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Ist der Vorhang gefallen ?

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Es gibt staatsmännische Vereinbarungen und Lösungen, die in sich das Risiko der Nicht-bewährung, des Scheiterns tragen. Oft lehrt dann die Geschichte, daß sie wider alles Erwarten doch hielten. Es gibt Lösungen, die in sich die hohe Wahrscheinlichkeit des Mißerfolgs bergen. Dennoch können zwingende Gründe für ihre zumindest provisorische Annahme sprechen. Aber es gibt Vereinbarungen und Lösungen, die von allem Anfang die Sicherheit des katastrophalen Scheiterns als ein Stigma aufgeprägt erhielten. Sie dennoch zu akzeptieren, kann nur ein Werk der Verzweiflung oder — in höchster Dialektik gesehen — eine Frucht des Glaubens und der „Hoffnung wider alle Hoffnung“ sein.

Vor einer solchen „Lösung“ steht Europa in diesen Tagen angesichts der Frage der deutschen Wiedervereinigung. Ueber die Verzweiflung der Politiker ist an anderer Stelle genugsam geschrieben und gesprochen worden. Die Unhalt-barkeit, ja die katastrophale Gefahr des jetzigen und logischer Voraussicht nach für absehbare Zeit geltenden Zustandes der Zerreißung Deutschlands (von einer dem Prinzip „Vae victis“ folgenden „Abtrennung“ kann vielleicht angesichts der Ostgebiete, nie aber in

bezug auf die mitteldeutschen Kerngebiete der heutigen DDR gesprochen werden), dies alles ist heute den Politikern im Westen und natürlich auch im Osten restlos klar. Hier soll also auch nicht von den weltpolitischen Folgen und Problemen dieses Zustandes geschrieben werden. Hier wird versucht, das deutsche Unheil aus der Perspektive der Menschen der DDR darzulegen und zu deuten. Es handelt sich dabei nicht mehr um eine noch so tragische Minderheitenfrage, um ein letzten Endes auf nationalstaatlich-deutsche Interessen begrenztes Problem, sondern um eine kollektive Tragik von nahezu 20 Millionen Menschen, die uns ihrer gemeinsamen Sprache und Kultur wegen näherstehen und daher auch von innen her verständlicher sind als Millionen andere Menschen, etwa in Asien, deren Tragik wir nur mit dem Verstand begreifen können.

II.

Man kann die Fakten heute in schmerzlicher Klarheit und bar aller Schleier des „Wenn...“ und „Vielleicht...“ betrachten. Die Träume und Spekulationen über eine langsame An-gleichung des Pankower Regimes an die politischen Lebensformen der Bundesrepublik, die vielfachen Kombinationen, die sich mit einer Zurückziehung des radikal-kommunistischen

Führerkorps und seinem Ersatz durch bürgerlich-vermittelnde Zwischenfiguren (wie Nuschke oder Kastner) beschäftigen, müssen nunmehr als gegenstandslos angesehen werden. Die in solchen Dingen bestimmt nicht spontan oder von ungefähr handelnden Strategen der sowjetischen Weltpolitik haben es für richtig befunden, just in dem Augenblick, in dem Molotow zu Genf das konkrete Entgegenkommen der Westmächte, die jede nur erdenkliche Sicherheitsgarantie gegen ein eventuelles Wiederaufleben des deutschen Angriffsgeistes anboten, ablehnte, gegen das geistige Oberhaupt des mitteldeutschen evangelischen Christentums, Bischof Doktor D i b e 1 i u s ein Einreiseverbot in ihr Machtbereich zu verhängen. Wenn man sich vor Augen hält, daß die Kirchen nach der Aushöhlung und Aufsaugung der politischen Organisationen nichtkommunistischer Art der letzte und stärkste Hort der Freiheit waren, wenn man dazu hält, daß der jeden Sonntag mannhaft in der Ost-Berliner Kirche zu Fragen der Zeit predigende Bischof von Berlin und Brandenburg über seine rein kirchenrechtliche Funktion hinaus ein oberster Anwalt des Menschenrechts sogar auch für die katholische Diasporaminderheit in diesen traditionell evangelischen Gebieten war, dann gewinnt dieser Vorgang symbolische Bedeutung. Er kann, zusammen mit den offenen Drohungen des entscheidenden Machthabers der DDR, Ulbricht, zusammen mit dem viel stärker und unnachgiebiger als im Vorjahr gewordenen Druck der öffentlichen Organe, in der sogenannten „Jugendweihe“ den offenen und demonstrativen Abfall vom Glauben zu vollziehen, sehr gut als das große Angriffssignal gegen die letzten, noch verbliebenen Bastionen des Glaubens überhaupt verstanden werden.

Es wäre falsch und kurzsichtig, sich heute noch an das allzu primitive Bild der „unter russischer Fremdherrschaft schmachtenden“ DDR zu klammern und sich dem träumerischen Gedanken hinzugeben, daß der mehr oder minder freiwillige Abzug der kaum noch im öffentlichen Leben in Erscheinung tretenden Sowjettruppen automatisch den Sturz der Ulbricht-Grotewohl-Regierung und aller ihrer Organe bedeutete, daß nach diesem sagenhaften „Tag X“ dann ohne weitere Umstände ein dem bundesdeutschen ähnliches politisch-gesellschaftliches System erstehen müßte. Man muß sich nur rein historisch vor Augen halten, daß die demokratische Freiheit unserer Vorstellung für die Bewohner Mitteldeutschlands mit dem 30. Jänner 1933 aufhörte. Das sind mehr als zwanzig Jahre Diktatur, Totalstaat, dieser oder jener Farbe. Die „Errungenschaften“, von denen sowohl die Pankower Machthaber als auch in aller Deutlichkeit seit dem Sommer dieses Jahres die sowjetischen Staatsmänner sprechen, sind eben nicht nur Potemkinsche Dörfer, sie sind grausame Tatsachen. Wir lassen hier die wirtschaftsstrukturelle Seite, die mit einem Radikalismus ohnegleichen durchgeführte Bodenreform, die brutale Betriebsenteignung und ähnliches sogar außer acht. Was noch viel besorgniserregender stimmt, ist die Eroberung der innersten Zentren des geistigen Lebens an der Universität und in der Kunst, im Verlagswesen und in der Wirtschaftsplanung. Man gebe sich hier keinen Täuschungen hin. Mit der Ausschaltung der eigenständigen Stimme des christlichen Gewissens in der Verkündigung außerhalb des rein kultischen Rahmens ist der Opposition jedes Zentrum, jeder kraftschenkende Zufluchtsort, abgesehen vom engsten familiären Rahmen, der heute auch bereits von verschiedenster Seite bedroht erscheint, genommen. Gewiß ist die offene Kampfansage an die Kirche im Letzten ein stolzer Märtyrertriumph! Es war eben, wie die verschwindend geringen Zahlen der für das Regime gewonnenen oder halb kollaborierenden Geistlichen beweisen, wie das völlige Fiasko der Propaganda für die Jugendweihen zeigt, in zehn Jahren pausenlosen Hämmerns nicht möglich gewesen, die katholische und evangelische Kirche Deutschlands, ähnlich der Orthodoxie in Rußland als Hilfstruppe für den Kommunismus zu gewinnen. Aber dieser Triumph der Idee tröstet nicht über den äußersten Ernst der Lage für ihre Bekenner hinweg. Schon mehren sich die Anzeichen, daß der letzte Flucht-, aber auch Einzugsweg der freien Welt, der Kanal nach Berlin, entschiedener als bisher abgeschnitten wird. Schon zeigen sich am Horizont die ostdeutschen Verbände der bewaffneten Macht, die der Herrschaft das Siegel aufdrücken sollen. Kein Zweifel: Der Kommunismus hat in Mitteldeutschland das zehn Jahre versuchte Spiel, eine wenigstens notdürftige demokratisch-freiheitliche Fassade zu errichten, aufgegeben, vielleicht verlorengegeben. Wir stehen vor einer neuen Phase, die das Leben der Deutschen Demokratischen Republik bestimmen wird.

III.

All dies könnte aber, so ernst es auch sein mag, immer noch mit einer vorsichtigen Skepsis angesehen werden. Die Erfahrungsberichte österreichischer Journalisten und anderer Beobachter aus der Sowjetunion stimmen darin überein, daß

der eigentliche Sieg des kommunistischen Regimes erst in jenem Augenblick errungen war, in dem die blutleere Theorie des Marxismus-Leninismus die Amalgamierung mit einem messianischen nationalistischen Heilsglauben einging, in dem es gelang, die kommunistische Revolutionsthese mit dem Sendungsbewußtsein und der nationalen Dynamik des Russentums, ja selbst mit den nachdrängenden asiatischen Elementen zu einem einzigen Ganzen zu verschmelzen, wie dies seit der Aera Stalins und vor allem seit dem letzten Krieg weitgehend erreicht zu sein scheint. Was liegt nun aber näher, als der Gedanke an eine Parallelentwicklung in diesem Zentralraum Deutschlands, den Thomas Mann im „Doktor Faustus“ sehr deutlich und hellsichtig als die Wiege aller jener Bewegungen bezeichnet, die von eben diesem Deutschland aus für die übrige Welt schicksalhaft (fatal) im dunklen Sinn dieses Wortes geworden waren? Gewiß: die ersten überstürzten Versuche der Sowjets, den heidnischen und antieuropäischen, des Maßes entbehrenden Nationalismus für die eigenen Zwecke zu gewinnen, sind im wesentlichen gescheitert. Der für eine solche Aufgabe zuerst ausersehene General Seyd-litz ist mit verächtlicher Handbewegung über die Grenze gejagt worden, die Bestrebungen der Kulturmacher von Pankow, die Männer von 1813 nachträglich für den sowjetdeutschen Staat zu reklamieren, sind kläglich zusammengebrochen. Wer aber will sagen, ob für einen erneuten Versuch nicht gerade morgen das Klima günstiger wäre? Wenn jetzt das eintritt, was die besorgten Freunde Deutschlands befürchten, die Sowjets nüchtern berechnend aber erwarten, wenn sich die saturierte, in das praktische Heidentum der Lebensstandardvergötzung versinkende liberalistische und rechtssozialistische Oberschicht der Bundesrepublik vom Europagedanken abgekehrt und sich somit des unumgänglich notwendigen inneren Antriebs begibt, muß dann nicht in dieser heranwachsenden deutschen Generation ein Vakuum entstehen, in das man die irrationalen Triebkräfte eines maßlosen Nationalismus hineinleiten kann? Muß sich dann nicht gerade in Mitteldeutschland ein immer weiter um sich greifendes Katastrophenzentrum entwickeln, das eines Tages explodieren und das Gleichgewicht des Kontinents, in der von den Sowjets erwünschten und erwarteten Richtung zerstören muß? Heute überwiegt in der DDR die verbitterte und dumpfschwelende Ablehnung des „Regimes“ noch alle anderen Ueberlegungen und Emotionen. Aber morgen und übermorgen, wenn die Abschließung dieser Sprengkammer erst vollendet sein wird wenn, die letzten Erinnerungen der alten- und mittleren Generation an die Zeit vor den Diktaturen verblaßt sein werden, wenn die letzten Reservate der Freiheit, die Kirchen, völlig ausgeschaltet und zum langsamen Tod abgeschnürt sind, wird dann nicht der Boden reif sein für eine neue Saat des Heidentums, diesmal vielleicht nicht mehr unter nationalsozialistischem, sondern unter nationalbolschewistischem Vorzeichen? Wir setzen hinter alle diese Gedanken vorsichtige Fragezeichen. Die leitenden Alchimisten des Kremls, die es zuwege gebracht haben, sich im Vorderen Orient einen großen Teil der so ganz anders gearteten Kräfte des Islams zu amalga-mieren, fragen gar nicht mehr. Sie rechnen und berechnen bereits.

IV.

Was also kann in dieser neuen und bedrohlich veränderten Situation noch Anlaß zur schwachen Hoffnung geben? Bestimmt haben die alterfahrenen Diplomaten nicht unrecht, die immer wieder auf die Beispiele plötzlicher Kursschwankung der Sowjets verweisen. Gerade wir in Oesterreich brauchen uns ja nur an das zur Verzweiflung führende Njet Molotows auf der keine zwei Jahre zurückliegenden Berliner Konferenz zu erinnern, an seine unnachgiebig festgehaltene, für Oesterreich unannehmbare Bedingung des Verbleibs fremder Truppen auf unserem Boden, und der kaum ein Jahr später folgenden Aenderung dieser Linie. Jeder Tag kann selbst heute noch ein überraschendes taktisches Einlenken der Russen, eine gangbare Kompromißlösung in Aussicht stellen. Dennoch wagen wir zu behaupten, daß auch dies die große Linie der Deutschlandpolitik des Kremls nicht wesentlich verändern wird. Seit Lenins klarsichtigen Definitionen von der Wichtigkeit der deutschen Schlüsselstellung hat der Kommunismus, darin zumindest sich selbst treu und gleichgeblieben, das Spiel mit und um Deutschland niemals aufgegeben. Eine wirkliche Lösung des Problems werden wir also nicht finden, wenn wir uns in alle Möglichkeiten formaljuristischer Kniffe und Formeln verlieren. Die wirkliche Lösung kann nur aus der großen religiösen nichtmarxistischen Dialektik der Umkehr dieser „Lage“ kommen. Einer Umkehr, die keine Westmächte und keine Sowjets, keine Nachbarn und keine Friedensplaner vollführen können, sondern nur das deutsche Volk selbst. Ungleich näher und existentiell bewußter als in der Bundesrepublik erlebt es in diesen Tagen in der Mitte seines Raumes zwischen Potsdam

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