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Furcht weicht von Europa

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Stand die erste Phase nach der bedingungslosen Kapitulation völlig im Zeichen der Schrecknisse von gestern, so ward die zweite weithin von den Schatten der Schrecknisse eines möglichen Morgens verdüstert. Waren diese beiden Fixierungen schon an sich wenig vorteilhaft, so zerriß der plötzliche Wandel das Gewebe von Gedanken und Handlungen, der administrative Apparat folgte nur knirschend und langsam dem Umschwung, Gegensätze kamen hart hintereinander oder gar nebeneinander zu stehen: Wiederaufbau und Demontage, Ent- und Remilitarisierung, Glorifizierung der Russen und Kreuzzugspläne gegen sie, Sicherheitsämter und Militärdelegationen, Demokratisierung und Ausnahmsgesetze. Ja, so sehr hat man sich schon an den Widerspruch als Normalzustand gewöhnt, daß es niemand mehr seltsam findet, wenn in derselben Stadt die UNO-Ab- rüstungskonferenz und eine NATO-Auf- rüstungsbesprechung stattfindet, ja man könnte sich ohne, weiteres vorstellen, daß ein Land aus Ersparungsgründen denselben Delegierten für beide Veranstaltungen nominiert.

Wäre es nicht äm Platz, die gesunden Impulse dieser Entwicklung zu stärken, das Vertrauen ins Geld wiederherzustellen, das Sparen, zunächst über neue Methoden, zu fördern und den Versuch zu machen, weitere und entscheidende Teile des Fluchtkapitals zurückzuholen? Hier wird man in verschiedenen Staaten ohne Amnestien kaum auskommen, und manchem wird da das Wort „Prämiierung der Sünder“ auf den Lippen liegen. Aber verfügen diese Sünder nicht jetzt uneingeschränkt über ihr Auslandskapital, während es so wieder der europäischen Wirtschaft und damit dem Lebensstandard der Massen zugute käme?

Doch wird bei alldem am Platze sein, nicht den Eindruck einer rücksichtslosen Deflationspolitik zu erwecken. Nichts liegt weniger im allgemeinen Interesse, als die in einzelnen Ländern zwangsläufig zu erwartenden Umstellungschwierigkeiten in eine allgemeine Krisenfurcht hineinzusteigern. Man erinnert sich heute in Finanzkreisen gern an das fachliche Können und den charakteristischen Anstand der Männer, die in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren klassische Deflation betrieben. Gewiß standen sie turmhoch über ihren Kollegen der zweiten Nachkriegszeit. Aber aus der Büchse klassischer Deflation stiegen die Röhms, Streichers, Degrelles, Mosleys, Codreanus und Szalasys.

Die Rolle der Furcht

Indes beginnt sich allmählich der lastende Nebel der Angst von der politischen Landschaft des freien Europa zu heben. Die Furcht- und Fluchtgespräche werden immer seltener, die „Vorfreude“ an der Katastrophe, der sich soviel Zeitgenossen mit Unbedingtheit hingaben, ist schal geworden, es ist nicht mehr modern, sich mit endlosen Argumenten den Zustand eigener Hilflosigkeit zu demonstrieren und, völlig unlogisch — denn keine Volkswirtschaft ist den Anforderungen eines modernen Krieges im entferntesten gewachsen —, das Unabänderliche dieses Krieges hervorzuheben. Es kann also an die Demontage des Widersinns gedacht werden, wobei es nun vor allem möglich geworden ist, sich nicht so sehr mit den Ursachen der Angst als mit ihren Folgen zu befassen.

Diese Folgen sind militärischer, politischer, wirtschaftlicher und biologischer Natur. Zunächst fällt der frappierende Umätand auf, daß die Angst auf dem alten Kontinent zunächst nicht die Ver- teidigungs-, sondern die Fluchtinstinkte gefördert hat, ja daß der Verteidigungswille den Europäern von der Großmacht jenseits des Atlantiks, die, gemessen an Europa, kaum über Kriegstradition verfügt, eingeimpft werden mußte. Hier muß man sich allerdings die erstaunliche Tatsache in Erinnerung rufen, daß der letzte Krieg in Kontinentaleuropa nur b e- siegte Nationen zurückließ. Jede einzelne Nation stand also unter dem Eindruck des Scheitems ihrer gewaltigsten kollektiven Kraftanstrengung und reagierte darauf mit einem allgemeinen Mißtrauen gegenüber solchen Versuchen. Der Wille zur Verteidigung aber basiert auf dem Vertrauen in Kollektivhandlungen, die Flucht aus der Gefahrenzone kann individuell durchgeführt werden.

Was Europa also not tut, ist eine erneute Zuversicht in Gemeinschaftshandlungen; der Verteidigungswillen ist nicht erloschen, er hat nur keinen einheitlichen Ausdruck gefunden. Es ist recht symptomatisch, daß der ursprüngliche Gedanke des Pleven-Plans, die Soldaten der Europaarmee mit einheitlichen Uniformen und Emblemen zu versehen, nun doch durch verschiedene Sonderbestimmungen — verschiedene „nationale“ Kopfbedeckungen zum Beispiel — eingeschränkt wurde.

Das Vertrauen in Kollektivhandlungen ist aber nicht allein durch die militärische Niederlage, sondern ebenso durch die ökonomische Entwicklung, die ihr folgte, untergraben worden. Wer möchte leugnen, daß der rücksichtslose wirtschaftliche Einzelgänger eher zum Vorbild geworden ist als der anständige, alle Vorschriften achtende Staatsbürger, der in England noch immer das Bild beherrscht? Den tiefen, keinesfalls fair gehandhabten Eingriffen der verschiedenen Währungsreformen folgte eine Zeit langsamer Inflation, in der der illoyale Staatsbürger neuerlich besser abschnitt als der loyale. Die Inflation aber wurde wieder zweifellos von der politischen Furcht vorangetrieben, womit sich ein verhängnisvoller Kreis zu schließen schien. In immer neuen Wellen suchten ganze Bevölkerungsschichten sich für das Ärgste einzudecken, unbedenklich wurden selbst letzte Reserven angetastet, von einer Bildung echten Sparkapitals konnte keine Rede sein, die unter ähnlichen Titeln ausgewiesenen Bankposten markierten nur vorübergehende Rastplätze des Geldes auf der Jagd nach Waren.

Auf diesem Gebiet aber fand der Fluchtinstinkt seinen häßlichsten Ausdruck: während amerikanische Steuergelder in nie gekanntem Ausmaß in das europäische Abenteuer investiert wurden und selbst in der deutschen Ostzone überall Inseln des Widerstandes, eines stillen, furchtbar gefahrvollen Widerstandes, stehenblieben, floß europäisches Kapital trotz aller Sperren in die USA und nach Südamerika ab. Diese Bewegung ist inzwischen zum Stillstand gekommen, ja verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, daß Bruchteile des Fluchtkapitals (Frankreich!) wieder in die europäische Wirtschaft einströmen. Man kann sich überhaupt nicht des Eindrucks erwehren, daß mit dem Abflauen der politischen Furcht auch wirtschaftlich ein neuer, noch schwer definierbarer Abschnitt begonnen hat. Es ist jedenfalls bemerkenswert, daß bereits ein Spurenelement der Deflation so heftige Ernüchterung auslösen konnte.

Bevölkerungspolitischer Wandel

Kündigt sich also auf wirtschaftlichem Gebiet ein Wandel an, der das bisherige Bild stark verändern muß, so werden die Ziffern der Bevölkerungsstatistik noch lange die Kreise der Furcht und Hoffnungslosigkeit abstecken.

Je weiter man von den aus dem Osten aufsteigenden Gefahrenmöglichkeiten (um deren Realität an sich es gar nicht geht) lebt, desto stärker scheint der Wille zum Kind: in Frankreich und England liegt die Geburtenquote höher als in Deutschland — seit den Napoleonischen Kriegen ein Novum —, in der Deutschen Bundesrepublik höher als in der ostdeutschen Zone, Wien und Berlin stellen Tiefpunkte dar, während Österreichs italienischer Nachbar dauernd an Volkszahl zunimmt. Sicherlich wäre es unsinnig, diese Erscheinung allein aus dem Furchtkomplex erklären zu wollen. Wohnungs- und Lebensfragen sowie die soziale Gesetzgebung spielen entscheidend mit. Aber die relative Leichtigkeit, in Berlin eine Wohnung zu finden, hat doch die besondere Gefährdung der dortigen politischen Lage nicht kompensieren können. Zieht man dabei das Beispiel der englischen und deutschen Bevölkerungsbewegung heran, so machen die starken Kriegsgenerationen klar, daß die individuelle Gefährdung den Willen zum Kind stärkt, die nationale Gefährdung ihn schwächt. In dieser überaus privaten Sphäre ist also eine Ausrichtung auf das Kollektivschicksal erkennbar. Es muß hinzugefügt werden, daß auch die russische Geburtenquote im Absinken zu sein scheint. Die eigentliche Bevölkerungsexplosion — in 24 Stunden ein Weltzuwachs von etwa 60.000 Menschen — findet im indonesischburmesisch - malayisch - indischen Raum statt, und es mag sein, daß dieses Phänomen bereits innerhalb weniger Jahrzehnte den ganzen West-Ost-Konflikt überschattet.

Für den Augenblick muß jedoch festgestellt werden, daß das Abklingen der so drückenden politischen Furcht im atlantischen Raum auch seine Kehrseiten hat. In England verstärkt sich die Abneigung gegen kontinentale Bindungen. Die Erinnerung an Dünkirchen und die Zeit der „Schlacht um Großbritannien“ erweist sich als übermächtig. „Was wäre damals aus uns geschehen, wenn wir keine national englische, sondern eine europäische Luftwaffe gehabt hätten?“ wird man gefragt. Aber die Frage ist falsch gestellt, dem Hagel moderner Femgeschosse von der Kanalküste kann weder eine national englische Luftwaffe noch ein nationale Armee Einhalt gebieten. In Frankreich wirken wieder die deutschen Generäle als Schreckgespenst. Man vergißt ganz, daß man ihnen noch vor kurzem vorgeworfen hat, daß sie ein zu williges Werkzeug in den Händen der Politiker um den Diktator und des Diktators selbst gewesen, daß also nicht die Sorge um die Generäle, sondern die Sorge um die Politiker vorherrschend sein müßte, die Sorge um die deutsche Gesamtführung, deren westeuropäischer Kurs durch die Saarpolitik Granvals so erschwert wird. In der Bundesrepublik aber ist jene verwirrende Zwiesprache um Ehrenkodex und Kriegsrecht im Gang, die manchmal den Eindrude erweckt, daß man nicht zu einer gemeinsamen Verteidigungsfront, sondern zu einem interalliierten Turnier eingeladen, dessen genaue Regeln man zunächst erfahren müßte. Selbst ein so kluger Mann, wie Adenauers früherer Pressechef Bour- din, schreibt,,daß der Soldat „auch die Sicherheit haben muß, daß er durch ein Kriegsrecht geschützt ist, das er kennt… ein solches Kriegsrecht besteht nicht, wohl aber besteht noch immer die Erklärung Roosevelts, Churchills und Stalins … nach der die Gerichte und Gesetze eines Landes zuständig sind, in dem ein Verbrechen begangen worden ist.

Hier wird, über einen ganz schmalen Steg der Logik balancierend, dem Westen die Verantwortung für die Unsicherheit, die den Soldaten im Osten erwartet, zugeschoben. Unwillkürlich drängt sich die Frage auf, ob der deutsche Soldat bei dem Angriff des Jahres 1940 diese Gewißheit besaß und ob also diese Belastung nicht auch in einer allfälligen Verteidigung getragen werden kann, wie sie von den UNO-Truppen in Korea getragen .wird. Wahrscheinlich gehört es ja zum Wesen westöstlicher Spannung, daß hier, wie im Islam und der Christenheit, zwei Welten aneinanderprallen, die sich keinen gemeinsamen Gesetzen unterwerfen. Daran würde irgendein Widerruf seinerzeitiger Dreimächteerklärungen kein Jota ändern. Nur in der Gemeinsamkeit, dem engsten westlichen Zusammenschluß und dem Ressentimentabbau kann dieses Risiko auf das kleinste Maß reduziert werden.

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