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Im Schatten von gestern und morgen

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Nun stürmen sie wieder. Mit Panzer und Panzerfaust; gehen in Stellung, mit dem überschweren Maschinengewehr, schießen liegend, kniend, stehend. Sie sind aus Plastik, aus den USA importiert und haben auf der letzten Nürnberger Spielzeughiesse die Eroberung des deutschen Marktes begonnen. Die Erben des deutschen Zinnsoldaten.

Der „Deutsche Soldatenkalender 1956“ empfiehlt als vaterländische Gedenktage unter anderen den 14. August: „Georg von Schönerer auf Gut Rosenau bei Zwettl gestorben“, und, näher zur Gegenwart, den 16. März 1936: „Stiftung der neuen Truppeofahnen und Dienstauszeichnungen für die Wehrmacht“. Ein Aufsatz des Herausgebers belehrt die jungen Soldaten: ^Regimenter sterben zehnmal und es bleibt das Regiment.“

Der1 junge Soldat, gegenüber, im Zugabteil, nimmt die Sache nicht so tragisch: „Soldaten muß es immer geben“; und sieht, aus seinem . blaugrauen Mantel, der an die Luftwaffe, aber auch an westliche Uniformen verschiedener ziviler Hilfsdienst erinnert, in das Land hinaus, das fn der Dämmerung dieses Märztages versinkt. Schneeschmelze. Das Publikum nahm, dem Augenschein nach, ein paar Wochen zuvor die Sache ebenfalls nicht so tragisch; Der Bonner Bundestag verabschiedete die Verfassungsänderungen, die für die beginnende Wiederbewaffnung nötig sind, und das Soldatengesetz „praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit“. Zum Jahresende sollen 100.000 Freiwillige die neue Uniform tragen. Ein Sachverständiger berechnet die Kosten für die Ausbildung eines Fliegers mit 200.000 DM (das sind 1,2 Millionen Schilling). Der Bedarf wird auf 2500 bi 3000 ausgebildete Flieger geschätzt.

Tragischer sehen die Witzblätter dieses Stück, das ja in doppelter Besetzung gespielt wird. „Ich hatt' einen Kameraden“, das alte Lied der deutschen Soldaten, sieht da so aus: ein westdeutscher und ein ostdeutscher Soldat stehen einander abwehrbereit gegenüber: „Kann dir die Hand nicht geben, dieweil ich eben lad'.“ Zwei deutsche Armeen sind Wirklichkeit geworden. Sie stehen gegeneinander.

„Ich wollte sehen, wie das ist, wenn einer stirbt.“ So sagt ein Sechsjähriger aus, der zu fünf Jahren Jugendstrafe verurteilt wurde, weil er einen fünfjährigen Jungen ans Fensterkreuz hängte und tötete. Eine Siebzehnjährige ertränkt ihre siebenjährige Stiefschwester, ein Zwanzigjähriger stößt ein junges Mädchen, an dem er sich vergangen hat, ins eisige Hochwasser, wartet mehrmals, da sie sich ans Ufer schleppen kann, geht dann zum Mittagessen, findet sie wieder halbtot am Ufer, stößt sie ein letztes Mal zurück. Ein Dreiundzwanzigjähriger erschlägt in brutalster Weise sein zweijähriges Knäblein. Das sind einige Berichte aus den letzten Wochen in Bayern, wo die Jugendkriminalität seit 1950 um 50 Prozent gestiegen ist und im letzten Jahr 22.000 Minderjährige als Angeklagte vor den Jugendrichtern standen.

Jugend im Lehrraum. Jugend im überhitzten Druckfeld der industriellen Großgesellschaft. Jugend im „Betrieb“ der modernen Vergnügungsindustrie. Das sind heute weltweite Erscheinungen, diesseits und jenseits der Eisernen Vorhänge. Für das deutsche Volk kommen zwei Komponenten dazu, die diese weltweite innere Situation besonders belasten: die Schatten der Vergangenheit und die steigende Unsicherheit über die weltpolitischen Entwicklungen in Ost und West.

Die Schatten der Vergangenheit. Ein 1952 vom bayrischen Kultusministerium geprüftes und zum Unterrichtsgebrauch zugelassenes Buch „Aus deutscher Vergangenheit“ (erschienen in einem katholischen Verlag) verlangt von den Volksschülern des Jahres 1956, daß sie Waffen und Ausrüstungsgegenstände aus dem ersten Weltkrieg nachzeichnen sollen: einen deutschen, englischen, französischen Stahlhelm, Eierhandgranaten, Flugzeuge, Tanks, Gasmasken. — Einen Anschauungsunterricht eigener Art bildet das Auftreten prominenter „Führer“ von gestern bei Tagungen privater Verbände, aber auch in führenden politischen Gremien der Bundesrepublik. Viel glossiert wurde eine Episode: der Präsident des Bundestages, Gerstenmaier, hält die gegenwärtige innere Entwicklung für so alarmierend, daß er eine Sondersitzung der Fraktionsvorsitzenden des Bundestages einberief, um vor der „Frechheit“ des politischen Vordrängens von ewig Gestrigen zu warnen; er erntete dafür nachher die öffentliche Mißbilligung von Seiten seiner Koalitiönsgenossen, der Deutschen Partei, und, in der Sitzung selbst, das beredte Schweigen eines stellvertretenden Fraktionsführers, der selbst alter NS-Würdenträger ist. Eine zweimal gegebene Sendung des Bayrischen Rundfunks über die Offensive nationalsozialistischer Tendenzen und Persönlichkeiten, die immer stärker in Führungsstellen der Politik, Wirtschaft, aber auch der Universitäten eindringen, brachte erstaunliche: Belege.-

Während die materielle Wiedergutmachung an den Opfern des Dritten Reiches „nach wie vor verschleppt, verzögert, sabotiert wird“ (Ernst Müller-Meiningen jun), fordert der NS-Polizei-präsident von Lübeck zu seinen bereits gesicherten 1000-DM-Monatspension 100.000 DM Entschädigung und erhalten, wie Staatssekretär Weishäupl vom bayrischen Arbeitsministerium mitteilt, von den hohen und mittleren SS- und NSDAP-Führern rund 30 Prozent 500 DM, 18 Prozent 1000 DM Pensionen.

Angesichts dieser Tatsachen wirkte es wenig überzeugend, daß CDU-Politiker den Sozialisten, die Arnold in Düsseldorf stürzten, Verrat an der Demokratie vorwarfen: eben durch ihr Bündnis mit Männern der Freien Demokraten, die zum Teil vorgestern HJ-Angehörige waren. Lakonisch erwiderten die deutschen Sozialdemokraten, daß man diesen, heute zwischen 36 und 40 Jahren alten Politikern doch keinen Vorwurf machen könne, während prominenten Ex-Nationalsozialisten unter dem Schutz und Schirm des Intimus des Bonner Kanzlers Globke, des Verfassers der Kommentare zu den Nürnberger Rassengesetzen, der Zugang zu wichtigen Schlüsselstellungen in Wirtschaft und Verwaltung auf CDU-Seite eröffnet worden sei. — „Meine Nazi, deine Nazi“: dieses alte Leitmotiv, wohlbekannt aus der österreichischen Innenpolitik nach 1945 0— welche Rolle wird ei im Wahlkampf 1956 spielen? — hat also auch in Deutschland seine Wirksamkeit bewiesen.

Die Schatten der Vergangenheit: sie haben für Westdeutschland heute aber auch noch einen konkreten Nachsinn. Das Unbehagen an der „Einmannregierung“ ist weit über Kreise der Opposition hinausgedrungen. An diesem Unbehagen sind zwei Koafitionsparteien zerbrochen, der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten und die Freien Demokraten. Im gegenwärtigen Bonner Kabinett sitzen sechs Minister, die faktisch Ressortbeamte des Kanzlers, ohne parlamentarischen Rückhalt als gewählte Volksvertreter, sind, da ihre Parteien ihnen das Vertrauen entzogen haben. Nicht wenige Beobachter sehen die innenpolitische Entwicklung in Westdeutschland dahin gehen, daß es morgen und übermorgen zur Ausbildung eines Zweiparteiensystems analog der Entwicklung in England und den USA kommen wird und zu einer „Großen Koalition“ zwischen CDU und Sozialdemokraten. In einzelnen Ländern zeigen die Gespräche zwischen Vertretern dieser beiden größten Parteien, daß man nicht abgeneigt ist, in Koalition Länderregierungen zu bilden, wobei immer wieder das Vorbild Arnolds in Düsseldorf ermunternd und erschreckend zugleich wirkt. Ministerpräsident Arnold war durch Dr. Adenauer 195'4 gezwungen worden, die große Koalition preiszn-geben und dafür die unsichere Mitarbeit der Freien Demokraten zu wählen. Diese Freien Demokraten haben jetzt im Bunde mit den Sozialisten Arnold gestürzt, weil sie und die hinter ihnen stehenden Industriellen und Rechtskreise eine aktive Wirtschaftspolitik in den Osten hinein wünschen.

Hier kreuzen sich nun die Schwierigkeiten, verdoppeln sich, können sich aber auch entwirren. Wenn es gelingt, bis „morgen“ und „übermorgen“ durchzuhalten, dann kann Westdeutschland im Schutze einer großen Koalition einer langsameren Entfaltung seiner großen Potentiale entgegensehen und dergestalt zu einem der stärksten Faktoren des Friedens und der Stabilität in Europa, ja der ganzen heutigen Welt werden. Das deutsch Volk will in seiner großen Mehrheit in Frieden leben; es will sich auch nicht verführen lassen durch die heulenden Derwische rechts- und linksradikaler Bewegungen. Wenn man von einer „Schuld“ am offensichtlichen Hochkommen subversiver Strömungen und Protagonisten von gestern sprechen will, dann ist diese darin zu sehen, daß sich breiteste Schichten der Bevölkerung, beschäftigt mit dem eigenen Lebenskampf, einfach nicht genug dafür interessiert haben, was hier und dort hinter den Kulissen im Machtkampf vor sich ging. Wobei hinzugefügt werden muß, daß gewisse Bonner Methoden, alle ernsteren lebenswichtigen, politischen Beschlüsse im einsamen Hirn des Kanzlers oder in engsten und intimsten Vertrautenkreisen zu erledigen und oft erst lange nachher der Oeffentlichkeit „mitzuteilen“, hier destruktiv mitgewirkt haben. Wenn heute von wachen und intelligenten politischen Persönlichkeiten über das geringe „Interesse“ an politischen Problemen geklagt wird, dann darf nicht übersehen werden, daß dieses „geringe Interesse“ seit Jahren künstlich gepflegt wurde, nicht zuletzt durch stille und laute Gleichschaltungen der Presse und der Jugend.

Diese mögliche positive Entwicklung zum Morgen hin — wünschenswert, ja ersehnenswert nicht nur in Oesterreich, sondern in allen Lagern der freien Welt — wird nun durch zwei Momente heute gefährdet: durch das Ressentiment der politisch ausgebooteten und nicht zum Zuge gekommenen Kreise und durch das Gefühl, im Westen isoliert zu sein und im Osten keinen „Anschluß“ gefunden zu haben.

Dr. Dehler, der Führer der stärksten bisherigen Koalitionspartei in der Bonner Regierung, begann seine politische Laufbahn als ein glühender Gefolgsmann Dr. Adenauers. Heute bricht in seinen Reden eine hemmungslose Wut durch; wenn er soeben in einer Hamburger Rede das Konkordat Roms mit Hitler als ein „Verbrechen“ Roms darzustellen , versuchte, dann zeigte diese Entgleisung an, wie hier ein klug'er, gescheiter Kopf ins Ressentiment scheitert. Politik aus dem Ressentiment: es gibt in jeder deutschen Partei (auch in der CDU), und dazu in zahlreichen kleinen, aber einflußreichen Kreisen der Wirtschaft und „Gesellschaft“, die im Hintergrund stehen, heute Köpfe und Kräfte, die aus dem Ressentiment heraus leben und handeln (oft ohne es zu wissen und ohne es zuzugeben)! Aus dem Ressentiment gegen den „überheblichen Westen“, gegen Frankreich, England und die USA, wobei Nachkriegserinnerungen 1945 bis 1950 sich mit älteren Fixierungen mischen. Dieses Ressentiment gilt dann im besonderen „Rom“, dem „römischen Katholizismus“, dem „politischen Katholizismus“. Die deutschen Bischöfe haben soeben diese Gefahr erkannt und die katholischen Organisationen vor „Uebereifer“, Machtsucht, Ausbreitung des Funktionärswesens, vor „überheblicher Unduldsamkeit“ gewarnt. Dieser Schritt der deutschen Bischöfe in die Oeffentlichkeit sollte vorbildlich und beispielgebend wirken.zu einer selbstkritischen Erhellung aller verantwortungsbewußten Kreise in Westdeutschland heute. Noch ist es nicht zu spät. Die große Allianz der Enttäuschten, der Ausgeschlossenen und Ausgebooteten, der Gleichgeschalteten zu einer gemeinsamen Front des Ressentiments kann verhindert werden. Es ist wenig getan, wenn man über die zunehmende Radikalisierung in politischen Reden, über die Renazifizierung, über die Schatten der Vergangenheit nur klagt: diese können überwunden werden. Sie müssen überwunden werden, soll Deutschlands Aufbauwerk wirklich gesichert, soll Deutschland als ein Glied und Pfeiler der freien Welt gewonnen werden. Dafür aber bedarf es einiger grundlegender Reformen: Abbau der „Kanzlerdemokratie“, Stärkung der inneren Demokratie in - den Großparteien (CDU und SPD) sowie den anderen Großorganisationen, vor allem in den Kirchen und Gewerkschaften.

Die Vorgänge um den Moskauer Parteikongreß der KPdSU beleuchten eigentümlich grell die*, innerdeutschen Aufgaben: die Führer der Sowjetunion suchen da einen Weg aus dem Schatten ihrer blutigen Vergangenheit. Stalin, und mehr noch, 40 Jahre latenter Bürgerkrieg, Terror und Vergewaltigung sollen von innen her überwunden werden, um nach innen und außen hin die riesigen Kräfte Rußlands neu entfalten zu können Kein nüchterner Beobachter der russischen Vorgänge kann deren Ernst bezweiFein: hier wird dem deutschen Volk und darüber hinaus dem Westen ein gigantischer Versuch vorexerziert, über den eigenen Schatten hinaus-zugelangen. Die Kräfte des Westens sind heute gefesselt durch den Schatten, der jeweils von jedem Volk auf seine Weise überwunden werden muß. Der Schatten Englands und Frankreichs ist imperialistisch und kolonialpolitisch eingefärbt, der Schatten über den USA hängt an der Angst und Ueberhebung von Menschen, die Sick ein „anderes“ Leben nicht Vörstetten können. Die Schatten über Deutschland haben wir uns eben wieder vorgestellt.

Das deutsche Volk steht also, im Kampf mit den eigenen Schatten, mitten in einer weltumgreifenden Entwicklung. Alle Gefahr und alle Chancen positiver Selbstfindung sind durch diese Verknüpfung gegeben.

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