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In der Exponiertheit - der Dialog

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Die Erinnerung an den Beginn einer neunjährigen Chronistentätigkeit in Wien ist vom Tod zweier Österreicher geprägt: Leopold Figls, eines der Architekten der Zweiten Republik, der im Mai 1965 von einem qualvollen Leiden erlöst wurde, und des Widerstandskämpfers Ernst Kirchweger, der wenige Wochen zuvor als Teilnehmer einer antifaschistischen Demonstration in einem Handgemenge mit einem Rudel rechtsextremistischer Studenten erschlagen worden war. Im Tod dieser beiden Menschen erblickten damals manche Beobachter unheilvolle Vorboten eines neuen österreichischen Dramas. “

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Die Erinnerung an den Beginn einer neunjährigen Chronistentätigkeit in Wien ist vom Tod zweier Österreicher geprägt: Leopold Figls, eines der Architekten der Zweiten Republik, der im Mai 1965 von einem qualvollen Leiden erlöst wurde, und des Widerstandskämpfers Ernst Kirchweger, der wenige Wochen zuvor als Teilnehmer einer antifaschistischen Demonstration in einem Handgemenge mit einem Rudel rechtsextremistischer Studenten erschlagen worden war. Im Tod dieser beiden Menschen erblickten damals manche Beobachter unheilvolle Vorboten eines neuen österreichischen Dramas. “

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In der Tat hatte es eine Zeitlang den Anschein, als würde die Politik dieses Landes wie in den unseligen zwanziger Jahren erneut ins Fahrwasser der Konfrontationen geraten. Die Koalition zwischen Konservativen und Sozialisten, die zwanzig Jahre gehalten und den erstaunlich raschen und reibungslosen Wiederaufbau nach der Katastrophe von 1945 ermöglicht hatte, zerbrach bereits wenige Monate nach Figls Tod. An ihre Stelle trat, vom Wahlglück gegen alle Prognosen begünstigt, eine konservative Mehrheitsregierung, die im Frühjahr 1970, für viele nicht weniger überraschend, von einem sozialistischen Kabinett mit zunächst relativer, anderthalb Jahre später aber bereits absoluter parlamentarischer Mehrheit abgelöst wurde. Es regiert noch heute, allerdings nicht mehr mit dem selbstsicheren Elan des ersten Erfolges, sondern schon unter der Bürde von Fehlhandlungen und Rückschlägen, die neue Entwicklungen denkbar werden lassen.

Alle diese Pendelausschläge verkraftete das Land viel besser, als allgemein erwartet worden war, ja geradezu mit einer Selbstverständlichkeit, wie sie nur Völkern mit einer langen demokratischen Übung eigen ist. Die befürchteten Erschütterungen blieben aus, auch wenn die Auseinandersetzungen zwischen den Parteien lebhafter, nicht selten auch mit leidenschaftlichem Engagement geführt wurden. So scheint die Behauptung nicht übertrieben zu sein, daß das politische Wechselspiel in der Ära der Alleinregierungen die Demokratie in Österreich gefestigt und dazu beigetragen hat, das Trauma der Vergangenheit allmählich zu überwinden. Ja noch mehr: Österreichs politische Verhältnisse sind heute so ausgewogen und stabil, wie sie es in diesem Land noch nie und anderswo nur höchst selten gewesen sind.

Die erstaunliche Stabilität zeigt sich, um das Wichtigste zu nennen, an dem jeweils nur geringfügig verschobenen Kräftegleichgewicht zwischen den ehemaligen ' Koalitionspartnern ÖVP und SPÖ, an dem nach wie vor beengten Spielraum der um höheres Ansehen und Gewicht ringenden dritten Kraft, der Freiheitlichen Partei, an dem Siechtum der Kommunisten und der Schattenexistenz der Extreme. Die revolutionäre Linke ist praktisch inexistent und nur für eingeweihte oder professionelle Ohren vernehmbar, ebenso wie die extreme Rechte, die in der Mitte der sechziger Jahre vor allem im Zusammenhang mit Südtirol hie und da noch von sich reden gemacht hatte. Die Ausgewogenheit der österreichischen Politik kommt aber auch in der Tatsache zum Ausdruck, daß sich in den letzten zehn Jahren in diesem Land weder ein Streik von Bedeutung noch schwerwiegende soziale Konflikte ereignet haben.

Es gibt verschiedene Erklärungen für diesen Zustand, um den viele Völker und viele Regierungen Österreich eigentlich beneiden müßten.An erster Stelle soll der Umstand genannt werden, daß sich die meisten maßgebenden Politiker dieses Landes durch praktische Vernunft ausgezeichnet haben und heute noch auszeichnen. Viele von ihnen haben noch die fatalen dreißiger Jahre mit Bürgerkrieg, Faschismus und Anschluß auf der einen oder anderen Seite miterlebt oder miterlitten und daraus ihre Lehren gezogen. Die Fähigkeit zur Toleranz, zum Verständnis für den politischen Gegner, vor allem das Gefühl für die Grenzen des Zumutbaren ist bei den älteren Politikern in hohem Maße vorhanden und fehlt auch bei der nachrückenden Jugend nicht Aus diesem Grunde hat auch im Regime der Alleinregierungen die Zusammenarbeit zwischen den beiden großen politischen Lagern bis jetzt noch immer funktioniert, in den Bundesländern im Rahmen der nach wie vor bestehenden Koalitionen, auf Bundesebene vor allem im Schöße der Sozialpartnerschaft der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände, einer Einrichtung, die sich nicht nur als Schlichtungsinstanz in sozialen Konflikten und als wirtschaftliches Lenkungsinstrument, sondern auch als Forum des politischen Ausgleichs in den letzten Jahren bestens bewährt hat. Dabei sind die Sozialpartner keineswegs, wie zuweilen behauptet wird, eine Nebenregie-rung, ein Konkurrent des Ballhausplatzes gewesen. In vielen Fällen haben sie ihm das Regieren erleichtert, in andern ihm die Grenzen politischer Ambitionen deutlich vorgezeichnet.

Die politische Ausgewogenheit ist auch eine Frucht der nun bald dreißig Jahre anhaltenden wirtschaftlichen Prosperität, der Österreich heute einen Wohlstand verdankt, wie es ihn zuvor nie gekannt hat. Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit, das Stigma der Ersten Republik, leben nur nooh in der Erinnerung der älteren Generationen fort. Schon die Vierzigjährigen sind dagegen in einem Land der fast unibegrenzten Möglichkeiten groß geworden.

Parallel zur raschen wirtschaftlichen Entwicklung, die Österreich in die Nachbarschaft der höchstentwickelten Industrienationen der Welt geführt hat, ist der kontinuierliche Ausbau des Wohlfahrtstaates einhergegangen. Seine wichtigsten Errungenschaften sind dabei von allen drei Parlamentsparteien, zumindest von den beiden großen, gemeinsam beschlossen worden, auch und gerade in der Ära der Aileinregierungen. Der Umstand, daß die Postulate der sozialen Wohlfahrt, des Sozialstaates überhaupt, schon weitgehend und großzügig verwirklicht worden sind, hat zweifellos ebenfalls zur Stabilisierung der politischen Verhältnisse in diesem Land beigetragen.

Die Stabilität Österreichs erklärt sich aber nicht nur aus der Vernunft seiner Politiker, der wirtschaftlichen Blüte und den bedeutenden sozialen Fortschritten, sondern nicht zuletzt auch aus der gewandelten Einstellung des Österreichers zu seinem Staat und Vaterland. Die in der Ersten Republik noch weitverbreiteten Zweifel an der Lebensfähigkeit des Überrestes eines einstigen Weltreiches haben sich, nach 1945 von der Entwicklung hundertfach widerlegt, schon längst verflüchtigt, und auch der Traum vom Anschluß ist nach dem bösen Erwachen unter Hitlers Knute ebenfalls längst und wohl für immer ausgeträumt. An die Stelle von Zweifeln, Illusionen und fruchtlosen Diskussionen über Sein oder Nichtsein einer „österreichischen Nation“ ist nun, wie es scheint, endgültig das Selbstverständnis des Österreichers getreten, der natürliche und berechtigte Stolz, den ein Mensch über die Achtung empfinden darf, die man ihm und seinem Vaterland entgegenbringt Mögen sich vereinzelte Historiker und Politiker noch immer über den Begriff der österreichischen Nationalität streiten — sicher ist, daß es heute ein schon ausgeprägtes österreichisches Nationalbewußtsein gibt.

Aus einiger Distanz und im Vergleich mit seiner unmittelbaren Umwelt betrachtet, erscheint Österreich seinem ehemaligen Dauergast also als ein glückliches und erfolgreiches, Land, in welchem sich die Politik-auf das richtige Maß und die richtige Mitte eingependelt zu haben scheint. Die Beschäftigung mit der Gegenwart und ihren Widersprüchen, der tägliche Versuch, den Sinn des Details im Ganzen zu erraten, ließen freilich an Ort und Stelle die Umrisse nicht immer so deutlich und eindeutig erscheinen. Gewiß, es gibt eine ganze Anzahl ernst zu nehmender Österreicher, die den Zustand ihres Landes und den Gang seiner Politik keineswegs für optimal halten und die in manchen Entwicklungen und Tendenzen Gefahren für die Freiheit und Demokratie aufziehen sehen. Doch das meiste dessen, was sie beklagen, ist auch anderswo beklagenswert: der Verlust an Lebensqualität und Menschlichkeit vor allem, von dem auch die Österreicher in ihrer Jagd nach „Fortschritt“, nach tausend materiellen Bequemlichkeiten, nicht verschont geblieben sind.

Es gibt allerdings eine Frage, die die Österreicher nach den Sturmzeichen der vergangenen Monate in besonderem Maße bewegen müßte: die Frage nach der Krisenfestigkeit, nach der Belastbarkeit der gepriesenen Stabilität. Sie mag vielen geringer erscheinen als anderswo, nicht nur wegen der Versäumnisse, die die Regierungen dieses Landes von Anfang an in bezug auf die wirtschaftliche und militärische Krisenvorsorge auf sich geladen haben, sondern auch wegen der überdurchschnittlich starken Abhängigkeit Österreichs vor. seinen Rohstoff-und Energielieferanten. Österreichs Schwerindustrie zum Beispiel, der das Land ein Gutteil seines Wohlstandes verdankt, kann ohne die Kohle aus der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei nicht existieren. Sollten eines Tages aus irgendwelchen Gründen diese Energiequellen versiegen, würde Linz binnen kurzem veröden und fast über Nacht ein Heer von Arbeitslosen im ganzen Lande entstehen.

Vor der Möglichkeit solcher Perspektiven versteht man, wenn die verantwortlichen Männer aus Uen. politischen Lagern seit jeher danach getrachtet haben, die errungene Stabilität nicht nur nach innen, sondern auch noch außen zu verankern, mit besonderer Sorgfalt auch bei jenen Nachbarn, von denen es durch Stacheldrahtverhaue und ideologische Barrieren getrennt ist. Die Vorwürfe der „Ostanfälligkeit“, mit denen man früher gelegentlich Österreichs Außenpolitik bedachte, haben heute keinen Kurswert mehr. Österreich kann vielmehr mit dem Verständnis aller jener rechnen, die eingesehen haben, daß es nicht nur infolge der erwähnten wirtschaftlichen Abhängigkeit, sondern auch angesichts seiner Exponiertheit an schwierigen Grenzen und als östlichster Vorposten des Westens sich nicht leisten kann, in selbstgefälliger Isolierung zu verharren. Seine Überlebenschancen liegen heute mehr denn je in der weltweiten Absicherung seiner Existenz und in der ihm von der eigenen Geschichte zugeschnittenen Rolle, Mittler zwischen den traditionellen europäischen Kulturkreisen und Hort des heute allerdings wieder schwieriger gewordenen Dialogs zwischen West und Ost zusein.

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