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Das Tor offenhalten!

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Vier Ströme und vier Sprachen verbinden die Schweiz fast sinnbildlich mit der Welt. Rhone und Rhein. Tessin und Inn fließen jeder in ein anderes Meer, lenken den Blick in- eine andere Himmelsrichtung. Einheimisch sind die Sprachen dreier großer europäischer Kulturvölker, Deutsch, Französisch und Italienisch, dazu kommt das Englisch der Hotellerie. Schon die Betrachtung dieser Umstände zeigt aber, daß die Schweiz nur eine ganz entfernte Beziehung zu der slawischbyzantinischen Welt Osteuropas hat, sie ist also nicht Mitteleuropa, sondern eine bedeutungsvolle Warte am Schnittpunkt Mittel- und Westeuropas und der Mittelmeerzone. Durch ihre ebenso kluge wie wohlbehütete Neutralität und die ragende Höhe ihrer Berge gewissermaßen aus dem unmittelbaren Gedränge der europäischen Politik herausgehoben, beobachtet sie doch mit wachem Auge jedes Geschehen, das irgendwie an sie heranreicht.

Oesterreich grenzt nur mit der Schmalseite der Länderbrücke Tirol-Vorarlberg an die Schweiz. Vielleicht ist dies eine hinreichende Begründung für die Tatsache, daß das Verständnis des Nachbarstaates für unsere Probleme nicht immer ganz dem entspricht, was wir uns eigentlich erwarten oder erhoffen. Für den Durchschnittsösterreicher bedeutet die Schweiz außerordentlich viel. Sie gibt uns ja das Beispiel dafür, welche Geltung sich auch ein kleiner Staat inmitten großer Nationen zu verschaffen vermag. Schon diese Begründung aber sollte uns eigentlich belehren, daß wir bei der Schweiz nicht das gleiche Interesse für uns voraussetzen dürfen. Es ist ungefähr so wie bei einem Operngucker, der auch nicht das gleiche Bild beim Hineinsehen von dieser und von jener Seite liefert.

Wir dürfen auch nicht vergessen, daß Oesterreich zwar schon des öfteren in schwierigen Zeiten Hilfe aus der Schweiz erhalten hat, Grund genug, daß der Name dieses Landes in unserem Bewußtsein mit großen Lettern geschrieben erscheint, aber nicht gerade ein guter Grund, daß die Schweiz auch uns deshalb besonders schätzen sollte. Es kommt dazu, daß Oesterreich schon zeitweise in der Zwischenkriegszeit, vor allem aber in den letzten Jahren, seinen Fremdenverkehr in einer Weise entwickelt hat, der dem traditionellen Fremdenverkehrsland Schweiz unmöglich Freude machen kann. Ein Geschäftsmann, der einem anderen einmal aus der Patsche geholfen hat, wird ja auch nicht jubeln, wenn dieser sich dann zu einem immer weniger zu übersehenden Konkurrenten entwickelt.

Fühlen wir uns von den Schweizern etwas zuwenig beachtet, so erscheint dies angesichts dieser Perspektive durchaus begründet. Es kam allerdings ein Augenblick, wo sich die Lage wenigstens vorübergehend schlagartig änderte. Das war, als nach dem Staatsvertrag die Truppen der Besatzungsmächte abmarschierten. Der Abzug der Roten Armee hätte unsere Nachbarn ja nicht gestört, wohl aber der der NATO- Mächte. Vom Standpunkt der Schweiz aus gesehen, wurde nämlich der schützende Mantel der Westmächte entfernt und nun erwies sich Oesterreich als militärisches Vakuum. Nach Osten hin eine breite Einfallspforte für die geballte Militärkraft des Ostens bietend, war es einem Zugloch zu vergleichen, durch das der rauhe sibirische Wind nunmehr ungehemmt über den Bodensee hinwegpfiff. Zugluft aber wird auch an sonst weniger beachteten Körperteilen als ausgesprochen unangenehm empfunden. Zunächst schien es, als ob der begreifliche Aerger darüber sich mehr gegen Oesterreich als gegen die Ostblockstaaten richtete. Aber in der Straßenbahn schimpft man ja im Winter auch nicht so sehr über die Kälte, die man nicht abschaffen kann, als über den, der die Türe offenläßt.

War Oesterreich damals etwas befremdet, so hat sich die Lage inzwischen wieder beruhigt. Die Schweiz sieht, daß Oesterreich bestrebt ist, nach Kräften seine Neutralität zu schützen, und daß diese in einem kritischen Zeitpunkt respektiert wurde. Das Zugloch ist also für den Augenblick verstopft.

Inzwischen aber lassen neue Entwicklungen ihre Schatten auf die Schweiz fallen. Das schattenwerfende Objekt ist nicht Oesterreich, sondern Deutschland. Und fürchtete man vor einem Jahr Oesterreichs Schwäche, so macht jetzt Deutschlands Stärke den Eidgenossen ein öffentlich kaum eingestandenes Unbehagen. Sicherlich ist man froh darüber, daß Deutschland als solider Quader in die Schutzmauer der NATO-Front eingefügt ist. Aber das gebrannte Kind fürchtet das Feuer. Vor 1945 war im Laufe von hundert Jahren nichts eine solche Gefahr für die Schweiz wie Hitlers Großdeutschland. Man würde es in der Schweiz zweifellos als Ungerechtigkeit empfinden, die Möglichkeit eines neuen deutschen Imperialismus als gegeben anzunehmen. Aber man darf es den Schweizern nicht verübeln, wenn sie an Dinge denken, die sie nicht aussprechen.

Für den Augenblick sieht es allerdings so aus, als ob kein neues Großdeutschland, sondern ein vereintes Europa oder wenigstens ein Rumpfeuropa im Kommen wäre. Noch nicht als Staat, immerhin aber als irgendwie wirksames Gebilde. Da ist zunächst die neueste Rolle Deutschlands in der NATO, ein deutscher General an der Spitze der westalliierten Truppen! Wie weit unterscheidet sich dies noch von einem Auftreten Deutschlands als „Ordnungsmacht“ in Europa? Gewiß, bis dahin ist noch ein langer Weg. Wer aber 1945 gesagt hätte, daß innerhalb von zwölf Jahren Franzosen und Engländer unter deutschem Kommando marschieren würden, wäre als Narr betrachtet worden.

Vielleicht ist allerdings die Frage des Oberkommandos über eine Koalitionsarmee noch die unwichtigste. Schließlich stehen die Franzosen und andere nur so lange unter dem Befehl eines deutschen Generals, als ihre Regierungen zustimmen. Und dies kann sich von einem Tag auf den andern ändern. Wesentlich bedeutsamer ist der wirtschaftliche Zusammenschluß. Man kann ein einheitliches Wirtschaftsgebiet von rund 160 Millionen Menschen nicht von heute auf morgen herstellen, man kann es aber ebensowenig einfach mit einem Federstrich auseinanderreißen, sobald es einmal zusammengewachsen ist. Hier liegt vielleicht der eigentliche Grund des Schweizer Unbehagens. Jüngsthin war das 50-MilIionen-Deutschland in der Lage, dem französischen Nachbar seine Saarinteressen in barer Münze abzulösen. Morgen oder übermorgen wird sich die Trennungslinie an der Elbe als unhaltbar erweisen und dann hat die Welt mit einem 70-Millionen-Detrtschland zu rechnen. Es wäre ein unguter Gedanke, sich vorzustellen, daß dieses 70-Millionen-Deutsch- land freiwillig oder unfreiwillig als selbständiger Faktor zwischen den beiden großen Blöcken stehen würde, es ist aber für manchen Nachbar Deutschlands nicht minder beängstigend, sich diese geballte Kraft als Bestandteil der europäischen Wirtschaftseinheit vorzustellen. Würde neben ihr das Mitbestimmungsrecht der übrigen Teilnehmer noch wirklich in die Waagschale fallen?

Wie immer diese Dinge zu beurteilen sind, sie bieten der Schweiz wenig erfreuliche Seiten. Selber ein kleines Europa oder besser gesagt Westeuropa darstellend, würde sie durch die Einigung des westlichen Europa ihre Funktion verlieren. Noch mehr aber wäre sie wirtschaftlich vor unlösbare Probleme gestellt. Es würde ihr kaum möglich sein, sich wirtschaftlich aus der europäischen Gemeinschaft herauszuhalten, die Teilnahme aber wäre gleichbedeutend mit dem Beginn einer Verflechtung, deren Ende nicht abzusehen ist. Man begreift, daß unter solchen Umständen die Beschäftigung mit allen Problemen Deutschlands von der Schweizer Oeffent- lichkeit um so mehr gemieden wird, als dadurch der Blick auf die übergeordnete Problematik der europäischen Integration oder, als Alternative auf eine neue deutsche Großmacht, zur Notwendigkeit gemacht würde.

Fast zwangsläufig müßte sich unter solchen Gesichtspunkten eigentlich das Interesse der Schweiz dem österreichischen Nachbar zuwenden. Hier ist das Tor noch offen. In der Vergangenheit wurde Deutschland niemals für die Schweiz gefährlich, solange es eine österreichische Großmacht gab. Dem Gleichgewicht der vier Großmächte im Norden, Osten, Süden und Westen verdankte die Schweiz ihren ruhigen Bestand. Nach dem Aufstieg Hitlers hielt vorübergehend die Rivalität der beiden Diktatoren die Tür noch offen. Als Mussolini aber durch die Völkerbundsanktipnen nach dem Abessinienfeldzug auf die wirtschaftliche Hilfe Deutschlands angewiesen wurde, riegelte die Achse Berlin—Rom Europa in der Mitte schon fast völlig ab. Der Korridor von Frankreich über die Schweiz und Vorarlberg-Tirol bildete die einzige West-Ost-Verbindung des Kontinents außerhalb der Kontrolle der Diktatoren. Er war so schmal, daß schon ein Blick auf die Landkarte dazu her-ausforderte, ihn abzuquetschen. Wäre entsprechend gewissen französischen Gedankengängen im Jahre 1946 die Gelegenheit benützt und die Südtirolfrage territorial statt durch den wenig glücklichen Vertrag bereinigt ;worden, so hätte dies für die Schweiz zunächst eine breitere Tür nach Osten geschaffen Die Bedeutung dieses Umstandes wird allerdings erst klar, wenn die Schweizer Selbständigkeit bedroht erscheint.

Freilich ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Frage, wie weit die Tür nach Osten geöffnet ist, sondern auch, welche Kraft bereitsteht, sie tatsächlich offen zu halten, von Bedeutung. Die junge Republik Oesterreich der Zwischenkriegszeit war ein Gebilde, dem man militärisch, wirtschaftlich, territorial, bevölkerungsmäßig und moralisch das Kreuz gebrochen hatte. Durch die folgenden Ereignisse aber ist es klar geworden, daß die Schwäche Oesterreichs die Ausdehnungsbestrebungen der gefährlichen Mächte herausforderte. Zunächst'wurde es von Italien und Ungarn in die Zange genommen und dem Bündnissystem Mussolinis einverleibt. Als Mussolini sich durch die Ueberschätzung seiner Kräfte in das Dilemma eines Fiaskos oder der Partnerschaft mit Hitler hineinmanövriert hatte, müßte er die „Wacht am Brenner" sang- und klanglos liquidieren und Oesterreich abbuchen, wodurch es automatisch dem deutschen Konto zuwuchs. Eingekeilt zwischen Deutschland, Italien und Ungarn, von der Welt im Stich gelassen, hatte Oesterreich keine Chance mehr.

Brachte die folgende Festsetzung Hitlers im Donauraum tatsächlich die Eidgenossenschaft in Gefahr, so könnte die moralische und wirtschaftliche Erstarkung Oesterreichs, die im letzten Jahr sichtbar wurde, eigentlich Genugtuung erwecken. Was aber dann, wenn das gebesserte Verhältnis Oesterreichs zur Bonner Republik zu einer noch weitergehenden Verständigung, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, führen sollte? Die österreichische Neutralität scheint manchen Schweizern noch nicht fest genug verankert, um ihre Befürchtungen zu zerstreuen, es könnte wieder einmal ein SO-Millionen-Block entstehen, ob nun innerhalb oder außerhalb eines geeinten Europa.

Angesichts dieser Gedankengänge, die in der jüngsten Geschichte begründet erscheinen, übersieht man allzu leicht, daß Oesterreichs wahre geschichtliche Aufgabe nur aus dem Blickfeld eines Europas zu verstehen ist, das auch die slawisch-byzantinische Zone umfaßt. Der Eiserne Vorhang hat dieses Europa in widernatürlicher Weise zerrissen. Erst die Ereignisse in' Polen und Ungarn haben gezeigt, daß der Stacheldraht die tausendjährige Vergangenheit nicht 'äüsiütösdÜelP vennlag. Selbstverständlichwät die ffdgėMeftrtijr' über das Aufflammen des Freiheitswillens in Ungarn bei den Eidgenossen ungewöhnlich groß. Und haben wir selbst über der Begeisterung manche realpolitischen Tatsachen nicht klar genug ins Auge gefaßt, so dürfen wir uns nicht wundern, daß dies bei den Schweizern noch viel wertiger der Fall ist. Genau genommen hat ja die ganze Welt — und der rasche Wechsel der Situationen rechtfertigt dies — noch gar nicht darüber nachgedacht, welche Aufgaben die Loslösung der Satellitenstaaten von Moskau brächte.

Steht allerdings dieser Fragenbereich einmal zur Erörterung, dann wird die Schweiz am besten zu würdigen wissen, wie tief Staats- und Gesellschaftsformen verankert sein müssen, um ein festes Fundament eines Volkes und einer zwischenstaatlichen Ordnung zu sein. Es wäre zwar für Oesterreich leicht, sich wenigstens wirtschaftlich einer Europaplanung einzugliedern, es ist aber ein Ding der Unmöglichkeit, das soziale und wirtschaftliche Gefälle zu übersehen, das etwa zwischen Westdeutschland und Ungarn oder Rumänien besteht. Selbst wenn es nicht auf die-Stellungnahme der Sowjetunion ankommen sollte, kann.ein Europaraum nicht über alle Ungleichheiten hinweg geschaffen werden.

Die Völker und Staaten zwischen Deutschland und der Sowjetunion brauchen Zeit und Ruhe, um auf diesem oder jenem Weg ihr Eigenleben zurückzugewinnen, zu festigen und weiterzuentwickeln. Das westliche Europa aber bedarf eines Mittlers und zugleich Bindeglieds, einer Zwischenschaltung, die verhindern soll, daß das hochorganisierte und weitgehend integrierte Wirtschaftsgebilde von 160 Millionen Menschen .den emanzipierten Satellitenbereich einfach erdrückt. Dieser Mittler kann nur Oesterreich sein: Ein freies und starkes Oesterreich, gefühlsmäßig dem Westen verbunden, durch seine Geschichte aber vertraut mit Wesen und Eigenart seiner östlichen Nachbarn. Diesem Oesterreich alle Voraussetzungen zu geben, die seine Aufgabe erfordert, liegt wohl im Interesse ganz Europas. Vielleicht wird, je mehr der Zeitpunkt heranreift, auch die Schweiz ihren Blick weiter nach Osten wenden. Wenn Oesterreich das Tor offenhält, wird sie jedenfalls die geopolitischen Grundlagen erhalten sehen, aus denen sie entstanden und zu ihrer gegenwärtigen Bedeutung gelangt ist.

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