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Gegen Menschen oder gegen eine Idee?

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„Es ist schwer den Schaden zu übertreiben, der durch das Hinausziehen des Entnazifizierungsprozesses geschieht. Es vergiftet das Leben des Volkes auf mindestens drei verschiedene Arten. Erstens, indem es selbst gutgesinnte Deutsche auf den Gedanken bringt, daß Rache und nicht Sicherung das wirkliche Motiv ist, das hinter dieser Behandlung steckt, zweitens begünstigt das Verfahren genau jene Entwicklung, welche bestimmt war, es zu verhindern: den schweigenden Nationalismus, der Verschwörungen stiftet und Haß. Und drittens, es schafft allzuviel Raum für die Entfaltung kleinlicher Ranküne und Gehässigkeit unter den Deutschen selbst.“ „Spectato r“, London, am 29. November 1946

Eineinhalb Jaihre sind seit dem Zusammenbruch des Großdeutschen Reiches vergangen. Der Nationalsozialismus ist tot, auch wenn dies einige seiner alten Partei*-ganger nicht glauben wollen und sich von etwaigen weltpolitischen Entwicklungen allerband Versprechungen machen. Sie sind die Utopisten geblieben, als welche sie bereits im Kriege die Zielscheibe des Spottes und Volkszornes geworden sind, da sie noch an einen Sieg glaubten, als jedem halbwegs Vernünftigen die Vergeblichkeit jeder weiteren Anstrengung bereits erkennbar war. Der Nazismus ist tot, weil er beim entscheidenden Versuch, den historischen Beweis seiner inneren moralischen und ideellen Kraft zu erbringen, eindeutig unterlegen ist. Er ist tot, da Regime, die wie das nationalsozialistische nur unter der Voraussetzung bestimmter ineinandergreifender Zeitumstände und geschichtlicher Entwicklungen zustande kommen, sich nach ihrer Zerschlagung nicht mehr rekonstruieren lassen. Das Rad der Geschichte dreht sich nicht mehr zurück. '

Bei diesem klaren Sachverhalt erscheint es nicht leicht, einzusehen, welche besonderen Schwierigkeiten die Beseitigung der Reste des braunen Systems noch bereiten sollte: Dieser mit der mißratenen Wortprägung „Entnazifizierung“ belegte Vorgang erstreckt sich nach zwei Seiten. Zunächst müssen alle politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einrichtungen, welche ihrem Aufbau nach dem preußisch-nazistischen Geiste entsprangen, verschwinden und im österreichisch-demokratischen Sinne neu geformt werden. Dieser Umwandlungsprozeß ist Sache . der gesetzgebenden Körperschaften. Er ist derzeit im Vollzugsstadium, sein Abschluß eine Frage der Zeit. Die zweite Seite, gleichzeitig der Pferdefuß der ganzen Angelegenheit, ist die Personalfrage. Dem eindeutigen Rechtsgefühl, daß Leute, die als Stützen der Partei Mitschuldige ihrer Verbrechen wurden, bestraft oder doch zur Wiedergutmachung verhalten werden sollten, stellte sich bald die Frage des Wie gegenüber. Bis heute ist gesetzlich keine umfassende, allseits befriedigende Antwort darauf erfolgt. Hingegen führte die Lückenhaftigkeit und teilweise Unzweck-mäßigkeit der bisher geltenden Bestimmungen zu einer hochgradigen Unsicherheit im öffentlichen Leben und zu zahlreichen Übel-ständen, deren eheste Beseitigung im Interesse der Entwicklung Österreichs dringend geboten erscheint. Gleich einer schwärenden Wunde vergiftet dieser Zustand die privaten und öffentlichen Beziehungen in Nation und Staat, lähmt den Aufbau von Verwaltung und Wirtschaft und schwächt die moralischen Grundlagen der jungen Demokratie. *

Wer immer in Personalfragen amtlich beschäftigt ist, weiß, welch unversiegbare Quelle von Zwist und Hader, gegenseitiger Beschuldigungen und Verdächtigungen, von Neid und niedriger Spekulation einerseits und unproduktiver Verwaltungsarbeit auf der anderen Seite das Naziproblem geworden ist. Der eine erklärt, daß er, wiewohl politisch geschädigt, hoch immer keinen entsprechenden Posten habe, während da' und dort noch Nazi säßen. Der Nächste hingegen führt Klage darüber, daß man ihm wegen einer formal-politischen Belastung die größten Existenzschwierigkeiten bereite, wo er doch in Wirklichkeit selber verfolgt worden sei und den Beitritt zu. einer Parteiorganisation nur als Ausweg in höchster Bedrängnis vollzogen habe. Die zeitraubende Überprüfung dieser Angäben fördert vielfach die widersprechendsten Ergebnisse zutage, ;o daß die Möglichkeit einer gerechten Entscheidung aufs neue in Frage gestellt ist. Es kommen aber auch wahrhaft groteske Zustände ans Licht. Es sei gar nicht die Rede von den Versuchen ehemals strafrechtlich Verfolgter, ihre Strafe als politische Maßnahme hinzustellen. Aber wie viele Fälle gibt es von sozusagen „verhinderen“ Nazis, von Leuten, die doch so gerne der Partei nähergetreten wären, wenn sie nicht zum Beispiel einen Schönheitsfehler im Ahnenpaß gehabt hätten, von Leuten, die zwar den Beitritt zur Partei unterließen, aber sonst zu jeder Schlechtigkeit bereit waren, von Leuten, die nicht durch ihre ideologische Gegensätzlichkeit, sondern durch den Zufall, etwa Einziehung zum Militär, vor dem Beitritt zur Partei bewahrt wurden. Demgegenüber gibt es eine bedeutende Anzahl von Menschen, die der Gesinnung nach vom Nazismus unberührt blieben, ihn bewußt oder unbewußt aus dem Gewissen heraus ablehnten und bekämpften und nun doch unter die Räder der antifaschistischen Revolution zu geraten drohen. Ihre Geschiche ist meist sehr einfach: Sie haben vor 1938 mitgeholfen bei der Abwehr der von Deutschland dirigierten politischen, Durchdringung Österreichs, waren vielleicht Mitglieder einer den Nazis mißliebigen Organisation. Nach der Besetzung des Vaterlandes durch Hitler ließ sich die Welt vom Aggressor beruhigen und fand sich zur Anerkennung des Raubüberfalles bereit. Im besetzten Österreich hatte es nun gerade die in Rede stehende Kategorie von Menschen schwer. Viele verloren den Beruf oder wanderten in die Kerker, andere wurden in Untersuchung gezogen und fühlten sich stets vom gleichen Schicksal bedroht. Bei anderen, die einer Parteiorganisation beitraten, bedeutete dies — von den Verrätern abgesehen, die als solche durch ihr Handeln einwandfrei erkennbar waren — nicht die innere Kapitulation vor dem Nazismus, sondern einen Akt der Selbsterhaltung, dem angesichts der Haltung der gesamten Welt die moralische Berechtigung nicht versagt werden kann. Für nicht wenige handelte es sich auch um den Versuch, eine Plattform zu finden, die ihnen den unterirdischen Kampf um die Freiheit erleichtern half. Jetzt allerdings gilt das nicht mehr. Wer eine formale Belastung aufweist, wird als Gesinnungsnazi behandelt, ohne Rücksicht auf sein Verhalten, ja er wird ohne weiteres den Illegalen gleichgesetzt. Dafür sonnt siel, mancher Kollaborateur, den die Zeitumstände vor einer formalen Belastung bewahrt haben, im Glänze seiner politischen Unbescholtenheit und gelangt zu Ämtern und Würden. Welch schwere Injurien sich aus dieser Rechtslage ergeben, erhellt daraus, daß zum Beispiel ein Mann, der sich einige Male an den Übungen der Betriebs-SA beteiligte, trotz aller sonstigen Verdienste keine öffentliche Anstellung findet. Was das für manchen Heimkehrer, Ehemann oder Familienvater bedeutet, liegt klar auf der Hand.

Abgesehen von diesen zahlenmäßig zurücktretenden, mehr schicksalhaft anmutenden Grenzfällen, erscheint die bisher angewandte Methode der Nazibehandlung auch in prinzipieller Hinsicht in wichtigen Punkten bedenklich. Was 'soll denn eigentlich durch die Entnazifizierung erreicht werden? Sie verfolgt zwei Ziele: erstens sollen Gesetze und Gehirne vom nazistischen Ideeneinfluß gereinigt werden; zweitens soll der Zustand der Gerechtigkeit wieder hergestellt werden. Beide Ziele müssen angestrebt werden, jedoch keines auf Kosten des anderen. Die Methoden müssen aufeinander so abgestimmt werden, daß sie keines der beiden Ziele völlig ausschließen Von dieser grundsätzlichen Einstellung aus erscheint die Entfernung von Nationalsozialisten aus leitenden Staats- und kulturpolitischen Stellungen sowie die Bestrafung von Kriegsverbrechen und Vergehen gegen die Menschlichkeit entsprechend dem Ausmaß der Schuld eine selbstverständliche Notwendigkeit.

Einer besonderen Erwägung bedarf aber die Verhängung von Kollektivsanktionen nach formalistischen Gesichtspunkten, wie dies bei der Einteilung politisch Belasteter in Parteimitglieder, Anwärter usw. der Fall ist. Es wurde schon auf die Gefahr hingewiesen, daß durch solche Maßnahmen manche unverdienterweise unter eine Strafe

fallen können, während andere wirkliche Sünder gar nicht erfaßt werden. Aber auch jene, die sich in Ubereinstimmung mit ihrer inneren Gesinnung dem Nationalsozialismus anschlössen — und das ist wohl beim überwiegenden Teil der organisierten Nazi zutreffend —, werden auf diese Weise nicht nach dem Ausmaß ihrer direkten oder indirekten Schuld zur Strafe herangezogen, auch dies hat unbillige Härten auf der einen und unverdiente Begünstigungen auf der anderen Seite zur Folge. Denn auch hier stehen Menschen, die konsequent auf dem Boden des allgemein-gültigen ethischen Gesetzes verharrten, Menschen, die sich nach anfänglicher Begeisterung sehr bald enttäuscht und entsetzt vom Getriebe dieser Wahnsinnspolitik abwandten, anderen gegenüber, den Fanatikern, profitgierigen Ariseuren und sittlich Schadhaften, die skrupellos überall mittaten und durch die Einschüchterung ihrer Umgebung wesentlich zur Verlängerung des Terrorregimes beitrugen. Auch soziale Gründe erfordern eine Bedachtnahme. Es kann nicht als gerecht empfunden werden, wenn etwa ein Familienerhalter mit mehreren Kindern wegen einer Formalbelastung in gleicher Weise von einer Berufsstellung ausgeschlossen wird, wie der vielleicht ehelose frühere Parteifanatiker der gleichen Kategorie.

Diese dem Gerechtigkeitsprinzip widersprechenden Härten machen erforderlich, daß bei allen Strafverhängungen nach dem Anteil der persönlichen Schuld des einzelnen vorgegangen werde, wobei die in dieser Beziehung Gleichbelasteten in. Gruppen zusammengefaßt werden sollen. Diesem Prinzip liegt auch die Einstufung ehemaliger Nationalsozialisten zugrunde, wie sie nach kürzlich erfolgten Blättermeldungen von der Alliierten Militärregierung in Berlin festgelegt wurde.

Wer das Naziproblcm nicht nach Schlagworten, sondern aus praktisch ?i\voibencr Sachkenntnis beurteilt, weiß, wie kompliziert die Dinge liegen. Es dürfte sich kaum in juristische Regel finden lassen, die allen Anforderungen restlos entspräche. Um so mehr kommt es darauf an, die gesetzlichen Bestimmungen aus einer Gesinnung heraus durchzuführen, d-ie dem Zweck der Bemühung entspricht: Denazifizierung ist kein Kampf gegen Menschen, sondern gegen eine Idee. Wer anders dächte, wäre selber Faschist. Haß ist ein schlechter Lehrmeister, wenn man Menschen den Rückweg aus einer Verirrung weisen will. Je länger die gegenwärtige, ungeklärte Rechtslage mit ihren schweren Folgen für die Existenz zahlreicher Menschen und ihrer Familien anhält, desto schwieriger wird sich die UmWandlung Österreichs zu einer einheitlich 'geschlossenen Nation, die eine wichtige europäische Aufgabe zu erfüllen hat, vollziehen. Die staatspolitische Gefahr liegt in der Keimlegung künftiger Spaltungen, in der politischen und sozialen Beiseitestellung eines nicht unbeachtlichen Teiles der Bevölkerung, aus welcher aufs neue eine unerwünschte Schicksals- und Ge-sinnungsgemeinsebaft erwächst.

Darum geht es. Und darum ist es hoch an der Zeit, die wesentlichen Züge des Naziproblems zu erfassen und in der Praxis auseinanderzuhalten. Der Kampf gilt der Idee. Ideen besiegt man nicht durch Gewalt, sondern durch den Erweis einer konstruktiven Lebensgestaltung auf Grund einer anderen, sittlich hochwertigeren Idee.

Die Entnazifizierung ist keine Rechenaufgabe, Zahlen allein sagen nichts. Denn nicht dann wird der Nazismus verschwinden, wenn sounc'so viele Menschen existenzlos geworden sind sondern dann, wenn im Staate wieder GerechtigKeit harrscht. Gerechtigkeit wird nicht durch schematische Säuberungen, sondern durch eine individuelle Bedachtnahme auf das Ausmaß der Schuld bewirkt. Alle drei politischen Parteien Österreichs haben sich zum Willen bekannt, den sogenannten Mitläufern die Eingliederung in die demokratische Gemeinschaft zij ermöglichen. Man mache endlich Ernst damit, bevor sich ein neuer Stachel der Verbitterung in der Nation festsetzt, der eines Tages wieder zur Bildung einer gefährlichen Eiterbeule Anlaß gibt.

Das sind Gedanken, die sich jedem, der eine Erlösung der Menschheit aus ihrer heutigen Not nur in einer sittlichen Rechtsund Gesellschaftsgestaltung erkennen kann, jetzt vor dem nahenden Weihnachtsfeste mit neuer Eindringlichkeit vor Augen stellen.

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