6590680-1952_24_01.jpg
Digital In Arbeit

Heraus aus der Schneegrube!

Werbung
Werbung
Werbung

Was ist eine Regierungskoalition? Ist sie nur eine opportunistische Erfindung, ein parlamentarisches Rechenexempel ohne innere Bedeutung und ohne sittliche Verpflichtung ihrer Partner? Oder erhält sie ihren Sinn als konstruktives Element in der staatlichen Ordnung? Es hat für sie verschiedene Deutungen gegeben, beinahe so widersprechende wie für die Definition der Demokratie. Als Dr. Renner in der Ersten Republik auf Grund einer Regierungskoalition sein drittes Kabinett bildete, verglich er das damalige Arbeitsbündnis der Sozialdemokratischen Partei und der Christlich- sozialen mit einer Schneegrube, in der zwei Wanderer, die auf verschiedenen Wegen daherkommen, während eines heftigen Schneesturmes Zuflucht suchen, gewillt, sich sofort wieder zu trennen, sobald nur die Gefahr vorübergezogen ist. Dr. Seipel ließ den Vergleich nicht gelten. Er seih das Wesen einer Regierungskoalition anders, nicht als ein mehr oder weniger zufälliges, nur von einem augenblicklichen Bedürfnis geschaffenes Beisammensein, sondern als eine vertragsmäßige Zueinanderordnung, die ihre Partner zu höher gestelltöl Zielen im Sinne des Gemeinwohles vereinige, sie lege keinem ihrer Teilnehmer Verzichte aus seiner Wesenheit auf, wohl aber Regeln im gegenseitigen Verhalten entsprechend dem Zwecke eines Arbeitsbundes. Er entwarf deshalb eine Art Statut, die „Vereinbarungen über die Grundsätze der Koalition“. Das war zwei Jahre nach der Zerstörung des alten Reiches. Österreich hatte mühsam aus den Trümmern seine kleinstaatliche Existenz gerettet, es war im Innern zerklüftet, von Anarchie und Bolschewismus bedroht. Der Weg zum verfassungsmäßigen Gemeinwesen mußte erst gefunden werden. Das Statut Seipels wurde nicht gehalten. Die Theorie der Schneegrube wurde in die Praxis übersetzt. Die beiden Wanderer trennten sich plötzlich und in offener Feindseligkeit. Was darauf über die junge, erst lose gefügte Republik hereinbrach, war eine der schwersten Staatskrisen, die vielleicht nur überwunden wurde, weil Österreich zu jener Zeit einen Seipel besaß. Das Geschehen war aus der damaligen Situation zu erklären.

Seit Monaten wird dem Österreicher eine Regierungskoalition mit dem Vorbild der Schneegrube in neuer Regie und unter ganz anderen Umständen vorexerziert, drastisch und gefährlich. Was diesem Arbeitsbund aus seiner Mitte heraus durch Reden und durch das gedruckte Wort angetan wird, ist eine Entartung der politischen Diskussion, die Besorgnis einflößt. Man muß die Frage stellen, ob man diesem Treiben auch erlauben wird, die emsigen und erfolgreichen Bemühungen des Kanzlers um eine rechte Einschätzung der Stellung Österreichs im Wiederaufbau eines neuen Europa zu verkleinern. Bald brächte es das gegen Ruf und Ehre zwischen den Nachbarn der politischen Arbeitsgemeinschaft tobende Gemetzel dahin, daß der uninformierte Unparteiische, der aus der Feme vor dieses Schauspiel versetzt würde, der Meinung werden könnte, die Zahl der Österreicher, die keine Korruptionisten sind und ihre Stellung und die ihnen anvertrauten hohen Ämter nicht zu schändlicher Bereicherung mißbrauchen, sei nur eine schüchterne Minderheit, deren Menschen vermutlich noch nicht den Entschluß aufgebracht haben, sich den in diesem Lande allgemein herrschenden Sitten zu unterwerfen. Der nüchterne Sachverhalt ist, daß einzelne Personen — keine unter ihnen gehört der Regierung oder parlamentarischen Körperschaften anä— unter der Anschuldigung mißbräuchlicher Verwendung öffentlicher Gelder oder mißbräuchlicher Geldansprüche stehen. Keine der laufenden Untersuchungen ist noch abgeschlossen; indessen haben die Ąn- schuldigungen eine parteipolitische Ausweitung erhalten, die den Koalitionspartner irgendwie verantwortlich macht für das, was die oder jene begangen haben sollen. Die in Frage stehenden Tatbestände betreffen zum guten Teil Intimitäten der Finanzwirtschaft, deren Prüfung sich dem Laien entzieht und die um so besseren Spielraum für Bezichtigungen bieten, die von der Öffentlichkeit schwer oder gar nicht ohne Kenntnis der Untersuchungsakten kontrolliert werden können. Kampf gegen die Korruption? Die energische Wachsamkeit über die Sauberkeit des öffentlichen Lebens ist eine strenge Verpflichtung aller dazu Berufenen und aus irgendeinem Titel zum Urteil Befugten. Aber dafür muß es andere Mittel geben, als die Herabwürdigung der Kraft, die nun einmal in der Gegenwart als die Arbeitsgemeinschaft der beiden großen Parteien den Träger des politischen Systems auszumachen hat. Es wäre nun freilich der ernsten Erwägung wert, ob nicht dem Verfall unseres öffentlichen Wesens, der heute schon viele wertvolle Menschen und namentlich unsere junge Generation aus der Anteilnahme am politischen Leben wegscheucht, durch die Einrichtung einer Instanz entgegenwirkt werden soll, die, etwa zusammengesetzt aus unabhängigen, ver- anwortungsbewußten, von dem Bundespräsidenten ausgewählten Persönlichkeiten, die Aufnahme und erste Prüfungsstelle für Vorbringungen zu bilden hätte, welche auf die Reinhaltung des politischen Wesens und der zwiscfaenpartei- lichen Verhältnisse im Staate gerichtet wären, Vorbringungen, die noch nicht in das Stadium gerichtlicher Behandlung getreten sind. Dieser Vorschlag soll nur Anregung zu Erwägungen sein, die vielleicht zu einem besseren hinleiten.

Es soll kein Zweifel darüber gelassen werden, daß heute die serienweise anflutenden Anschuldigungen von Partei zu Partei schon das parlamentarische Gerüst und das Vertrauen in die demokratischem Einrichtungen bedenklich zu unterminieren beginnen.

Vor allem an die bestehende Regie- rungskoalition heften sich Kritiken und politische Berechnungen von verschiedener Herkunft und Gültigkeit. Sie alle schöpfen ihre Beweisgründe aus den Enttäuschungen, die aus dem getrübten Verhältnis der beiden führenden Staats-Parteien entstanden sind. Es wäre ein Wunder, wenn sie ausgeblieben wären. Man hört Stimmen, die für das Aufgeben des bisherigen politischen Führungssystems sprechen und nach einer allgemeinen Neuorientierung der inneren Politik in der Herstellung einer bürgerlichen Mehrheit“ suchen. Einladungen von auswärts kommen solchen Wünschen entgegen.

Die Befürworter einer solchen Umstellung haben sich kaum eine Vorstellung gemacht, welchen Entscheid sie damit von der Volkspartei verlangen. Der Titel „Volkspartei“ ist das Bekenntnis zu einer alle Stände umfassenden Dienstverpflichtung, von deren Erfüllung die Daseinsberechtigung abhängt. Volkspartei sein heißt, den Nöten des Volkes nachgehen, seine Liebe und alle Kräfte den Schwachen, den Kleinen, den von der Gefahr des Unterganges Bedrängten vor allem schenken. Volkspartei heißt sozial- reformerischer Aktivismus sein, ausgerichtet auf die Gesundung der Gesellschaft, die Sicherung der sozialen Gerechtigkeit und damit des inneren Friedens. Nicht der Arbeiterstand, der sich durchseine Solidarität eine Geltung errungen hat, welche die Theorien der frühen marxistischen Literatur widerlegte, verdient heute die Klassifizierung als „Proletariat“, viel eher verdienen sie frühere kleinbürgerliche Bevölkerungsschichten, die in einer Verarmung begriffen sind, die sie den bürgerlichen Lebensformen zunehmend entfremdet. Diesen um ihre Existenz ringenden Keuschlem, Kleinbauern und Kleinpächtern, deren bitteres Los man heute neben dem Wohlstand eines in moderner wirtschaftlicher Rüstung einherschreitenden Großbauerntums leichthin übersieht; diesen kleinen Angestellten und kinderreichen Familien eines aus zerbröckelnden Randzonen versinkenden Kleinbürgertums wird noch viel mehr als bisher das Bemühen einer Volkspartei gelten müssen. Die Denkweise der Welt, die man einst die bürgerliche nannte und die heute noch in manchen Köpfen weitergeistert, hat heute keinen Platz mehr in den mit unbarmherziger Riesenschnelle und in weiten Räumen sich wirtschaftlich und sozial umwandelnden Daseins- gestalten. Nicht Klassenpartei kann die VP sein, sie wird ja doch auf ihre Ursprünge: die sozialreformerische Ideenarbeit eines Alois von und zu Liechtenstein, eines Vogelsang und Schindler und das programmbewahrheitende Großschaffen Luegers nie verzichten können. Sie wird, solange sie bestehen will, das Wort zu erfüllen haben, das sie selbst als Parole an ihre Stirne geschrieben hat: Volkspartei!

Zu den schweren Aufgaben, die in Österreich zu lösen sind, bedarf es der stärksten Kräfte; mit parlamentarischen Notlösungen, die aus Verärgerung, Mißmut und Haß entspringen, käme man an das entgegengesetzte Ende. Die jetzige Lebensweise der Regierungskoalition ist auf die Dauer unmöglich. Diese Form — nicht die Einrichtung — muß gegen eine bessere, haltbare und ehrenhafte vertauscht werden. Keine Spekulation auf Änderungen, die eine Neuwahl bringen könnte, vermag diese Schlußfolgerung umzustoßen. Denn so oder so werden die zwei großen, durch verschiedene Grundrichtung und Weltanschauung bestimmte Parteilager maßgebend sein für das politische Kalkül. Sinngebend kann dabei ja doch nur der Wille zur Wohlfahrt des Volksganzen sein, und zu der auf dieses Ziel eingestellten Verständigung in der Führung eines noch um seine Freiheit und Gleichberechtigung kämpfenden Staates. .

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung