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Der Gang nach Wien

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Es ist fast ein Vierteljahrhundert her, seit zum letzten Male ein Minister einer demokratischen deutschen Regierung in amtlicher Eigenschaft seinen Fuß auf österreichischen Boden gesetzt hat. Das allein ist erstaunlich und bedenkenswert genug, in unserer raschlebigen, rasch reisenden Zeit, in der Diplomaten, auf einen Katzensprung sozusagen, heute in Delhi, morgen in Washington und übermorgen in Moskau weilen. Die Schwierigkeit deutschösterreichischer Beziehungen — sie ist an sich keine Erfindung Hitlers, sondern weit älteren Datums, im näheren mit der Welt von 1918, im ferneren mit der Lage nach 1866, nach König-grätz, gegeben — wird durch diese zeitliche Distanzierung eindrucksvoll dokumentiert. Nach dem Ausfall der Panthersprünge der Zwischenzeit, zwischen 1934 und 1945, zeigt sich eben, daß die Entfernung zwischen Bonn und Wien nicht durch einen Katzensprung zu überwinden ist. Der Gang nach Wien und der Gang Yiach Bonn scheint beschwerlich zu sein, so wie Besuche bei Verwandten es nicht selten zu sein pflegen.

Der Besuch des Außenministers der deutschen Bundesrepublik in Wien findet, nachdem in den letzten Jahren, neben dem Bonner Bundeskanzler, westdeutsche Minister Nord- und Südamerika, den Nahen Osten, Rom, Paris, London und die meisten Hauptstädte der westlichen Welt besucht haben, in einem Moment statt, in dem Westdeutschland und Oesterreich an der Schwelle neuer Schwierigkeiten und Chancen stehen. Werfen wir hier zunächst einmal einen Blick auf die Bonner Situation — nicht etwa, weil wir die Wiener Probleme für leichter und kleiner halten, sondern in der Verpflichtung des Gastgebers, dem Gast den Vortritt zu lassen. Herr von Brentano trägt, weit mehr als die un-wägsame Last der Erinnerungen an vergangene Zeiten, ein sehr genau wägbares Gewicht innerdeutscher Sorgen in seinem Reisegepäck mit sich. Es wäre wenig schicklich, auf diese Last unsererseits nicht Rücksicht zu nehmen. Da ist zunächst die von ihm offen einbekannte Enttäuschung seiner Regierung über die glatte Absage Molotows in Genf, die weitgehenden und sehr entgegenkommenden Vorschläge der Westalliierten bezüglich einer Koppelung der Sicherheit mit der Frage der deutschen Einheit auch nur zu debattieren. Was hinter dieser Absage alles steht, läßt sich im Augenblick, in dem diese Zeilen geschrieben werden, noch nicht absehen. Auch wenn man sich, vom deutschen Standpunkt her, nicht einem Schwarzsehen ergibt, demzufolge die Sowjets getrennt mit Amerikanern, Franzosen und Engländern über einige ihnen wichtig erscheinende Sachen verhandeln wollen, und dann, weiter trennend, die getrennten Deutschen mit den Verheißungen gigantischer östlicher Handels- und Aufbauversprechen bearbeiten wollen, ist die Lage Westdeutschlands wie des ganzen europäischen Westens prekär genug. Die Sowjets haben Zeit und sie haben riesige Räume und Menschenmassen zu ihrer Verfügung und sehen von diesen her mit Interesse auf die heraufsteigenden innenpolitischen Auseinandersetzungen im amerikanischen Wahlkampf und in Deutschland und auf die Wirtschaft der USA und Westdeutschlands, die unter dem Druck der Hochkonjunktur krisenanfällig sind wie vielleicht noch nie zuvor: Krisengefahren, die gemeistert wer-

den können durch kühne und starke Leitung und durch eine Erschließung eben jener Großräume, die ihnen eben noch verschlossen sind.

Damit stehen wir aber bereits im Brennkreis der deutschen Probleme, ohne den der Wiener Besuch des Bonner Außenministers ebenfalls unverständlich ist. Es geht heute primär um die Wirtschaft. Die Wirtschaft ist gegenwärtig ein Politikum allerersten Ranges: Westdeutschlands innere und äußere Situation wird seit Jahren durch eine Erscheinung bestimmt, die man „das deutsche Wunder“ genannt hat. Es ist vielleicht passend, festzuhalten, daß die erste wissenschaftliche Darstellung des deutschen Wirtschaftswunders in einem Buch erschien, das 1927 herauskam. Im damaligen Blick auf die relativ rasche wirtschaftliche Ausweitung Deutschlands um 1-935, zwei Jahre vor dem amerikanischen Börsenkrach von 1929, der bekanntlich den Zusammenbruch des deutschen Bank- und Wirtschaftswesens und den Aufstieg Hitlers mit im Gefolge hatte.

Wir stehen heute wohl nicht vor einem neuen „1929“, dennoch ist die Lage ernst genug und kann nur durch weitsichtige Initiativen gelöst werden. Soeben legte Bundesfinanzminister Schäffer den vom Bonner Kabinett verabschiedeten Entwurf für den Haushaltplan 1956/57 der Oeffentlichkeit vor. Ein Budget von 32,5 Milliarden D-Mark, wobei rund 12 Milliarden für Verteidigungskosten und Besatzungskosten vorgesehen sind. Wenn wir hier die Risiken erwähnen, die Schäffer selbst nennt, als Bedrohungen dieses neuen Etats, dann tun wir das mit dem Blick auf Bonn ebenso wie auf Wien, wo ähnliche Sorgen walten, und nicht zuletzt mit dem Blick auf die künftigen Absprachen zwischen Bonn und Wien. Der Bonner Finanzminister sieht den westdeutschen Staatshaushalt gefährdet durch neun Momente, von denen wir hier einige hervorheben wollen: die Forderungen der Gewerkschaften und Beamtenorganisationen nach weiteren Lohn- und Gehaltsverbesserungen; Subventionen auf dem Ernährungssektor; das Inkrafttreten der Sozialreform; im Bundestag bereits vorliegende Anträge, die einen Einnahmeausfall und eine Ausgabenerhöhung von etwa 3 Milliarden D-Mark verursachen würden; die Kosten für Luftschutz und Atomforschung; der außerordentliche Etat, der aber aus ordentlichen Steuermitteln gedeckt werden soll. — Dieser Haushaltplan konnte nur dadurch ausgeglichen werden, daß wiederum keine Deckungsmittel für den Fehlbetrag des Vorjahres eingesetzt wurden, und er enthält keinerlei Reserven, so daß für Mehrausgaben nicht aufgekommen werden kann. — Einem Fachreferat vor Bonner CDU-Kreisen zufolge muß Westdeutschland ab 1956/57 mit Verteidigungsausgaben von rund 15 Milliarden D-Mark rechnen. Bundeswirtschaftsminister Erhard ist seit Monaten daran, in seinem „Bemühen um eine Bändigung der Konjunktur“, wie er selbst es nennt, Produzenten und Käufer zur Selbstdisziplin zu erziehen und ist fest entschlossen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln eine etwaige Inflation zu bekämpfen, wobei er die schicksalsschwere und hintergründige Feststellung macht: „Sowenig wir eine inflationistische Preistendenz hinnehmen dürfen, sowenig können wir uns auch einen Konjunkturrückschlag leisten.“ Unterdessen

klagen aber, nicht anders als die Wiener, die Münchner Hausfrauen über die empfindlichen Preissteigerungen auf den Lebensmittelmärkten; die größte Zeitung Westdeutschlands behandelt diese Verhältnisse unter der Rubrik „Das traurige Preislied“. Inzwischen hat der Deutsche Bauernverband beschlossen, seine agrarpoliti-schen Forderungen notfalls mit wirtschaftlichen und politischen Kampfmaßnahmen durchzusetzen, seine- beiden Präsidenten haben den Regierungsbeschluß über die Subventionierung des Milchpreises sofort abgelehnt und erklärt, die Milchpreiserhöhung könne vom Verbraucher getragen werden. (Wir sehen, auf Schritt und Tritt befinden wir uns angesichts der wirtschaftlichen und innenpolitischen Auseinandersetzungen in Westdeutschland auch im Angesicht von innerösterreichischen Schwierigkeiten!) Gleichzeitig sprach sich die Urabstimmung der Metallarbeiter an Rhein und Ruhr mit über 86 Prozent für Kampfmaßnahmen, also auch Streik, aus, falls ihren Lohnforderungen nicht entsprochen würde. ■ , ■

Hier gelangen wir, durch die Wirtschaft und ihre Probleme, mitten in die großen innenpolitischen Auseinandersetzungen. Nur wenige Symptome seien hier genannt: die neuerliche Versteifung der Gegensätze zwischen Regierung und sozialistischer Opposition seit dem Genfer Debakel; die Gründung einer christlichen Gewerkschaftsbewegung in Abspaltung vom Deutschen Gewerkschaftsbund; parallel zu dieser Aufspaltung verdienen die Bemühungen um eine Aufspaltung des Deutschen Bauernverbandes Beachtung, wobei Kreise hervortreten, die aus politischen Gründen zum Kampf antreten und einen national-liberalen Bauernverband schaffen wollen, der in manchem dem früheren österreichischen Landbund vergleichbar ist. Der Kampf der großen Interessenverbände, also der verschiedenen Führungsgruppen der Industrie, des Bankwesens, der Landwirtschaft und der Gewerkschaften, ist mit ein Ausdruck der hohen Labilität dieses heutigen westdeutschen Gebildes, das, zusammengedrängt auf einen schmalen Raum zwischen Ost und West, Ausschau hält nach neuen Märkten und nach Gebieten, die ihm Rohstoffe und Absätze bieten können: das Ringen dieser Gruppen verdient weit mehr Beachtung als das dunkle Grollen, das hier und dort aus dem braunen Untergrund vernehmbar wird, das aber hier und dort in hektischen Blitzlichtern an die Oberfläche des heutigen westdeutschen Tages tritt, pittoresk in Nachtszenen, wenn die Reichsjugendführer in SS-Hosen und Langschäftern durch Rüdesheims Gassen ziehen, zur Vorbereitung für den inzwischen abgesagten „Reichsjugendkongreß 1955“; pittoresk noch, wenn ein RAD-Führer an den mit der Hakenkreuzflagge geschmückten Sarg des ehemaligen Reichsarbeitsdienstführers tritt: „Melde gehorsamst: Reichsarbeitsführer, Posten richtig übernommen.“ Makaber wird die Szenerie erst, wenn, wie westdeutsche Blätter melden und mit reichem Tatsachenmaterial belegen, schwer Geschädigte des vergangenen Systems vergeblich seit Jahren um winzige Renten kämpfen, während die Witwe des Henkers von Berlin, Roland Freißler, eine Pension von rund 1200 DM erhalten soll, Freisprüche von Schinderhannesfiguren die freiheitliche Oeffentlichkeit verwirren ... — Diese Phänomene, denen sich eine ganze Reihe verwandter Vorgänge in unserem Oesterreich zur Seite stellen ließen, sind im Augenblick nicht allzusehr beunruhigend; sie werden dies erst in eben dem Augenblick, in dem die Wirtschaft des Westens in eine offen sichtbare große Krise tritt. ; Herr von Brentano kommt also mit einem ansehnlichen Gepäck von Sorgen nach Wien. Hinter ihm liegt Bonn und steht die deutsche Wirtschaft mit ihren Forderungen. — Wir dürfen nun dem deutschen Außenminister versichern, daß auch unsere Sorgen nicht gering sind. Auf vielen Sektoren handelt es sich um die gleichen oder um ähnlich gelagerte Probleme. Wobei für Oesterreich erschwerend ins Gewicht fällt: der kleinere Raum, das kleinere Wirtschaftspotential erhöht nicht selten die Sorgen, macht sie handgreiflicher und dringender. Aus der Bonner Engpaßsituation zwischen Ost und West, angesichts der Zerrissenheit Deutschlands in zwei Teile, die über kurz oder lang miteinander verhandeln wer-

den müssen, mögen die Gesichter in Bonn und' Pankow sich auch noch sowenig einander anpassen, wird vielleicht die Wiener Engpaßsituation verständlich: Oesterreich kann, nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, von 1918 über 1933/34 (Hitlers Weisungen an seine Wirtschaftsführer in Oesterreich, an seine Stammhalter in Schlüsselpositionen der österreichischen Wirtschaft) bis heute, ein gewisses Maß politischer Freiheit und eigenständiger Existenz nur erhalten, wenn seine Wirtschaft frei bleibt und immer noch freier wird. Wir müssen es unseren deutschen Freunden ebenso offen sagen wie unseren östlichen Handelspartnern : die Fragen desdeut-schenEigentumsmögeninBonnals einfache Wirtschaftsan g e.l eg e n-heiten angesehen werden, für Oesterreich sind sie politische, staatspolitische Existenzfragen allerersten Ranges, und es ist die staatsbürgerliche Pflicht jedes Oesterreich er s, sich hier zu einem Standpunkt durchzukämpfen, der eine freie Wirtschaft als Fundament eines freien. Oesterreichs in einem freien Europa als unerläß-liche Vorbedingung aller Freundgespräche mit unserem deutsch.e.n Nachbarn in Wort und Tat bekennt. Jeder österreichische Politiker und gar Staatsmann, der das übersieht oder hintansetzt, verrät nicht nur Oesterreich, sondern auch jenes

freie, freiheitliche, das heißt freiheitsliebende Europa,- um das, sehr behutsam und überaus klug, der,Bonner Bundeskanzler mit seinen französischen Partnern, mit seinen Partnern im Westen ringt, er selbst bedrängt durch' den Sog eines unbedachten Nationalismus, der sich eben wieder seiner staatsmännischen Weisheit entgegengestellt hat, im Kampf an der Saar, um das Saargebiet.

Wenn, wie es einige Soldgänger dieses Nationalismus versuchen. Schlüsselpositionen der österreichischen Wirtschaft in deutsche Hände kommen würden, wäre das, aus der Nahsicht eines deutschen Wirtschaftsmenschen, der, verlockend genug, unseren Erzberg, unsere Fabriken, unser Oel und unsere Wälder besieht, unzweifelhaft ein köstlicher Gewinn. Ein Gewinn aber, den jeder deutsche Staatsmann, der einigermaßen bestrebt ist, in die Ferne zu sehen, und der, über Wien, nach Agram, Belgrad, Budapest, Warschau, Prag, in Osteuropa und den ferneren Osten hineinsieht, als eine Zweifelhafte Gabe erkennen kann. Oesterreich kann, als Mittler und ehrlicher Makler, wenn unabhängig erhalten, Deutschland unschätzbare Dienste leisten; nicht zuletzt als ein Isolierband, das den Weg zum Balkan öffnet, indem es gleichzeitig Kurzschlußaktionen hindert. Die geopolitische Schlüsselstellung Oesterreichs in Zentraleuropa bietet Deutschland eine Fülle von Chancen für Operationen einer freien Wirtschaft und einer freiheitlichen Politik und stellt zum anderen, wenn übermachtet, eine Fülle von Versuchungen, Belastungen und tödlichen Gefahren für das deutsche Volk dar.

Wir müssen also — im Angesicht der Sorgen Bonns und Wiens — Herrn von Brentano um Geduld bitten. Geduld um Oesterreich, Geduld in Oesterreich. Die Fragen des deutschen Eigentums lassen sich, ebenso wie viele andere, nicht erledigen wie ein gordischer Knoten, mit dem sie insoweit Verwandtschaft haben, als sie, wenn nicht richtig gelöst, Oesterreichs Freiheit erwürgen könnten. Die beiden Regierungsparteien sind sich, wie bekannt, nicht einig in der Behandlung einzelner Teilfragen: das ist, wie uns dünkt, ein sinnvoller Streit, denn ein so großes Problem kann nicht über Nacht gelöst werden. Rechte, Anliegen und Interessen deutscher Wirtschaftskreise treffen hier auf politische Anliegen und, im ersten und letzten, auf das Anliegen der österreichischen Unabhängigkeit.

Ein in Oesterreich erscheinendes Organ hat den deutschen Außenminister einen „Sondergesandten der europäischen Vernunft“ genannt. Wohl, ohne es auszusprechen, eingedenk der Tatsache, daß die Bonner Regierung es in den letzten Jahren verstanden hat, mit äußerster Vorsicht und Behutsamkeit Umgang zu pflegen mit ihren kleineren und größeren Nachbarn im Westen, nicht zuletzt mit den Beneluxstaaten, Luxemburg, Holland, Belgien. Wir sehen in diesem Phänomen ein gutes Vorzeichen und begrüßen in seinem Sinne den westdeutschen Außenminister in Wien. Und wünschen ihm einen guten Aufenthalt, ein gutes Verweilen in unserem Lande, das in diesen Tagen und Wochen so viele große und kleine, berühmte und unberühmte Menschen aus aller Welt froh und gern als Gast empfangen hat.

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