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Kommunismus siegt in der Sowjetwelt

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Die „Oesterreichische Furche“ stellt hier eine beachtenswerte These ihres Mitarbeiters zur Debatte, die, wie immer man sich zu ihr stellen mag, geeignet erscheint, die komplexen Vorgänge in der östlichen Hemisphäre zu beleuchten. Die Redaktion

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Die „Oesterreichische Furche“ stellt hier eine beachtenswerte These ihres Mitarbeiters zur Debatte, die, wie immer man sich zu ihr stellen mag, geeignet erscheint, die komplexen Vorgänge in der östlichen Hemisphäre zu beleuchten. Die Redaktion

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I.

Wir hatten diese Ausführungen auf Grund eines sorgfältigen Tatsachenstudiums und einer Kombination hier wenig beachteter Einzelfakten in großen Zügen bereits konzipiert, als die Nachrichten aus Berlin die Weltöffentlichkeit und uns selbst in begreifliche Erregung versetzten. Selbstverständlich steht der elementare Freiheitsausbruch der deutschen Arbeiter, ihr den Achtundvierziger-

Toten gleichgeordnetes Blutopfer, im berechtigten Vordergrund unserer Anteilnahme. Dennoch aber sahen wir auch jetzt trotz . intensivsten Studiums der Informationen keinen Grund, die hier nun zu entwickelnden Thesen in entscheidenden Punkten zurückzunehmen. Weltpolitisch gesehen hat sich, allen vordergründigen Ausdeutungen zum Trotz, durch die Berliner Ereignisse nichts — besser gesagt: noch nichts — geändert. Was sich aber hier im größten Rahmen des Ostblocks abzuzeichnen beginnt, ist dies: Das undurchdringliche Dunkel nach dem Tode Stalins Helltet sich an einer entscheidenden Stelle. Und hinter dem für den mit marxistischem Sprachgebrauch nicht Vertrauten undurchdringlichen Rankenwerk offizieller Phrasen und Publikationen wird etwas längst Totgeglaubtes sichtbar: Die , klassische leninistische Linke, der alte, dialektische Kommunismus. Wenn nicht alles trügt, stehen wir vor einem Umschwung der sowjetischen Politik, der, weit über strategisch-machtpolitische Tagesfragen, selbst über die Thematik einer allfälligen Viermächtekonferenz hinausgehend, seine Wurzeln in einer grundlegenden Richtungänderüng der obersten Führungsgremien haben muß.

II.

Das alte bolschewistische Konzept Lenins, in vielen theoretischen Zügen mit dem Liebknechts und der Luxemburg sowie auch des Oesterreichers Kautsky identisch — die scharfen Differenzen mit diesen bedeutenden Theoretikern können bei unserem Thema außer acht gelassen werden —, ist seit dem entscheidenden Sieg Stalins über Trotzkij Schritt für Schritt verlassen worden. Das ist an sich eine Binsenwahrheit. Stalins inner-und außenpolitischer Kurs war aber keinesfalls ein geistloser Verrat am Leninismus zugunsten des Großrussentums, sondern seine Theorie vom „Sozialismus in einem Lande“ entwickelte Lenin-Marx in einem eigenständigen Sinn weiter. Solange Stalin lebte beziehungsweise aktiv den Gesamtapparat im internationalen Maßstab leitete, war in seiner Person eine letzte Synthese zwischen der alten „linken“ bolschewistischen Revolution und dem großrussischen Bonapartismus noch möglich. Sein gegen Ende zu immer spärlicher werdendes Eingreifen in die Politik bewies sehr oft seine außerordentliche staatsmännische Fähigkeit, im entscheidenden Augenblick das eine Extrem durch das andere zu korrigieren. Abgesehen von allen historisch gewordenen Kursänderungen der letzten Jahrzehnte, die nicht im einzelnen erörtert werden können, wiewohl sie allesamt diese These erhärten würden, ist als das wichtigste Ereignis der unaufgeklärte, wahrscheinlich gewaltsame Tod des Parteisekretärs S h d a-n o w zu werten. In zeitlich recht dichter Folge reihten sich daran die sinngemäßen Ereignisse: Verwerfung Titos, knapp vorher der plötzliche Tod Dimitroffs, die jahrelange Erkrankung Thorez', die zeitweilige Kaltstellung Togliattis und dann schließlich der sich in den letzten Wochen zum amoklaufenden Exzeß steigernde Kampf gegen die „Linke“ des Kommunismus auf der ganzen Erde. Die Einzeltatsachen der Säuberung auf allen Gebieten sind zu bekannt, um wiederholt werden zu müssen. Hinter den immer unbedeutender werdenden Garnituren der „Linksabweichenden“, hinter dem sich zum allgemeinen Hexenwahn steigernden Kampf des Sowjetismus, als dessen Prototyp vielleicht Malenkow gewertet werden muß, wurden

die Schatten jener großen Ketzer sichtbar, als deren Jünger die Slansky und Dahlem, die Intellektuellen und „Juden“ brennen mußten, die Schatten Trotzkijs und der altbolschewistischen leninistischen Linken. Genau so unverkennbar aber ist, daß mit dem Tode Stalins, der seine offenkundige Unterstützung für Malenkow und die die großsowjetische Richtung in die Waagschale der letzten Jahre seit Shdanows Tod geworfen hatte, zugleich mit Macht die alte linke Garde wieder zu Kräften kam und in einem lautlosen Kampf mit Malenkow, der eben noch die Plattform des fahrenden Zuges erklimmen konnte, der sich bei Stalins Tod in rasende Bewegung setzte, daran ist, das Steuer in die Hand zu bekommen. Wir sind davon überzeugt, daß ihr Vertrauensmann, der alte Mitkämpfer Lenins, der politische Revolutionär Molotow, der „Hammer“, das Heft bereits in der Hand hält. Was sagte Nenni, einer der führenden Köpfe der europäischen Linken, in einem Interview beim Tode Stalins über dessen Nachfolge? „Ich kann mir keinen andern als Molotow denken ...“. Er, der in Leninscher Elastizität jenen „Frieden von Moskau“ mit Ribbentrop schloß, der als eines der Meisterstücke dialektisch-bolschewistischer Diplomatie nur mit Trotzkijs genialem Schachzug von Brcst-Litowsk vergleichbar ist, verkörpert jenen klassischen Kommunismus, dem die Sowjetunion ihre faszinierenden Erfolge in der ersten Nachkriegszeit vor allem auf außenpolitischem Gebiet verdankt. Wir wer-

den schon in den nächsten Monaten eine gänzlich veränderte sowjetische Politik erleben. „Das ist alles nur ein 'Anfang“, sagte Semjonow, der neue Schlüsselmann in Berlin, dessen Name in den Tagen der großen Krise nicht genannt wurde, als er am Morgen des A.rbeiteraufstandes den sich bei ihm akkreditierenden belgischen Botschafter mit aller protokollarischen Höflichkeit empfing ... Dies also der machtpolitische Hintergrund. Es bleibt nun zu untersuchen, welche Theorien einander in diesen beiden fälschlich mit dem Sammelnamen Kommunismus bezeichneten Extremen gegenüberstehen und welche Konsequenzen sich mit der bei innermarxistischen Erscheinungen zu beobachtendtn Folgerichtigkeit aus dem eklatanten Sieg der alten Linken ableiten lassen ...

III.

Die heute siegreiche Linke leitet sich von Marx, Engels und Lenin her. Sie sieht im Marxismus kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln. Ihre politische Arbeitsweise ist wissenschaftlich, und dies in unserem Sinn, also experimentell. Primäres Phänomen ist die gesellschaftliche Entwicklung. Sic erfolgt im dialektischen Sinn, sprunghaft, aber mit eiserner Logik. Der Staat ist und bleibt etwas Sekundäres, sich mit den Gesellschaftsverhältnissen Wandelndes, ein in der vollendeten sozialistischen, zum Kommunismus hinstrebenden Gesellschaftsform allmählich Absterbendes. Diese Vorgänge spielen sich grundsätzlich im internationalen Rahmen ab. Sämtliche Werte des „Ueberbaus“, also auch das Vaterland, der Staat, das nationale Prestige sind grundsätzlich als indifferent anzusehen. Sie können nach Belieben und immer rein rational-zweckgerichtet eingesetzt werden. Prestigeverluste existieren also in Wirklichkeit nicht. Mehr noch: Die natürlichen Verbündeten sind und bleiben die proletarischen Massen, vor allem jene des Auslandes. Für einen Sowjetmythos, für großrussische, imperialistische Tendenzen ist hier kein

Raum. Die Linke ist dynamisch, elastisch, und vor allem leicht legierbar mit allen nur möglichen revolutionären Bewegungen in anderen Ländern. Sie ist, ihrem westlichen Ursprung nach, zu einer weitreichenden Bündnispolitik prädestiniert, denn sie kennt keine dogmatische Vorbelastung irgendeines Gesprächs. Allein vor dieser theoretischen Skizze der „Linken“ wird schon klar, was die bisher vor allem in den letzten Monaten an der absoluten Macht, die sich schließlich überschlug, befindliche Rechte nicht war. Alles, was wir seit dem Tode Shdanows als sowjetischen Bonapartismus kennenlernten, war das genaue Gegenteil: großrussisch von nationaler Ueber-empfindlichkeit, imperialistisch im zaristischen Sinn, orthodox, gesprächsunfähig, finster und mißtrauisch. Die Probe aufs Exempcl: Ostdeutschland: Ulbricht spielt sich nach vorn, der kalte, pragmatische Aparatschik, Intellekt, Judentum und jede Art von Liberalismus werden zu Todfeinden erklärt. Mit dem Fanatismus des Dogmatikers will er, allen marxistischen Strukturgesetzen zum Trotz, das als Idol aufgestellte russische Sowjetsystem in Mitteldeutschland einführen. Kolchose, schematischer Kirchenkampf, Großenteignung werden wie Allheilmittel aus der Sowjetunion importiert und — völlig unbolschewistisch — angewendet. Die Abberufung Semjonows und seine Ersetzung durch Judin, ohne Zweifel noch ein Werk der in Moskau auf dem Rückzug befindlichen Rechten, scheint Ulbricht recht zu geben. Dann

aber kommt — überraschend — Semjonow zurück, mächtiger, entschiedener denn je.

IV.

Und das ist der neue Kurs. Wir sind der Meinung, daß er — trotz Berlin — mit der der marxistischen Dialektik eigenen Freiheit von Ressentiments auch jetzt nicht nur beibehalten, sondern verstärkt werden wird. Wir glauben, daß Semjonow und seine ihn entsendenden Herren in Moskau unbeirrt auf der ganzen Welt jenern Kurs folgen werden, den wir, in Konsequenz der oben dargelegten theoretischen Erwägungen praktisch so ableiten möchten: Das Ulbricht-Regime in der Ostzone wird, ob nun unter diesem oder jenem Rechtstitel, verschwinden. Das Ziel des Bolschewismus molotowistischer Prägung ist nicht mehr ein Großrußland, das bewaffnet an der Elbe einem bewaffneten Großamerika gegenübersteht. Das wäre im dann unausweichlichen Kriegsfall die Katastrophe eines solchen Imperiums. Das Ziel ist heute ein Gesamtdeutschland mit einer sozialdemokratischen Regierung. Wir trauen der Elastizität der zur Macht gekommenen Linken auch die Phantasie einer plötzlichen Lösung des schle-sischen Problems zu. Die panslawistischen Sympathien für Polen und Tschechen dürften einem echten Marxisten nur ein mitleidiges Lächeln abnötigen. Es wird diesen neuen Machthabern nicht mehr um eine Abgrenzung der Interessensphären zweier Weltmächte gehen, hinter deren chinesischen Mauern die Manager beider Systeme (frei nach Orwell) ihren ungestörten Kastenstaat errichten. Es wird wieder und primär um die alte linke Konzeption der Volksfront zu tun sein. Und allen jenen, die im Herzen diesen Volksfronttraum bewahrt haben und nur vor dem Univers concentrationnaire des Stalin-Malenkowschen Rußland zurückschreckten, wird die neue Linke in Moskau Brücken bauen, von denen sich die Phantasie unserer in kleinen Zahlen denkenden Analytiker keine Vorstellung machen kann. I n diesem Sinne sind die streiken-

heit durch die namenlosen Berliner Arbeiter. Hier setzt die Hoffnung an, daß auch dieser neue, vielleicht gefährlichste Zug des Kommunismus, der nahe bevorsteht, abgewehrt wird. Die sehr klug und dialektisch richtig einkalkulierten Massen sollten, dem Willen des leninistischen Demiurgen folgend, in ihrer wohl kalkulierten Unzufriedenheit Ulbricht stürzen, dann aber ihren Elan jenen übertragen, die weiter im Westen wohnen, nicht mehr für die „Ostzone der SED“, sondern

für eine gesamtdeutsche Revolution kämpfend. Die französische Revolution triumphierte über der Leiche Napoleons. Die Jugend, die von den legitimen Fürsten gegen die Trikolore zu den Fahnen gerufen worden war, hißte dieselbe Trikolore gegen die legitimen Fürsten auf dem Hambacher Fest. Dies und nichts anderes ist die neue Konzeption der siegreichen Linken im Kreml...

Was ihr die Berliner Arbeiter antworten, weiß die Welt. Was aber haben wir zu sagen?

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