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•...kann auch anders“

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I.

Durch fortgesetztes Reden kann man Dinge umbringen. Durch fortgesetztes Reden kann man aber manche Dinge auch herbeizitieren. Als die deutsche Öffentlichkeit in den Tagen des Jahresbeginns mit einiger Verzögerung den Wortlaut des sowjetischen Memorandums vom 27. Dezember bekanntgemacht bekam, geschah dies zunächst einmal mit offiziellen und offiziösen Kommentaren, die das Schriftstück als belanglosen Versuchsballon entwerteten. Bonn gab sehr schroff und eindeutig zu verstehen, daß es an eine Beantwortung nicht einmal dächte.

Inzwischen aber lag das Papier auf dem Tisch. Jedermann hatte Gelegenheit, den Text zu lesen und sich seine Gedanken zu machen. Was darin stand, ist inzwischen allgemein bekannt geworden: das Angebot der Sowjets, mit der Bundesrepublik Deutschland, die ausdrücklich als „größter Staat Europas“ (neben der UdSSR selbstverständlich) tituliert wurde, in direkte Verhandlungen über eine Normalisierung und Verbesserung der Beziehungen einzutreten. Dabei wurde wdrücklich auf die Chancen des Osthandels hingewiesen. Die konkrete Streitfrage um Berlin wurde dadurch ausgeklammert, daß man sie zu einer Differenz zwischen den „beiden“ deutschen Staaten erklärte, die auch allein für die Wiedervereinigung Deutschlands zuständig seien. Noch wichtiger aber war der in diesem Memorandum enthaltene Hinweis darauf, daß die Sowjetunion weder den Austritt der Bundesrepublik aus dem NATO-Bündnis noch eine Veränderung des dort herrschenden kapitalistischen Systems zur Bedingung ihres Partnerschaftsangebotes machte.

Der weitere Gang der Dinge braucht nur kurz rekapituliert zu werden: Es blieb nicht nur bei der Veröffentlichung des Textes, die ursprünglich nicht vorgesehen war. Man entschloß sich zu einer genaueren Analvse des Schriftstücks. Der nationalliberale Koalitionspartner, auf den Adenauer nach dem Wahlausgang vom 17. September in Parlament und Kabinett angewiesen ist, meldete sich durch die Herren Mende und Dehler zu Wort und verlangte eine offizielle Beantwortung des Memorandums, mehr noch: ein diplomatisches Eingehen auf das sowjetrussische Gesprächsangebot. Der bundesdeutsche Botschafter beim Kreml, Dr. Kroll, erstattete Bericht, neue Konferenzen folgten. Nach einem deutlichen Für und Wider in der öffentlichen Meinung, bei dem der ehemalige Außenminister und jetzige Fraktionsführer der CDU, Brentano, der entschiedenste Warner war, fiel

eine vorläufige Entscheidung. Mit einer formellen Antwort der Bundesregierung in der Tasche ist Botschafter Kroll in diesen Tagen nach Moskau zurückgeflogen. Ihr Inhalt ist noch nicht veröffentlicht. Dem Vernehmen nach sollen Direktgespräche hinter dem Rücken der westlichen Verbündeten nach wie vor zurückgewiesen werden. Aber so manches in Tonfall und Nuance hat sich eben doch geändert. In der so kurzen Zeit vom 27. Dezember an.

Nun hat diese Entwicklung ohne Zweifel ihre weltpolitischen Hintergründe und Perspektiven. Manches kann man hier nur vermuten, manches ziemlich eindeutig errechnen. Die USA haben auf dieses sowjetische Kontaktangebot nicht mit jener Heftigkeit reagiert, die man von früheren Parallelsituationen her in Erinnerung hatte. Man kann dies freilich verschieden deuten. Vielleicht will man die Deutschen wirklich einmal eine solche sowjetische Gesprächsvariante durchspielen lassen, um die Legende von der „verpaßten Gelegenheit“ ad absurdum zu führen. Vielleicht will man aber auch dk Möglichkeit einer deutsch-sowjetischen Absprache begrenzter Art nicht von vornherein verbauen, weil sie zu einer Minderung der Spannung um Berlin führen könnte, ohne daß die USA durch eigenes Zurückweichen das Gesicht verlieren.

II.

Aber nicht von den vielen und verschlungenen Gedanken und Hintergedanken der Weltpolitiker soll hier die Rede sein. Sie können sich über Nacht ändern. Es scheint, daß hier mehr ins Spiel gekommen ist: im deutschen Volk selbst ist ein gewisses Echo vernehmbar. Luther sagte einmal, daß Gott hinter den wechselnden Personen und Akteuren der Geschichte „rumore“. Noch ist dieses Rumoren kaum intellektuell formuliert oder konkret-politisch faßbar. Aber das fortgesetzte Davonsprechen, das immer erneute Gegenbeschwören lassen den Verdacht zu, daß es sich nicht nur um ganz wesenlose Gespenster handelt, wenn von Rapallo, von Bismarcks RückVersicherungsvertrag oder vom Tauroggener Abkommen die Rede ist. Der Historiker ist freilich schnell bei der Hand. Der Nachweis der völligen Unvergleichbarkeit der Situationen, die im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts zu deutsch-russischen Direktverständigungen führten, fällt ihm nicht schwer. Aber mit der bloßen Widerlegung plump-direkter Parallelen ist es allein nicht getan. Die deutsche Politik hat nie mit den nüchternen Präzedenzfällen gearbeitet, die die Engländer etwas altväterlich anzuwenden belieben, sie gehorchte nie den cartesia-nischen Konstruktionen, die die Franzosen benützen. Sie blieb fast immer im Zwielicht zwischen Traum und hastigem Tageshaschen, willensmäßiger Oberanstrengung und überkluger Tatenlosigkeit. Adenauers ernüchternd unproblematischer, römisch-diesseitiger Realismus war für die neuere deutsche Geschichte der große Ausnahmsfall. Der glückliche Ausnahmsfall, wie wir ausdrücklich hinzufügen möchten.

Aber es gibt eben heute nicht nur den ins 87.- Lebensjahr gehenden Konrad Adenauer. Manches spricht dafür, daß e r die Konzeption der Angelsachsen, die ihm Präsident Kennedv wohl schon beim Novembersesoräch in Amerika vorgetrapen haben dürfte, verstanden hat. Ja, daß er sich sogar

bereitfand, in ihrem Rahmen mitzuwirken. Aber auf ihn allein kommt es eben nicht an. Unter den maßgeblichen Politikern der Nachfolgegeneration bilden die wenigen, die seine Politik wirklich verstanden haben, trotz aller lautstarken Treuebeteuerungen eine Minderheit. Natürlich gibt es auf der anderen Seite auch kaum einen intellektuell und moralisch voll zu nehmenden Deutschen, der eine kommunistische Orientierung oder eine Wiedervereinigung unter der Federführung Ulbrichts und die von ihm vertretenen „Errungenschaften“ herbeiwünschen würde. Aber es gibt ein anderes, noch nicht ganz greifbares, aber unterschwellig wirksam werdendes Gefühl: man sieht in vielen Kreisen bei der Rückschau auf eineinhalb Nachkriegsjahrzehnte die Entwicklung unter dem Bild eines Kreuzweges wie schon so oft in der deutschen Geschichte. Und man glaubt, mit allem unbestreitbaren Tempo, aller Lenkungssicherheit und Kurveneleganz in die falsche Richtung eingebogen zu sein. Nicht nur die unmittelbare Nachkriegszeit, in der die Westorientierung des freien Teiles Deutschlands dessen nackte Existenz-und Weiterlebenssicherung bedeutete, ist heute vergessen. Auch die Hochblüte der Wirtschaftswunderjahre, da die Meinungsforschungsinstitute eilfertig von Monat zu Monat aufs neue berichteten, wie gleichgültig die Mehrheit der Bundesbürger dem Fragenkomplex der Wiedervereinigung gegenüberstünde, ist fast schon Vergangenheit geworden. Je unwiderruflicher und in der Praxis unerbittlicher die Verflechtung Westdeutschlands in die Beziehungssysteme der EWG und der NATO wird, desto bohrender wird zugleich auch die Frage: Ist das alles der richtige Weg gewesen? Wiederholt sich hier nicht doch nur wieder die uralte Zwiespältigkeit deutscher Politik, die mit deT Italien-politik der römisch-deutschen Kaiser begann und bis in den großdeutsch-kleindeutschen Dualismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hineinreichte? Ein ungewöhnlich heftiger wie im erregten Dialog mit sehr

gegenwärtigen Gesprächspartnern geschriebener Aufsatz eines bekannten Historikers über das „trügerische Jahrtausend“, in Deutschlands größtem nationalliberalen Blatt erschienen, warf diese Frage sogar angesichts des fast verlegen übergangenen Millenniums der Kaiserkrönung Ottos des Großen auf. Da und dort erhält die vorläufig noch schwelende Auseinandersetzung sogar schon konfessionelle Akzente. Ist die Adenauer-Politik nicht am Ende doch die katholisch-ultramontane der vergangenen Jahrhunderte, und bekommt nicht die evangelische Kirche mit ihrem geistig-traditionellen Schwerpunkt in der heutigen Sowjet-zone letzten Endes doch wieder den Auftrag, das eigentlich „Deutsche“ zu wahren? In solche Stimmungen hinein traf das nicht ungeschickt gezielte sowjetische Memorandum, Ulbricht, der recht gut weiß, daß eine wirkliche Direktverständigung zwischen Bonn und Moskau früher oder später auch da.s Ende seiner eigenen Pufferrolle bedeuten würde, tut alles, um mit von der Partie bleiben zu können. Mehr denn je bemüht sich die Propaganda des Zonenregimes, das preußische und deutschnationale Erbe herauszuheben, das in Potsdam aentriert sein soll. Ja sogar der im Mai bevorstehende zweihundertste Geburtstag' Fichtes, auf dessen nationalen Sozialismus sich die verschiedensten Nachfahren berufen zu können glaubten, wird einer solchen Demonstration dienen. Nicht mehr von den durch den Kapitalismus unterdrückten Werktätigen Westdeutschlands ist die Rede, nicht mehr von der Unvermeidlichkei* des Sozialismus an Rhein und Ruhr. Die Werbung, der Lockruf des „Bereichert euch!“, ist unmittelbar an die „kapitalistischen Ausbeuter“ gerichtet, denen mit dem Osthandel nicht nur größerer, sondern auch stabilerer Profit eeboten werden soll. Das geistige Vehikel für diese Fahrt in eine wahrscheinlich auch für den Opportunisten Chruschtschow nicht in allen Einzelheiten erkennbare deutsche Zukunft soll'der Nationalismus sein, keinesfalls mehr der abgeblaßte Antifaschismus oder die links-

humanistische Tradition der Arbeiterbewegung.

III.

Wir können nicht voraussagen, was sich aus diesen Nebeln am Ende herausbrauen wird. Aber wir können deutlich zu verstehen geben, was uns österreichischen Nachbarn als nicht wünschenswert, ja als verhängnisvoll erscheinen würde. Am verhängnisvollsten ist schon das Auftauchen dieses historischen Modells, ist die Alternativfrage als solche. Sie zerspaltet und verwirrt die Wirklichkeit und führt zur Zwangsvorstellung eines Entweder-Oder zwischen zwei Wegen, die es zumindest in diesem, uns hier allein interessierenden Jahrhundert nicht gibt. Es gibt keine Westverflechtung der Bundesrepublik als Selbstzweck, kein Aufgehen eines Teiles der deutschen Nation in einem Reißbrettstaatswesen. Ein Europa, dessen Spitze eine totale Pia-, nungsbürokratie darstellt, ist ein Alptraum. In diesem Sinne ist der kritische Hinweis de Gaulies auf die Realität der „Vaterländer“ ynd der nationalen Souveränitäten nicht weltfremd und romantisch, sondern sehr realistisch und berechtigt. Gerade ein Österreicher wird ihn mit vollem Bewußtsein unterschreiben. Die Westverbindung, die Integration der Bundesrepublik, kann und wird demnach am Ende nur eine politische Notwendigkeit, ein Umweg zum legitimen Ziel einer Wiedervereinigung in den modernen Formen dieses Jahrhunderts, die nicht die des hart geschlossenen Nationalstaates sind, sein und bleiben. Aber auch die scheinbare Gegenpol! tion, die darin bestünde, auf der Basis eines Bündnisses oder „Einverständnisses“ mit Rußland wieder den deutschen Nationalstaat, vielleicht sogar mit leicht korrigierten Grenzen im Osten, herauszuhandeln, ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner. Wer diesen Weg beschreitet, ist ein betrogener Betrüger. Die sowjetischen Partner sind immer noch eine Stunde früher aufgestanden als alle Überklugen, die sie übers Ohr hauen wollten. Vielleicht trüge ein solcherart wiedervereintes Deutschland nicht gerade die Züge Ulbrichts. Aber die seiner gern zitierten historischen Eideshelfer, der Herren Yorck, Bismarck oder Rathenau, trüge es bestimmt nicht. Am ehesten noch die des Herrn von Ribbentrop, der ja als letzter Federführer einer solchen Politik in der bisherigen Geschichte fungierte. (Und auch dieser war ja für Österreich kein sehr anziehender Herr Nachbar.)

Daß Deutschland in historisierender Zwangsvorstellung aus dem zur Pose gewordenen Lutherischen „Hier stehe ich ... “ mit einem Male den überraschenden Nachsatz folgert.....ich

kann auch anders“, ist ein Vorgang, der psychologisch recht glaubhaft erklärt werden kann. Uns scheint, daß dies aber eine so gefährliche und explosive Konsequenz bedeuten würde, daß sie keine der eben einmal seit 1945 wohl oder übel für den Weltfrieden verantwortlichen Großmächte — trotz allem hemdärmeligen Optimismus bezüglich irgendwelcher am fernen Ende triumphierender kommunistischer „Enkel“ auch die Sowjetunion Chruschtschows nicht — verantworten könnte. Es gibt nur eine einzige wirkliche und dauerhafte Lösung der deutschen Frage: das Einverständnis der an der Stabilität in der Mitte Europas interessierten Weltmächte über die Schaffung einer für beide Teile Deutsehlands zuständigen, von den Deutschen ordnungsgemäß legitimierten Regierung, deren Status vor dem Abschluß eines Friedensvertrages einvernehmlich geklärt werden muß.

Das mag weltfremd und utopisch klingen. Aber die beiden anderen, hier entwickelten Alternativlösungea sind keinesfalls realer. Sie sind nur obendrein noch gespenstisch und gefährlich. Nicht zuletzt für alle Nachbarn Deutschlands.

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