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Gibt es die „russische Seele“?

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I

Wenige Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917 wurde in der Weltpresse eine sensationelle Reportage abgedruckt. Sie schilderte die Plünderung und Schändung der Zarenbegräbnisstätte. In atemraubender Weise erstand in jenen Zeilen die Atmosphäre des düster-prunkvollen Gruftgemachs, glänzte das matte, schwere Silber der Särge. Die Brecheisen knirschten, und die kostbar verzierten Totenschreine öffneten sich. Die gekrönten Häupter aller Reußen boten sich in vollem liturgischem Ornat den Blicken der Bilderstürmer eines neuen Äon. Nur der Sarg Alexanders III., den eine Bombe zerrissen hatte, war leer. Der Höhepunkt dieses nächtlichen Einbruchs in die eigene Vergangenheit aber war die leibhaftige Begegnung mit dem vor zweihundert Jahren verstorbenen „Großen Peter“. Durch die luftdichte Sarg-’ konstruktion hatte sich der mächtige, in ein barockes Prunkgewand gekleidete Leichnam unversehrt erhalten. Der Zar selbst lag vor den unwillkürlich einen Schritt Zurücktretenden. Als man aber, um das Edelmetall des Sarges zu bergen —• das war der Zweck dieser Maßnahme — den Leichnam heraushob, zerfiel er unter dem plötzlichen Luftzutritt mit einemmal in Staub…

Mag diese Geschichte vielleicht auch poetisch - journalistisch ausgeschmückt sein, sie ist doch ungemein charakteristisch für jene erste Periode der bolschewistischen Revolution, die heute längst begraben und vergessen, deren große Namen, wie Trotzkij, Kamenew, Sinow- jew, Lunatsdiarskij, in die dunkelsten Tiefen des großen sowjetischen Bannfluchs geschleudert sind. In jenen Jahren entstanden die heute auch nicht mehr antiquarisch oder bibliotheksmäßig erhältlichen Enzyklopädien, in denen den Großgrundbesitzern und reaktionären Adeligen Puschkin, Lermontow und Tol- stoj nichts weiter als ein paar referierende Zeilen gewidmet wurden. Der „Pröletkult“, dessen Experimente auch in Westeuropa heftige Diskussionen auslösten (Jessner, Piscator und viele andere), sollte eine neue Ära heraufführen. Die berühmte „russische Seele“ überließ man Emigrantenklubs, die „Wolga, Wolga’ schluchzten, in Hollywoodfilmen verzweifelt-orgiastisch Sekt trinken und sich vor golddunklen Ikonen bekreuzigen sollten. Und, Hand aufs Herz, wie viele durchschnittsgebildete Menschen Westeuropas und der angrenzenden Ländereien haben heute noch dieses Bild von der russischen Kultur als Gesamt- vörstellung in sich? Wie einfach ist doch dieses Schema. Zu einfach. Und die Wirklichkeit?

II

Es ergibt sich für uns Mitteleuropäer, für uns Menschen der „freien Welt“, insgesamt zunächst die elementare Frage, die wir diesem Aufsatz voranstellten: „Wo ist die russische Seele, die lebendige, uns verwandt, ergänzend, vielleicht auch nur schöpferisch herausfordernd berührende russische Kultur, deren Schöpfungen in den höchsten Weltmaßstäben zu bewerten sind, heute praktisch für uns zu finden?“ Sind wir zu diesem Zweck durch die Scheidelinie des Oktober 1917 gezwungen, sie lediglich durch Verm!ttlung von Emigranten, selbst solcher vom Range eines Berdjajew, eines Fedor Stepun, ęines Dimitrij Meresch- kowskij kennenzulemen, oder begegnet sie uns in irgendeiner faßbaren Form auch in den offiziellen Kulturäußerungen der heutigen Sowjetunion? (Wobei noch vi bedenken wäre, daß die Sowjetunion ja nicht ohne weiteres mit dem alten : oßrussentum in öins gesetzt werden kenn, wie das gern in unzulässiger Vereinfachung geschieht, sondern in einem gewissen, nach Lage der Dinge wechselnden Ausmaß den anderen Kulturvölkerschaften in ihren Grenzen Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stellt.) Wir haben durch ein aktuelles Ereignis dieses laufenden Jahres die Notwendigkeit vor Augen geführt bekommen, uns mit dieser Frage bald und gründlich auseinanderzusetzen. Der hundertste Todestag des Dichters Gogol, dessen Werk dem Meinungsstreit der heutigen Weltmächte eindeutig enthoben sein dürfte, führte uns Menschen der westlichen Welt alle miteinander vor eine so beschämende Situation der verwirrten Ratlosigkeit, daß Wiederholungen bei ähnlichen Anlässen kaum wünschenswert sein dürften. Zunächst einmal geschah bis auf einige verlegene Allerweltssendungen im Rundfunk und einige farblose literarhistorische Artikel in ein paar Zeitungen überhaupt nichts. Als, wie nicht anders zu erwarten, nicht nur die Gesellschaft für österreichischsowjetische Freundschaft, sondern auch die kommunistischen und kommunistenfreundlichen Kreise diesen Tag zum Anlaß nahmen, ihn mit einer Feier zu begehen, die — wie auch nicht anders zu erwarten — den unvermeidlich politischpolemischen Beiklang erhielt, begann das Klagen im Blätterwald aller Parteischattierungen. Und wieder tauchte die gute alte „russische Seele“ auf, die in der ach so bösen „linken“ Interpretation des Dichters geschändet worden sei. Wo aber blieb die christliche oder auch liberal-humanistische, ja selbst nur tra- ditionsverpflithtete ästhetische Ffeder von einigem Rang, die nun wirklich die russische, die europäische, die existentiellchristliche Seele des prophetischen Dichters der „Toten Seelen“ zum nachglühenden Aufleuchten gebracht hätte? Gewiß, man erwähnte den „Revisor“ mit dem üblichen schadenfrohen Schmunzeln über die schlamperten Russen. (So etwa, wie man noch vor einigen Jahrzehnten im französisierten Ausland bei der Nennung des Namens Goethe nur mit verdrehten Augen murmelte: „Ah, .Werther’, .Margarete’… la deutsche Seele.“)

III.

Da heißt es zuallererst einige nüchterne, wenn vielleicht auch bittere Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen. Sie lauten:

In der heutigen Sowjetunion hat sich ein Innerer Wandel vollzogen, der aus der Weiterentwicklung des Marxismus- Leninismus durchaus konsequent in einer bestimmten, von vornherein als Möglichkeit vorhandenen Richtung verlaufen ist. Diese Auffassung, deren politischer Niederschlag die Theorie Stalins „Vom Sozialismus in einem Lande“ ist, begreift, nicht etwa nur aus taktischen Gründen und als vorübergehende Propagandamaßnahme, daß die Verwurzelung des kommunistischen Systems in Rußland, das ja das unaufgebbare und mit allen Mitteln zu haltende Sprungbrett einer grundsätzlich beibehaltenen Weltentwicklung im revolutionären Sinn sein muß, nur möglich ist, wenn die nationale, kulturelle, ja selbst im erweiterten Sinne religiöse Tradition des Landes der neuen bolschewistisch-sozialistischen Gesellschaft amalgamiert wird.

Dieser Amalgamierungsprozeß, den nur ganz oberflächliche Beobachter als einen primitiven Kulissenzauber ansehen können, vollzieht und vollzog sich bereits in den letzten Jahrzehnten seit der endgültigen Durchsetzung der Stalinschen Richtung gegenüber allen Konkurrenten in der Mitte der dreißiger Jahre. Die marxistisch-leninistische Theorie gibt zufolge der ihr innewohnenden, von Hegel überkommenen Dialektik die einmalige Möglichkeit, diese Kulturwerte zugleich aufzunehmen, zu amalgamieren, ohne ihnen unschöpferisch-epigonenhaft nach- zubeten oder von ihrem Eigengewicht in einer neueren Entwicklung erdrückt zu werden.

Dieser Weg einer zugleich kritischen, distanzierenden und in einem Atem für die eigene innere und äußere Propaganda beschlagnahmenden Methode ist für unser westlich-abendländisches Denken ungewohnt und im eigentlichen Sinh auch unannehmbar. Wir müssen ihn aber allen Ernstes und mit allen Konsequenzen zur Kenntnis nehmen und uns nicht zum eigenen Schaden im Wölkenkuckucksheim eines sentimentalen Rußlandbildes der zwanziger Jahre aufhalten. Diese Konsequenzen sind:

1. Die heutige Sowjetunion hat es verstanden, nicht nur die historischen und geopolitischen Traditionen Großrußlands von Iwan dem Schrecklichen bis zum russisch-japanischen Krieg von 1905 zu verschmelzen, sondern sie hat es in einer rasanten und bisher leider unwidersprochen gebliebenen Weise auch mit den kulturellen Werten zuwege gebracht. Ja, es bestehen Anzeichen, daß in einem zunächst verdeckten, aber geistesgeschichtlich unerhört dramatischen Prozeß sogar das genuin religiöse Erbe der Orthodoxie in ganz bestimmten entscheidenden Punkten dergestalt in einem auf Generationen berechneten Prozeß eingeschmolzen wird.

2. Daraus ergibt sich, daß als die einzige Umschlagstelle für die lebendig fortwirkende Geistesmächtigkeit die offir zielle sowjetische Kulturmission fungiert,, deren mit sehr viel Aufwand und Sorgfalt ausgestattete Propagandazentren auch auf österreichischem Boden bestehen.

3. Mit dieser an und für sich für uns nicht eben angenehmen und unser souveränes Selbstbewußtsein als Volleuropäer (und Europa endet weder an der Enns noch an der Elbe noch auch an den Pripjetsümpfen) wenig schmeichelhaften Tatsache müssen wir uns so lange abfinden, als wir nicht ernsthaft und in entschiedener Abkehr von verkitschten und oberflächlichen Rußlandbildern der Sezessionszeit und der Operette darangehen, uns mit diesem unseren Erbe selbst zu beschäftigen und schöpferisch auseinanderzusetzen.

4. Dazu genügt aber kein konventioneller Gedenkartikel für die prominenten Lexikonstars und im übrigen ein paar halbgebildete DostojewskSj- und Tolstoj-Plappereien, sondern ein wirkliches Erarbeiten des ungeheuren und für uns Lebensluft bedeutenden Stoffes der russischen Kultur durch die hiefür vorhandenen Kulturinstitute der freien Welt, die es nicht nötig haben, die Werke dieser Meister in der sterilisierten und „ad usum Delphini zurechtgestutzten Gestalt der dialektisch - materialistischen Kulturbetrachtung kennenzulernen.

5. Und dazu gehört nicht zuletzt eine echt publizistische, nicht von abgestandenen, angelesenen Phrasen zehrende Tätigkeit der Presse, des Rundfunks, der Theater und anderen Kulturstätten, vor allem der Volkshochschulen, die einem breiten (im existentiellen Sinne heute doch mehr als allgemein angenommen kulturaufgeschlossenen) Publikum das Wesen und die überzeitliche Bedeutung dieser Geistesmächte klar macht.

IV.

Die Sowjets haben während des Krieges mit Deutschland an ihren Bühnen den „Wilhelm Teil gespielt. Sie dürften den Geist Schillers nicht durch die Reichskulturkammer seligen Angedenkens vermittelt bekommen haben.

Wir stehen heute nicht im Kriege mit Rußland, wohl aber in einer entscheidenden Auseinandersetzung mit den außenpolitischen und weltweiten Aspekten der in diesem Staat herrschenden Doktrin.

Soll das ein Grund sein, daß wir, eine freie Demokratie, uns an Unvoreingenommenheit und geistig-kultureller Souveränität durch einen totalitären Staat, der mitten im Krieg das nationale Standardwert: des Reichsfeindes spielte, beschämenmassen?

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