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Am Beispiel Polen... ?

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Wie so häufig, haben die westlichen Beobachter — und vor allem die vermeinten Sachkenner — lange nichts von den Dingen bemerkt, die sich hinter einem weithin durchlöcherten, eher blechernen denn eisernen Vorhang in den Volksdemokratien seit etwa einem Jahre abspielen. Polen, dessen Kommunisten sich, mit einigem Fug, dessen rühmten, ihre Revolution sanft und ohne blutige Opfer vollzogen zu haben, kann als Musterbeispiel für eine Entwicklung dienen, die sich sozusagen in aller Halböffentlichkeit vollendet hat. Ob auch als gültiges Exempel für die anderen Satelliten der Sowjetunion, das ist eine zweite Frage, die wir kaum zu bejahen wagen.

Am Anfang steht die Tatsache, daß die unterschiedlichen Abweicher — im wesentlichen nur nach rechts, in die verführerischen Zaubergärten des Nationalismus und des Westlcrtums abgeirrten —, ja die offenkundigen Verräter aus bürgerlich-adeligen Kreisen nicht etwa von der ! ganzen Strenge der sozialistischen (Ungerechtigkeit getroffen wurden, sondern daß sie, und auch das nach geraumem Zögern, höchstens hinter Gefängnismauern verschwanden, durch die stets der Rückweg ins Freie sichtbar blieb. Die Rajk und Palffy-Oesterreicher, die Slänskv und Clementis, die Kostov und Koci Xoxe, die als Titoisten nach widerlichen Schauprozessen ins Jenseits befördert wurden, haben in Polen kein Gegenstück gefunden. Ihre Gesinnungsgenossen und Schicksalsgefährten, mit denen sie der Widerstand gegen die Moskauer Alleinherrschaft und der Wunsch nach allmählicher Lockerung der Diktatur verknüpfte, die Gomulka, Spychalski und Kliszko, sind überhaupt nie vor Gericht gestellt, allerdings im Jahre 1951 in Haft genommen worden, während einige Generale der alten Armee, die sich dem neuen Polen zur Verfügung angeboten hatten, voran die hervorragenden Generalstäbler Kirchmayer (aus alter Tiroler Adelsfamilie) und Tatar durch Urteil eines befangenen Tribunals in den Kerker wanderten. Das geschah in der schlimmsten Zeit der Stalin-schen Greisentyrannei, damals, da auch der Kampf gegen die Kirche den Gipfelpunkt erreichte und als der Polizeiterror sogar in Polen aufs ärgste wütete.

Kaum war jedoch aus Moskau das erste lindere Lüftchen zu verspüren, da ließ der Druck sofort nach. Während auf wirtschaftlichem Gebiet nichts unternommen wurde, was mit dem ungarischen Experiment Nagys zu vergleichen gewesen wäre, und die Schwerindustrie im Vordergrund blieb, die Produktion an Bedarfsgütern kläglich nachhinkte, rüttelte die polnische Intelligenz, die ungeachtet aller Maßnahmen des Regimes zum überwiegenden Teil aus Angehörigen der Vorkriegsbourgeoisie besteht, an den Ketten, wandte man sich sogar in kommunistischen Parteikreisen, innerhalb deren ja ebenfalls nicht wenige Führer aus der einstigen bürgerlichen Intelligenz stammen — so fünf von elf Mitgliedern des Politbüros —, gegen die Obmacht der Staatspolizei, der verhaßten ,,Bezpieka“. Der Sicherheitsminister Radikiewicz, ein finsterer Geselle, mußte zurücktreten und wurde sang- und klanglos aus dem Politbüro ausgeschifft. Zum besonderen Sündenbock wurde, ähnlich dem noch bösartigeren Gabor Peter in Ungarn, der eigentliche Drahtzieher der Bezpieka, ..General“ Rozanski, auserkoren, ein Bruder des gar anders gearteten inzwischen als zu west-leiisch-konziliant abservierten zeitweiligen Literaturdiktators Jerzy Borejsza und infolge seiner jüdischen Abkunft gut geeignet, in der so wichtigen Flüsterpropaganda vom Regime als Hauptschuldiger an allen Polizeiübergriffen bezeichnet zu werden. Es wurde ein eigenes Komitee für die Sicherheit (des Staates, recte der kommunistischen Diktatur) geschaffen und an dessen Spitze eine wichtige Figur, das Mitglied des Politbüros und stellvertretende Premierminister Dworakowski, berufen. In jüngster Zeit, am Vorabend des Osterfestes, ist auch dieser von seinem Posten entfernt worden, der dem bisherigen Landwirtschaftsminister und Mitglied des Zentralkomitees Pszczolkowski zufiel. Worin Optimisten eine weitere Lockerung der politischen Polizeiüberwachung erblicken wollen.

Feststeht, daß die nichtkommunistische Bevölkerungsmehrheit behutsam aufatmet, daß die — in diesem Falle als maßgebend zu betrachtende — Intelligenz erklärt, in der privaten Sphäre unbehelligt zu sein, daß man es wagt, ungescheut mit dem westlichen Ausland, ja mit Emigranten Briefwechsel zu unterhalten, ausländische Sendestationen zu hören, fremde Besucher Polens als Gäste ins Haus zu laden: alles Dinge, die noch vor Jahresfrist kaum denkbar waren. Noch mehr, und das soll vor allem unterstrichen werden: die Kritik e. i zahllosen Mißständen getraut sich an die Öffentlichkeit. Sie wird in Zeitschriften, wie dem „Przeglad Kulturalny“ und in Tagblättern, wie dem „Zycie Warszawy“ mit großer Verve betrieben. In kommunistischen Parteikreisen fühlt man dabei mit richtigem Instinkt heraus, daß es sich da um etwas ganz anderes dreht, als um die in der UdSSR prompt, sogleich nach dem 20. Parteitag und den Reden Chruschtschows und Mikojans einsetzende befehlsgemäße Verlästerung des Stalinismus; um mehr als um eine Verdammung der früheren Tyrannei bei gleichzeitiger Huldigung an die neue, nun sozusagen und ljis auf Widerruf kollektive statt individuelle Zwangsherrschaft. Wohl müssen die polnischen Kritiker noch einen kümmerlichen Rest aus dem kommunistischen Phrasenschatz wahren. Manchen ist es sogar ernst mit der Beteuerung, sie wollten nur die Säuberung des sozialistischen Aufbaus von Auswüchsen und Mißbräuchen, von schlechten Werkzeugen eines guten Leitgedankens.

Im allgemeinen verspürte man indessen aus Worten und Schriften der Dichter und Wissenschafter den leidenschaftlichen Drang nach Freiheit, nach Abschütteln der Scheuklappen, mit denen ein engherziges System ihnen den Ausblick versperren wollte, vordringlich aber die Sehnsucht, endlich von der Verlogenheit loszukommen, die sich auf sämtlichen Gebieten des politischen und geistigen Lebens breitmachte. Mit rührender Begeisterung wurde jeder erneute Kontakt mit dem Westen begrüßt. Vergebens deuteten offizielle Kreise den Taumel des Enthusiasmus für das Gastspiel der Negeroper ,,Porgy and Bess“ als Kundgebung gegen amerikanischen Rassismus, man war einfach froh, etwas anderes als russischen Kulturimport zu genießen. Das Entzücken wiederholte sich beim Gastspiel des Wiener Burgtheaters Mitte März.

Französische Senatoren, USA-Journalisten mögen dem Regime als Befürworter der Ko-Existenz oder als Zeugen der unbezweifelbaren wirtschaftlichen Leistungen des Wiederaufbaus willkommen sein: die Oeffentlichkeit sieht in ihnen nur die Boten aus dem Westen, zu dem sich Polen nach wie vor gehörig fühlt. Als Gegenstück zu diesen Dingen kann die Rückkehr der seit vielen Jahren in der Sowjetunion zuiück-gehaltenen Polen betrachtet werden, die — zu Tausenden repatriiert — mit ihren Erinnerungen nicht gerade für die amtlichen Thesen der Brüderlichkeit beider Völker werben.

In der Presse lasen inzwischen die überraschten uneingeweihten Durchschnittsmenschen sehr Erstaunliches. Im Krakauer „Dziennik Polski“ erschien eine Zuschrift, die den Marxismus offen angriff. Im „Zycie Warszawy“ begann der einst als katholisch angeschene vortreffliche Publizist (und Deutschlandkenner) Osmanczyk eine Artikelserie, die das gesamte System scharf unter die Lupe nahm. Er, der auch Abgeordneter zum Sejm ist, fordert echten Parlamentarismus, kein bloßes Jasagen, einen Ausbau der überparteilichen Nationalen Front. In derselben Zeitung verlangen in einem Offenen Brief an den Justiz-minister zwei Unzufriedene, von denen einer den schlimmen Namen Dziedzic (Erbgutsherr) führt, man solle in aller Form die Schuldlosigkeit der zu Unrecht Verhafteten oder gar Verurteilten bekanntgegeben, die übrigens in den Straßen Warschaus zu treffen seien. Auf diese Weise erfuhr die breite Oeffentlichkeit erstmals, daß Gomulka, Spychalski, Kirchmayer und Tatar aus der Haft entlassen wurden. Natürlich war der ,,Offene Brief“ bestellt. Er bildete gewissermaßen den Auftakt zur Rede, die der neue Erste Sekretär der PZPR, Ochab, am 6. April hielt und in der er die Wiedergutmachung des geschehenen Unrechts an dessen Opfern mitteilte.

Doch gerade dieses Referat umschreibt klar die Grenzen eines Umbruchs, dem die über ihn Erfreuten etwas voreilig übermäßige Bedeutung beimessen. Ochab, der am 20. März auf Weisung des in Moskau verstorbenen bisherigen Kommunisten Nr. 1, Boleslaw Bierut, zu dessen Nach-folger als Parteisekretär gewählt worden war, ist schon durch seine Person und durch seine Vergangenheit — als Gewerkschaftsführer, als Inspirator des Kirchenkampfs und als Adlatus Rokossowskis bei der gründlichen Säuberung des polnischen Offizierskorps — eine Bürgschaft dafür, daß der in Auswirkung des 20. Kongresses der sowjetischen Kommunistenpartei erfolgte Wandel nichts an der Alleinherrschaft des von stalinistischeri Zusätzen gereinigten Leninismus ändern darf. ,,Wir sind fest überzeugt“, sagte Ochab, „daß wir, gewappnet mit den Beschlüssen und Weisungen des historischen Zwanzigsten Parteitags beim guten, leninistischen Kontakt und bei der Verbundenheit des Zentralkomitees mit den Parteiaktivisten und mit der gesamten Partei, bei guter, richtiger Kritik und Selbstkritik, geleitet von der unfehlbaren Richtschnur des Marxismus-Leninismus, unser Volk zu neuen Kämpfen und Siegen führen werden.“

Was besagt daneben die ätzende Kritik, die Ministerpräsident Cyrankiewicz auf dem Architektenkongreß, zehn Tage zuvor, an den Monsterbauten geübt hat, die er selbst früher belobt hatte und die nun dem bis nun unterdrückten öffentlichen Spotte preisgegeben sind? Was besagen die kühnen Reden auf der Session des Kulturrats, die den Literaten und Künstlern Gelegenheit zur Verktindung aller ihrer Schmerzen bot? Was besagen die gereimten und ungereimten Stoßseufzer der parteigebundenen der parteilosen Dichter Wazyk und SlonimsH die bissigen Ausfälle und Einfälle des einstigen Pariser Botschafters und glänzenden Erzählers Putrament? Von Belang ist vornehmlich, daß Ochab, samt ein paar anderen „Harten“ im Politbüro, zwar den Geistigen eine provisorische Freiheit des Ausdrucks unorthodoxer Gedanken gewährt, daß sich aber am kümmerlichen Lebensstandard der Bevölkerung ebensowenig das Leiseste wandelt wie bisher und daß die politische Gewalt nach wie vor den jeweiligen Exponenten des in Moskau allmächtigen Kurses zukommt. Und um jede Illusion zu zerstören,hat bereits die „Praweta“ an die polnischen Genossen eine unmißverständliche Warnung gerichtet, die Kritik nicht zu übersteigern.

Ist also alles am „Beispiel Polen“ leerer Wahn, törichte Illusion? Keineswegs. Die Vorgänge auf dem Moskauer Parteikongreß, der von Gerüchten umschwirrte Tod Bieruts und die unwiderstehlich ausbrechende Kritik in Polen selbst haben dort eine so empfindliche Erschütterung der Grundlagen des Regimes gebracht, daß dieses nur schwer die wider den Stachel Lockenden unter das frühere geistige Joch zwingen wird.

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