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Friede in Österreich

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Das neue, heraufsteigende Jahr ist das erste Kalenderjahr der österreichischen Freiheit. Das in diesen Tagen und Stunden verrinnende Jahr hat Oesterreich eine Fülle von Gaben beschert. Das kommende Jahr wird die erste Bewährungsprobe in einer Reihe kommender Prüfungen sein und zeigen, ob wir die Kraft, den Willen, die Einsicht besitzen, die Freiheit zum Frieden zu nützen.

Wir sind keine Kinder mehr. Also schickt es sich für uns Oesterreicher, nüchtern einzusehen: große Gaben legen große Verpflichtungen auf. Besonders, wenn sie so unerwartet und unverhofft kommen wie die Gaben der österreichischen Unabhängigkeit und „immerwährenden Neutralität“.

Als vor einem Jahr das Jahr 1954 in grauen Winternebeln versank, in denen noch, gespenstisch, die Erinnerungen an den Krieg in Korea und die Schatten des Krieges in Indo-china hingen, überwölbt von der Maske des kalten Krieges, wagte kaum jemand in Oesterreich, vom neuen Jahr 1955 das zu erhoffen, was uns da zukam. Ja, seien wir doch ehrlich: nicht wenige Menschen in Oesterreich fürchteten den Staatsvertrag mehr als sie ihn zu erbitten wagten. Es sei hier, in dieser Stunde, nicht von den zahlreichen Nutznießern der Spaltung Oesterreichs und der Besatzung die Rede, von den Kriegsgewinnern des kalten Krieges auch in unserem Lande. Daß sie nicht zur alles übermachtenden Gefahr werden konnten, verdanken wir der Gunst einer weltpolitischen Stunde der Großmächte und der persönlichen Kühnheit des österreichischen Kanzlers. Wer damals, zuvor, die Gazetten las, das, was man in unserem Lande als „öffentliche Meinung“ kundtat, und etwa in Wien, aber auch in anderen österreichischen Städten, das Treiben der Agenten, der Dienste und Dienststellen dieser und jener Mächte beobachtete, der mochte unserem Lande nichts sehr Verheißungsvolles für das kommende Jahr, 1955, prophezeien.

Die Schar der Kleingläubigen war groß. Und die Chance der Freiheit wird für uns Oester-reicher im kommenden Jahr nicht zuletzt an eben dieser Aufgabe hängen, die gelöst werden muß: es gilt, die Scharen der Kleingläubigen, der Mitmacher, der Sichgehenlassenden, der Mitläufer, zu immunisieren gegen das Treiben von aktivistischen Quertreibern und sie dann zu mobilisieren für den aktiven Aufbau des Friedens in Oesterreich.

Es gelang, kurz vor Weihnachten, den Bemühungen der Regierung und verantwortlicher Kreise in der Wirtschaft und in den Gewerkschaften, die schwere Nervosität aufzufangen, die seit dem Abschluß und der Ratifikation des Staatsvertrages sich weiter Schichten der Bevölkerung bemächtigt hatte. Wer die wilden Streiks, wer den Ton beobachtete, in dem Lohnforderungen, aber auch andere Forderungen vorgebracht wurden, sah mit Sorge: hier wurde mit altbekannten Methoden zum Kampf geschürt, hier wurde der Neid, das Ressentiment, aber vor allem die Unsicherheit ausgemünzt, die viele Menschen befallen hatte, die, auf der Straße und bei Festen und Feiern, einmal einen erstaunlichen und wenig schamhaften Luxus sahen, zum anderen nicht wußten, was unser Land mit seiner Freiheit und Neutralität anfangen werde.

Die durchsickernden Berichte über die Ueber-gabe der Oelfelder an ausländische Gesellschaften und über die Uebergabe der zweiten großen Energie- und Wirtschaftskraft Oesterreichs, unserer Wasserkräfte, ebenfalls an ausländische Gruppen, waren nicht dazu angetan, beruhigend zu wirken.

Hier zeigen sich Dinge, mit denen Oesterreichs Volk im kommenden Jahr sich ernsthaft wird auseinandersetzen müssen: die innere Schwäche unserer Demokratie, besser, der Nichtvollzug der Demokratie und,zum zweiten, die dringende Notwendigkeit, die große, überraschend große Gabe der österreichischen Neutralität und Freiheit mit positivem Inhalt zu erfüllen.

Der Nichtvollzug der Demokratie: ein Aufsatz in der letzten Nummer unserer Zeitschrift hatte bereits, anläßlich des zehnjährigen Bestandes unseres Parlaments, auf die zunehmende Entmachtung des Parlaments hingewiesen; auf die Tatsache auch, daß immer weniger starke Persönlichkeiten in der parlamentarischen Aussprache vor den Augen des Volkes auftreten, weil die Regierungsparteien und die im Hintergrunde stehenden Gruppen es vorziehen, ihre besten und qualifiziertesten Köpfe nicht in die Demokratie, ins Parlament, in die öffentliche Absprache zu entsenden, sondern sie als „Capos“ in den kleinen und kleinsten internen Machtgruppen zu verwenden.

Bei aller Anerkennung der Arbeit unserer Regierungsparteien — und es wird kaum ein publizistisches Organ in Oesterreich geben, das in diesen letzten zehn Jahren, die positive Bedeutung dieser Zusammenarbeit so sehr unterstrichen hat wie „Die Furche“, muß an dieser Wende zum Jahre I der österreichischen Freiheit offen festgestellt werden: unsere Regierungsparteien haben eben in den letzten Monaten begonnen, die bösen Früchte schwachmütiger Taten zu ernten: beide haben oft allzusehr verzichtet, hochgemut und nicht selten hochmütig,innere Demokratie zu üben in ihrer Partei und die Demokratie zu pflegen, zu tätigen in der Heranziehung immer breiterer Volksschichten zur konkreten Mitverantwortung wichtiger Entscheidungen. Das flotte Aushandeln lebenswichtiger Fragen hinter den Kulissen, das geschickte Ausmanövrieren unangenehmer Volksgenossen aus der eigenen Partei und Gruppe, die faktische Unmöglichkeit für jüngere Kräfte, in politische Führungsgruppen einzurücken (in England, den USA und anderen freien Ländern spricht man sich wenigstens über diesen Neid und dieses Mißtrauen der Positionshalter in den Parteien offen aus, bei uns ist selbst das ein Tabu), das alles trägt nun Früchte des Zornes. Während nach außen hin eine erstaunliche Selbstsicherheit von Parteipolitikern zur Schau getragen wurde und noch wird und jede Kritik in goebbelsschem Sinne als „unfruchtbare Miesmacherei“, als „Kritikaster-tum“, wenn nicht als „Verrat“ an Partei, Gewerkschaft, Standesgruppe tatkräftig verfolgt wird, zeigen sich die großen Gehäuse vom Krebs befallen, nicht selten ausgehöhlt.

Das Mißverhältnis zwischen der beanspruchten Macht und Volksvertretung der Volksvertreter und dem oft sehr anderen Willen breitester Be--völkerungsschichten ist in den letzten Wochen und Monaten offenkundig wie selten zuvor ge-. worden. Am sichtbarsten in den Gewerkschaften.

Die Krise der Gewerkschaften ist, nicht nur in Deutschland, eine der ernstesten Krisen der Gesellschaft in der freien Welt. Gerade weil wir als Christen und Demokraten zum Gewerkschaftsgedanken und auch zur Idee der Einheit der Gewerkschaften stehen, müssen wir vermerken: so einfach geht es nicht. Auch in Oesterreich nicht mehr. Das zeigen die Vorgänge dieser Tage, ,nicht nur im Wiener Straßenbahnerstreik: dieselben Gewerkschaftsführer, die der demokratischen Gruppe christlicher Gewerkschafter selbst ein geringes Maß von Mitverfügung und Mitverantwortung nicht zugestehen wollen, dieselben Gewerkschaftsführer, die das Niederkämpfen von zwei, drei Menschen, die aus der Gewerkschaft aus Ueber-zeugung austreten und durch kalten Terror aus ihrem Betrieb vertrieben werden, ironisch, satt, mit unverhohlener Freude vermerkt haben* müssen heute sehen, daß „i h r e“ Arbeiter ihnen ebensowenig hörig sein wollen wie „i h r e“' Aerzte, die sie als Gastärzte oder auch Primarien in drückendsten Abhängigkeitsverhältnissen halten. Die Arbeiter „gehören“ nicht der Gewerkschaft, weder die Arbeiter der Faust noch die Arbeiter anderer Berufe, und die Wähler „gehören“ nicht der Partei, die sie gewählt haben, und das österreichische Volk „gehör t“ nicht seinen Volksvertretern, die sich allzu oft nur einmal in vier Jahren um dieses Volk kümmern, eben kurz vor den Wahlen.

Diese Lehre gilt für alle. Wer die Vorgänge in und um die erste Regierungspartei verfolgt, den Druck agrarischer Kreise, das Tauziehen um Bank- und Kreditpolitik, um die Fragen des deutschen Eigentums und die ausländischen Interessen in Oesterreich, gewinnt kein beruhigenderes Bild als es die Vorgänge im sozialistischen und gewerkschaftlichen Lager hinter und vor den Kulissen bilden. Verantwortliche Männer, die sich dann plötzlich, aber immer wieder, dem schweren Druck dieser und jener internen Gruppe ausgesetzt sehen, können schwerlich an die Oeffentlichkeit appellieren: weder in ihrer Partei noch auch, in ganz ernsten Fällen, an das ganze Volk, da eben das ein Tabu ist, wider die Spielregeln, auf die sie sich selbst festgelegt haben und deren Gefangene sie heute sind: eben alle wichtigeren Fragen „dürfen“ nur im allerkleinsten Kreise von Parteifreunden und Interessengenossen ausgehandelt werden.

Das ist also das erste, was not tut im „Jahre I“: eine Verbreiterung der Demokratie, ein konkreter Vollzug der Demokratie durch die Annahme der Mitsprache und Mitverantwortung breiterer Kreise als es bisher geschieht. Nur dann können nämlich die großen Fragen gelöst werden, denen heute nicht wenige Aemter und Regierungsstellen in einsamem und betretenem Schweigen ratlos gegenüberstehen: die tätige, positive Mitarbeit Oesterreichs in der UNO, in der Weltpolitik, die notwendige energische Aktivierung unserer Kultur- und Wirtschaftspolitik im Nahen und Fernen Osten, nicht zuletzt in Afrika und Südamerika (wo sich heute neue Chancen bieten, wenn man sie zu sehen wagt). Das alles hängt aber davon ab, ob Oesterreichs verantwortliche Männer entschlossen sind, Oesterreichs immerwährendc Neutralität als eine tägliche Ve r p flieh t u h g zum Handeln, unserem Vol k e als eine von jedem einzelnen mitzutragende Arbeit zu präsentieren. Es darf nicht so „weitergehen“ wie bisher, daß etwa zahlreiche Chancen, kulturell gerade in unseren östlichen und südöstlichen Nachbarstaaten aufzutreten, ungenützt oder ungenügend genützt werden, weil sich die Papiere im, Dschungel von Aemtern verlieren und die österreichische Oeffentlichkeit gar nicht erfährt, wie weitgehend heute bereits die Möglichkeiten sind, freie österreichische Kultur und Arbeit jenseits des Eisernen Vorhanget zu zeigen. Seit 191 haben wir, in Oesterreich selbst, eine ganze Reihe von Eisernen Vorhängen heruntergelassen. Es ist hoch an der Zeit, diese zu heben. Da war es zunächst eine innere Abschließung gegen die benachbarten slawischen Völker und Staaten., Man war gar nicht unfroh, diese „unbequemen“ Staatsgenossen, die man-nicht als Volksgenossen befand, losgeworden zu sein. Man nannte sich selbst „national“, auch „österreichisch“ oder „sozialistisch“, weil man kleinösterreichisch (und auch als „Großdeutscher“ in Wirklichkeit kleindeutsch) war und froh schien, die Verantwortung für den Donauraum losgeworden zu sein. Es war auch recht bequem, vielen anderen die Schuld am Gang der Geschichte zuzuschieben und selbst, raunzend, immer mehr zur „Provinz“ zu werden, diesen kleinösterreichischen Provinzialismus jedoch gelegentlich durch Worte ven „abendländischer Verpflichtung“ zu tarnen. Die Lethargie, die Denkfaulheit, eine gewisse sehlafmütige Trägheit waren und sind noch die gefährlichsten Feinde der österreichischen Freiheit und des Friedens in Oesterreich. Dann überläßt man eben das „Machen“ der Politik den „anderen“.

i Die Aktivierung der Demokratie in Oesterreich ist auch aus einem ganz besonderen Grunde ein Erfordernis der neuen Stunde, des Jahres I unserer staatlichen Freiheit: nur ihr kann es gelingen, das heikle Problem der Beziehungen unseres Staates zum Heiligen Stuhl zu lösen. Die letzten Monate und Wochen haben sichtbarst die Ungeduld des Vatikans gezeigt, der auf Anerkennung des Konkordats von 1934 drängt. Diese Schatten fielen auf die Dankwallfahrt nach Rom, und die Verleihung der Befugnisse eines Residentialbischofs an den Kapitelvikar Erzbischof Dr. Jachym zeigte nachdrücklich, daß römischerseits mit einer Ernennung eines Erzbischofs für Wien so lange nicht zu rechnen ist, als diese Kardinalfrage offen bleibt. D*s ist nicht nur für Oesterreich betrüblich, sondern für die ganze freie Welt: die Erzdiözese Wien ist am Rande des Eisernen Vorhanges ein Fenster des Weltkatholizismus. Wenn dieses nur halb besetzt ist, sehen blinde Augen in den Osten. — Nun zeigen aber eben die zehnjährigen Verhandlungen zwischen den beiden Koali-ftonsparteien hinter den Kulissen, daß unsere Sozialisten es nicht wagen, vor ihren Massen die Zustimmung zu dem Wiederaufleben eines Vertrages zu geben, den der von ihnen als Todfeind erachtete Kanzler Dollfuß abschloß. Bine offenere Absprache im Parlament könnte gerade die Politiker der zweiten Regierungspartei entlasten, vor ihren eigenen Wählern, zumal da in einigen wichtigen konkreten Streitpunkten, wie Ehe und Schule, in den Vorverhandlungen bereits gewisse Annäherungen erzielt wurden. Diese öffentliche Aussprache könnte gleichzeitig Rom und der ganzen Welt zeigen, daß es sich hier um eine bitterernste innerpoliti-sehe Streitsache handelt, hinter der nicht mehr und nicht weniger als ein achtzigjähriger Kampf um die Kirche und ihr Verhältnis zum Staat in Oesterreich steht. Dieses Problem muß gelöst werden: im Interesse Oesterreichs, seiner Katholiken und nicht zuletzt im Interesse der Weltkirche — es kann aber heute legitim nur gelöst werden in demokratischer Form, als loyale Absprache zwischen den beiden Trägern der politischen Verantwortung in Oesterreich —, das aber ist wieder nur möglich, wenn unsere Demokratie stärker als bisher in die Oeffentlichkeit geht und zur Sache breitester Volksschichten wird.

Hier schürzt sich der tragische Knoten, der im neuen Jahr nicht durchzuhauen, sondern zu lösen ist: das faktische Ausgeschlossensein breiterer und breitester Schichten von der Mitverantwortung Oesterreichs hat zu viel Unruhe, Ressentiment, Unfrieden geführt und es kleinen

Gruppen, auch von wirklichen Staatsfeinden, ermöglicht, ihr: Spiel zu, entfalten. Der soziale Friede ist dadurch ernsthaft gefährdet worden. Und wird morgen neue Belastungsproben zu bestehen haben. Der Friede ist aber unteilbar: es muß und es kann gelingen, die Preise und Löhne zu stabilisieren, die Konjunktur in Zucht zu nehmen, wenn Arbeitet, Angestellte und Beamte, Kinder, Eltern und Erzieher, Katholiken, Nichtkatholiken und Sozialisten mehr als bisher konkret angesprochen werden, so daß sie es begreifen: dieses kleine Oesterreich k a u n eine Rolle für den Weltfrieden spielen. Jetzt auch sehr öffentlich, in dir UNO und in zahlreichen internationalen Vereinigungen, wie auch durch Veranstaltungen in Ländern des Westens und Ostens, wenn wir, mehr eis zuletzt, Frieden schaffen nach innen hinein. Friede in Oesterreich: das ist die Gabe, die wir der Welt schuldig sind, zunächst im kommenden Jahr 1*56, als Dank für das Unverhoffte, das uns allen zukam in diesem Jahr des Heiles 195$.

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