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Die deutsche Gedankenrevolte

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I.

Das sich der zweiten Hälfte zuneigende zwanzigste Jahrhundert hat bereits einige Erfahrungen mit totalitären Diktaturen sammeln können. Es lassen sich heute sogar schon gewisse Gesetzmäßigkeiten und Besonderheiten erkennen, die verschiedenen Gruppen und Volksstämmen in der Uebernahme oder Ablehnung derartiger Systeme eigen sind. Die Widerstandsbewegungen in Ungarn und Polen trugen und tragen, obwohl Schriftsteller an ihrer Spitze stehen, keine ausgesprochen intellektuellen Züge. Im Gegenteil: Man kann ihnen das Fehlen eines ins einzelne gehenden Konzepts sogar nachteilig auslegen. Die tschechischen Widerstandszentren (die es ohne Zweifel in ihrer Art auch gibt) tragen völlig andere strukturelle Züge als jene der Mazedonier, von anderen, noch weiter von der europäischen Mitte entfernten Völkern fanz zu schweigen. Innerhalb dieser verschiedenen Formen ist nun mit riim- licher Genauigkeit auch spezifisch deutsche zu erkennen. Sie hat ihren wahrhaft klassischen, Kommendes vorahnenden Bühnenausdruck in Büchners „Dantons Tod” gefunden. (Warum spielt man dieses Werk nebenbei nicht gerade jetzt?) Die tragenden Gestalten, Danton und Robespierre, lösen sich gleich zu Beginn der Handlung von ihrer Umwelt, ihrem Hintergrund, ihrem „Fleische” und geraten — jeder für sich — in eine intellektuelle Vereinsamung, die ihrem schließlichen Endkampf wohl unerbittlichen, gnadenlosen Charakter aufprägt, ihn aber zugleich zur gespenstischunwirklichen Diskussion zweier Einzelmenschen macht, neben denen das in die Revolution real einbezogene Volk seinen Trott kaum verändert weiterzieht. Natürlich handeln diese Figuren des intellektuellen Konzepts auch. Aber sie tun es mit nachtwandlerischer Sicherheit immer zum Unrechtesten Zeitpunkt und in einer Form, die in der Halbheit wie in der gleichzeitigen Radikalität Züge eines erschütternden, fast rührenden Dilettantismus aufweist. In unserem Jahrhundert wird der 20. Juli 1944 dafür ein Denkmal bleiben.

Hinter den bis ins letzte durchdachten Konzepten, wie auch hinter den zum falschen Zeitpunkt gesetzten tollkühnen und dennoch zögernden Taten werden die Schatten einer spezifisch deutschen Geistigkeit sichtbar: gnadenlos in die eigene Dialektik eingekerkert, die Wirklichkeit teils durch überscharfe Linsen, teils mit vom grellen Licht der eigenen Erkenntnisse blöde gewordenen Augen nur verzerrt wahrnehmend und schließlich nach „vorn”, in die Erlösung der „absoluten”, vom persönlichen Vorteil kantisch- peinlich freigehaltenen Tat flüchtend. Man muß unwillkürlich immer an Kleist, den größten und tragischsten aller Preußen denken, an Büchner, aber auch an die Gescheiterten von 1848. Was dabei herauskommt, sind Revolten, Opfergänge in jener Einsamkeit, die den Intellektuellen von der Masse trennt und in die die Propaganda der Totalitären die solcherart zu einem „Grüppchen. einer lächerlich kleinen Clique volksfremder Reaktionäre” Gestempelten ohne Mühe versetzen kann. Was sich in den letzten Monaten, da die Welt erschüttert und gebannt nach Budapest und Warschau sah. in Mitteldeutschland abspielte, war, wie wir heute aus den vorliegenden Dokumenten entnehmen können, eine Gedankenrevolte durchaus typischer Art. Ihr Raum ist jenes Mittelrechteck Deutschlands zwischen Wittenberg und dem Harz, der norddeutschen Tiefebene und dem sächsischen Erzgebirge, das Thomas Mann im „Doktor Faustus” historisch, geographisch und kulturell als den eigentlich „deutschen Raum” umgrerzt.

II.

Was die Weltöffentlichkeit von den eigentlichen Vorgängen erfuhr, ist dürftig. Der Prozeß gegen den fünfunddreißigjährigen Philosophieprofessor und Cheflektor Wolfgang Harich und einige seiner weniger bekannten wissenschaftlichen und journalistischen Mitarbeiter spielte sich hinter verschlossenen Türen vor einem ausgewählten Statistenpublikum parteilicher Art ab. Daß es dabei höchst dramatisch hergegangen sein muß, wenn auch die Urteilsfindung gemäß volksdemokratischer Gepflogenheit schon nach dem Plädoyer des „Oeffent- lichen, Anklägers” feststand, geht aus den ‘kurzen Meldungen hervor, die sogar von Verhaftungen maßgeblicher Zeugen im Gerichtssaal berichteten. Daß daneben eine Fülle der üblichen Storys über das Privatleben, die verschiedenen politischen Wandlungen Harichs im „Dritten Reich” (der ganze Mann war damals kaum zwanzig Jahre alt) verbreitet wurden, bringt zwar manches zum Teil recht zufällige „pikante” Detail, ist aber nicht geeignet, die Gestalt selbst sowie ihre politische Tendenz und Zielsetzung klarzumachen. So paradox es klingen mag: Auch das vom Ostbüro der deutschen Sozialdemokraten nun nach der Urteilsentscheidung ohne Gefährdung .für Harich veröffentlichte Thesenkonzept seiner politischen Aktion sagt noch nicht das Entscheidende. Wenn man es liest, ohne die Kreise zu kennen, denen es entstammt, ohne das Denken dieser Menschen zu verstehen, erscheint es verworren, dilettantisch und von einer geradezu katastrophalen Wirklichkeitsblindheit. Man kann es nicht so lesen, wie irgendwelche Deklarationen der amerikanischen oder Französischen Revolution des 18. Jahrhunderts, bei denen der Inhalt so sprechend und präzise ist, daß man sich kaum für die Persönlichkeiten der jeweiligen Verfasser zu interessieren braucht, um seine Bedeutung und historische Wirkungskraft zu verstehen. Hier stellt die Thesenerklärung keinesfalls den krönenden Abschluß einer praktisch-zielgerichteten politischen Gedankenarbeit dar. Die Aufzeichnung ist vielmehr ein fast schon verzweifelter Versuch, die Ergebnisse der eigenen Dialektik an einem bestimmten, höchst ungeeigneten Zeitpunkt in einer grob vereinfachten und der augenblicklichen taktischen Wirklichkeit kaum Rechnung tragenden Art „herauszuschleudern”.

Wolfgang Harich, der Sohn eines ostdeutschen Römanschriftstellers, dessen Roman „Primaner” in den dreißiger Jahren viel Beachtung fand, gehörte zu jenen kleinen und kaum jemals ins Blickfeld der westlichen Analytiker geratenen Gruppe innerhalb der kommunistischen Intellektuellen der Sowjetzone, die man als die deutsche bezeichnen kann. Sie stand und steht wahrscheinlich noch heute neben und zwischen den beiden einflußreichen Gruppen, denen der „Moskowiter” und der „Westemigranten”. Im Verlaufe ihrer nun schon zwölf Jahre andauernden Tätigkeit, die ja durch die Kursschwankungen des Weltkommunismus nicht unberührt blieb, taktierte sie mehr instinktiv als aus klarer Konzeption heraus zwischen diesen beiden anderen Gruppen hin und her, mit denen sie ja auch gewisse, einander oft widersprechende Sympathien verbinden. Harich war für diese deutsche Intelligenz, die zum Kommunismus fand, ohne die Emigration, das Konzentrationslager, die Illegalität oder gar die vor- hitlcrische politische Betätigung im Rahmen der KPD erlebt zu haben, ein echter Repräsentant. Die eigentlichen Motive, die ihn, wie auch manchen anderen Intellektuellen — vor allem aus Theater-, Literatur- und Kunstkreisen — zur Bejahung eines konsequent marxistisch-leninistischen Aufbaukonzepts für Gesamtdeutschland veranlaßten, verlangen noch die letztgültige Aufhellung. Sie sind weder die elementarproletarischen und pragmatisch-amoralischen Gesichtspunkte Ulbrichts, noch das Linkspathos aller jener Erben der Weimarer Republik, denen der Kommunismus als einzige Garantie gegen die Gefahren des Hitlerismus von gestern und heute erschien. Sie haben nichts mit der überheblichen ‘Umerzieherhaltung zu tun, die manche ReMigraht’fcn dein deutschen ‘ Volk-’ gegenüber auch in der Ostzone an den Tag legten und schon gar nichts mit gewissen religiös getönten Schwärmereien, die man früher einmal „Edelkommunismus” nannte. Für diese Intellektuellen ist, bei aller scharfen und ätzenden Zurückweisung jeder Form des überkommenen Nationalismus vom Wotansbart bis zur Bierbank, von der Wandervogelromantik bis zum Kommers, Deutschland als aktuelles und existentielles Erlebnis ein bestimmender Höchstwert. Man kann ihren deutschen Patriotismus mit dem der Männer in der französischen Resistance vergleichen, die ja mit den traditionellen Chauvinisten und „Rechten” innerhalb der Grande Nation weiß Gott auch nichts zu tun haben wollten. Dieses Deutschlandbild steht nun inmitten eines hegelianischen Geschichtsprozesses. Aus Hegel schöpfen sie die religionsähnliche Entwicklungsgläubigkeit, die Verpflichtung zu einer harten, gegenwartsverpflichtenden Geschichtsmoral. Das augenblickliche Gebot der Geschichte wird von ihnen aber nur unter Zuhilfenahme dialektischintellektueller Kategorien ermittelt. Dadurch haftet ihrem Denken, so konkret sein Ansatz im einzelnen auch ist, im ganzen eine Weltfremdheit und Wirklichkeitsblindheit an, die teils groteske, teils unheimlich-fanatische Züge aufweist. Kein Russe, überhaupt kein Slawe, kein Italiener, kein Angelsachse vollends — von den Oesterreichern ganz zu schweigen — wäre jemals in der Lage, eine solche Interpretation der politischen Wirklichkeit und ihrer Forderungen mit annähernder geistiger Gründlichkeit und annähernder lebensmäßiger Blindheit nachzuvollziehen. Wollen also die moskowitischen Pragmatiker um Ulbricht ganz einfach die Festigung ihrer konkreten Ausgangspositionen im Dienste des Kommunismus, wollen auf der anderen Seite die Westler um den „Aufbau-Verlag”, um Zweig und Anna Seghers durch das kommunistische Regime nichts anderes als die „endgültige demokratische Erziehung” der vom Nazismus verderbten Deutschen verwirklichen, so unterscheidet sich das Ziel des Kreises um Harich von allen beiden. Sie wollten und wollen die deutsche Rolle spielen, die ihnen historisch innerhalb der kommunistischen Weltbewegung zu liegen scheint. Sie versuchen, den „reinen” geistigen Gehalt des Kommunismus am schlackenlosesten

— vermöge der Dialektik — herauszukristallisieren, um jene intellektuelle Führerstellung zu erobern, die .die deutsche Intelligenz seit den Tagen von Marx und Engels des öfteren im gesamten kommunistischen Lager innehatte. Aus diesem und keinem anderen Grunde entwickelten sie einen konsequenteren und lupenreineren Stalinismus, als ihn selbst Schdanow und Berija, die ja von der Kenntnis der politischen Wirklichkeiten nicht ganz unbelastet waren, jemals zu ersinnen wagten. Die Polit-Inquisition Wolfgang Harichs, die er nicht nur an seiner Hoch- schulkanzel, sondern auch in zahlreichen, ätzend scharfen költurpolitischen Grundsatzartikeln in der früheren sowjetischen „Täglichen Rundschau” und später im „Sonntag” des Kulturbundes ausübte, war intoleranter als die in Moskau oder Prag, vom geradezu „liberalen” Klima Warschaus schon damals ganz zu schweigen. Mit eben derselben Gründlichkeit vollzogen diese intellektuellen Vorreiter des „Weltgeists zu Pferde” nun den Prozeß des dialektischen „Umdenkens” nach dem XX. Parteitag. Das, was sie als Thesen für die Neugestaltung des politischen Lebens in der deutschen Sowjetzone niederschrieben, war nichts anderes als ein Destillat der kommunistischen Prinzipien des Chruschtschow-Mikojan-Kurses. Nur, daß diese beiden Herren, denen man nur alles andere eher als Weltfremdheit nachsagen kann, niemals daran dachten, die Dinge derart ernst zu nehmen und dialektisch auf die nadelfeine Spitze zu treiben. Harich hat es getan. Und er hat vergessen, bei dieser seiner sauberen Arbeit aus dem Fenster zu sehen oder einen Blick auf die Schlagzeilen der Tageszeitungen der letzten Monate zu werfen. Gewiß stand er in Kontakt mit Lukacz, seinem bedeutenderen ungarischen Kollegen, dessen Tragödie nicht zuletzt auch die eines deutschen Hegelianers ist, mit polnischen Intellektuellen, die . aber immer gemäßigt und gleichsam „geerdet” waren durch enge Tuchfühlung mit dem praktischen „Pan Wladyslaw” Gomulka. Harich fehlte das alles. Im Augenblick des von ihm geplanten Losschlagens, das sich, wie selbst die Anklageschrift vermeldet, in preußisch-legalen Formen durch Ueberreichung einer sorgsam ausgearbeiteten Petition an den darob wahrscheinlich wiehernd . lachenden Ulbricht, durch angestrebte Diskussionen mit Spitzenfunktionären, die sich verleugnen ließen, vollziehen sollte, war er bereits isoliert. Was dann noch folgte, war der typisch kopflose „Sprung in die Aktion”. Verbindung mit irgendwelchen, hierfür ganz ungeeigneten westlichen Stellen, mit dem RIAS-Sender, mit abseitigen Weltverbesserern in der Bundesrepublik des „Deutschen Wirtschaftswunders”, zum Schluß sogar mit dem sowjetischen Botschafter Puschkin, der mit freundlichem, vielleicht sogar mitleidigem Lächeln zuschlug, zuschlagen ließ, t ditrchr.Ulbricbl; der troiä mancher propagandistischer Bedenken wieder einmal parierte.

III.

In einer heftigen Pressefehde hat Rudolf Pechei, freikonservativer, Kämpe des antitotalitären Widerstandes gegen Hitler und Ulbricht, den jungen, kleingewachsenen Professor Harich einmal nicht ganz fair als „ein Diminutivum” bezeichnet. Die Vorstellung &s Diminutiven drängt sich auf, wenn man die Harich-Revolte mit dem 20. Juli vergleicht. Gewiß, kleiner, enger, von geringerer Integrität, aber in Konzept, Durchführung und . .. Ausgang eine erschreckenmachende Wiederholung.

Allerdings sind die zehn Jahre Zuchthaus, die am Ende für Harich dabei herauskamen, auch nur ein makabres Diminutivum für den Freis- lerschen Würgegalgen.

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