreichs war solchen Ueberlegungen auf weife Sicht nicht gerade hold. Gebieterisch forderte der Tag sein Recht. Nun ist es aber Zeit, an verantwortlicher Stelle die Optik auf größere räumliche und zeitliche Entfernungen einzustellen. Jetzt oder nie *

„VERZEIHUNG, ICH HEISSE ARNOLD!“ Die Revolution vor den Türen Bonns ist geglückt. Mit sechs Stimmen Mehrheit wurde Karl Arnold und mit ihm das von der CDU geführte Kabinett Nordrhein-Westfalen gestürzt. Das größte deutsche Bundesland kommt unter ein von der SPD geführtes Kabinett, in dem aber die „jungen Herren“ der FDP — sie sind die eigentlichen Drahtzieher des Düsseldorfer Umsturzes — ein gewichtiges Wort mitzusprechen haben. Die Abstimmung nahm ebenso dramatische wie groteske Formen an. Mitten im Plenum bahrten die Abgeordneten der FDP ihren in dicke Gipsverbände einbandagierien Kollegen Dr. Hoven auf, der nach einem schweren Verkehrsunfall auch heute noch mehr tot als lebendig ist. Gegen den Raf ihrer Aerzfe verließen zwei CDU-Abgeordnete das Krankenbett, und ein mit einem schweren Herzleiden auf Urlaub geschickter SPD-Mann kehrte, einen Herzinfarkt riskierend, in die politische Arena zurück. In den Sekretariaten aller Parteien aber standen motorisierte Abschleppdienste bereit, für den Fall, daß einzelne Parlamentarier im Schnee steckenblieben. Es kam

— wie sich auch zeigte — wirklich auf jede Stimme an. Das Bizarre am Sturze Karl Arnolds, der neun Jahre dem Kabinett in Düsseldorf präsidierte, ist aber, daß dieser sich unter nicht wenigen Komplimenten für das Opfer vollzog. Treffend charakterisiert der Karikaturist der „Süddeutschen Zeitung“ die Situation: Da wird Karl Arnold von vermummten Gestalten zum Schafott begleitet. Ein Blulrichter verliest das Urteil. „Somit wird der Angeklagte Adenauer...“

— „Verzeihung, ich heiße Arnold!“ antwortet das Opfer der Verwechslung. Arnold geht in Düsseldorf. Man wird aber in der deutschen Politik seinen Namen wieder hören — dann, wenn man in Bonn zu dem großen, dem einzig erfolgreichen Gegenzug ansetzt: zur Generalbereinigung des Verhältnisses CDU—SPD.

.DER WICHTIGSTE PARTEITAG SEIT DEM TODE LENINS“: Als dieses Wort bald nach Beginn des 20. Parteitages der KPdSU zum ersten Male fiel, hielten es manche ausländische Beobachter für ein Musterbeispiel eines Neubyzantinismus, der nicht zuletzt durch die Chruschtschow-Verehrung sichtbare Schatten über die 1600 anwesenden Delegierten warf. Dann kamen einzelne bemerkenswerte Vorstöße, so die nachdrückliche Verwahrung der Armee gegen Eingriffe der Partei und Parteikommissare in ihre Hoheitsrechte, und dieser und jener Angriff gegen den „Persönlichkeitskult“. Und dann kamen die drei großen Ereignisse, die sechsstündige Programmrede Chruschtschows, der Brief Titos und die Verurteilung Stalins durch Mikojan. Wenn es jetzt schon gewagt werden darf, die möglicherweise welthistorische Bedeutung dieses ersten Parteitages nach dem Tode Stalins in wenigen Sätzen zu erfassen, dann gilt wohl: unter der sehr sichtbar aufgemachten Führung Chruschtschews eröffnet ein Führerkolleg der Sowjetunion, eine Gruppe starker, • eigenwilliger und kühner Männer einen neuen Abschnitt der sowjetischen Offensive zur Gewinnung der Welt. Diese Männer sind entschlossen, auf ihre Weise auf das Ganze zu gehen. Si sagen deshalb dem Stalinischen, sektiererischen dogmalischen Sozialismus des greisen Diktators cb und bekennen sich zu einer elastischen Politik, die zunächst einmal drei Hauptziele hat: rascher Ausbau des sowjetischen Wirtschaftspotentials, mit Hauptgewicht Schwerindustrie; die mit Hochdruck fortgeführte Industrialisierung soll es der Sowjetunion ermöglichen, die Völker Asiens wirtschaftlich zu gewinnen und industriell aufzurüsten und das Weltwirfschaftssystem der westlichen Welt durch eine sowjetisch geführte Weltwirtschaft zu ersetzen. Um diese Expansion nach außenhin abzusichern, ergeht eine weltweite Einladung nicht nur an alle nichtsowjefi-schen „demokratischen Sozialisien“, sondern „an alle Freunde des Friedens und des Fortschritts“ in allen Ländern der Erde. Diese Sammlung geschieht unter Berufung auf Marx und Lenin und, wie Mikojans Rede zeigt, in scharfer Absage art Stalins russisch-rotzaristischen Bolschewismus, Mikojan, Molofow und Chruschtschew unterstrichen die Bereitschaft der UdSSR zur Koexistenz mit den kapitalistischen Staaten, nachdem sich Stalins These von der absoluten Degeneration des kapitalistischen Systems und dem Verfall der Produktion in seinen Ländern als unhaltbar herausgestellt habe. Gleich nach Mikojans Bekenntnis der Sfalinischen Schuld an vielen Irrtümern und Mißerfolgen der sowjetischen Außen- und Innenpolitik wurde die erste Gabe eingebracht: Titos Brief. Es ist in dieser Stunde noch zu früh, die europäischen und weltweifen Perspektiven dieses Briefes zu ermessen. — Eine zweite Perspektive drängt sich aber schon auf: aller Wahrscheinlichkeit nach werden die UdSSR ihr Werben um die USA nicht so schnell aufgeben. Man ersieht nun etwas vom Hintersinn der beiden Freundscfvsfts-pakiangebote an Eisenhower: die 1600 Delegierten hätten sich, genau so wie nach der Verlesung der Botschaft Marschall Titos, beifallsdröhnend von ihren Sitzen erhoben, wenn die gegenwärtige Führung der UdSSR dem 20. Kongreß einen Pakt mit den USA hätte servieren können: das wäre als eine Tat erschienen, würdig der nunmehr beginnenden offiziellen Beendigung der Sfalinischen Aera. — Es liegt an jedem einzelnen von uns, Kräfte zu entwickeln, die dieser Anforderung ebenso „aktiv und geschmeidig, aber ruhig im Ton und ohne Schärfe“ entgegentreten, wie es Mikojan von seine Genossen fordert.

EIN MANN GEGEN DIE „M1SERIA“. Das unerwartete Hinscheiden des 53 Jahre alten langjährigen Finanz- und Budgetministers Ezio Vanoni hat in Italien tiefen Eindruck gemacht. Auch wegen der Todesumstände war die Oeffenflichkeit bewegt. Denn Vanoni starb an einem Herzinfarkt kurz nach Beendigung einer mit äußerster Anstrengung im Senat vorgetragenen Rede, die der seit langem schwerkranke Mann in der vorangegangenen Nacht ausgearbeitet hatfe und die sich wie üblich durch Sachkunde und Ueberzeugungstreue auszeichnete. Was aber die im Gegensatz zu sonst andächtig zuhörenden Senatoren an den Ausführungen des Ministers besonders frappierte, war sein ungewohntes persönliches Bekenntnis, das gleichsam blitzartig die Motive seines unermüdlichen zehnjährigen Wirkens enthüllte. Er, der aus dem gebirgigen Norden der Schweizer Grenze stammende Mann, der als Knabe Armut und Elend seiner engeren Heimat kennengelernt und später, als Professor der Finanzwissenschaft an der Universität Cagliari, die Not der sardischen Bauern erlebt habe, sei vor etwa zwölf Jahren in das politische Leben eingetreten, um nach Vermögen an der Beseitigung der „Miseria“ mitzuwirken. Sein Ziel sei von Beginn an die Ueberbrückung der schroffen Abgründe zwischen arm und reich gewesen, jener Abgründe, die zumal zwischen '• Norditalien einerseits und Süd- und Inselitalien anderseits seit Menschengedenken klaffen. Wie er, der tiefreligiöse und von sozialem Empfinden durchdrungene Politiker, seine Aufgabe zu lösen trachtete, offenbaren die beiden Werke, die er hinterlassen hat. Das eine ist die große Steuerreform von 1951, die mit den veralteten und willkürlichen Erhebungsmethoden aufgeräumt und vor allem den Grundsatz steuerlicher Gerechtigkeit verwirklicht hat. Tafsächlich haben die Steuerhinterziehungen zahlungskräftiger Steuerpflichtiger zum Schaden anderer, überbelasteter von lahr zu Jahr nachgelassen und, Hand in Hand nif den wachsenden Wirtschaftserfolgen, ein erheblich gestiegenes Steueraufkommen erbracht, das dem Staat für seine wachsenden ^fgaben eine größere Bewegungsfreiheit gegeben hat. Sein zweites, geradezu auf die Jmformung von Staat und Wirtschaft abzielendes Werk ist der Zehn jahresplan (1955/1964), der sich die allmähliche Beseitigung der Erwerbslosigkeit und die Steigerung des Volkseinkommens zum Ziel setzt und die schreienden Mißstände in den unterentwickelten Gebieten m Süden des Landes und auf den Inseln ilgen will. Dieser Vanoni-Plan, wie er leufe genannt wird, ist das von dem Früh-'erstorbenen hinterlassene Testament.

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