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Österreich in Europa

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Die ganze Schwäche und vielleicht die eigentümliche Stärke Oesterreichs liegt darin, daß es, mehr und anders als die meisten Völker und Staaten Europas, ein historisches Gebilde ist. Seine Räume — es gibt sehr verschiedenartige österreichische Räume, zwischen Neusiedler See, Karawanken, Böhmerwald und dem Rhein (in Vorarlberg) — sind offen nach allen Seiten hin; erschreckend offen. Oesterreich vermag nicht, wie etwa Spanien oder England, in sich zu ruhen, in einer machtvollen, zentrierten Mitte, wie Frankreich, nach allen Seiten hin sich bewahrend gerade im Ausstrahlen. Oesterreich ist, als ein eminent historisches Gebilde, angewiesen auf eine Kommunikation mit seinen Partnern in Nord und Süd, Ost und West. Oesterreich konnte sich deshalb nur behaupten in seinem unabdingbaren Eigenstand, wenn es seine eigenste Potenz entfalten, erschließen konnte in der Kommunikation mit größeren Räumen, mit Europa.

Immer dann, wenn Europa im Zerfallen zu sein scheint, wenn der Atmungsprozeß nicht mehr zu funktionieren scheint, dieses stete Sichbegaben und Empfangen, dann zieht für Oesterreich eine Krise herauf, die seine innere und äußere Existenz zutiefst gefährdet. Einst war diese Kommunikation für Oesterreich gegeben im Verband des Heiligen Reiches, später immerhin noch in der Völkergemeinschaft der Heiligen Allianz, dann der Bildungswelt Alteuropas,.; die bis zunEndesrsten Weltkrieges bestand. ?n“M

Oesterreich war es seit Jahrhunderten gewohnt, seine besten und signifikantesten Repräsentanten aus ganz Europa an sich zu ziehen: seine Heerführer waren Italiener, wie Prinz Eugen und Montecuccoli, Iren und Franzosen, seine Maler und Bildhauer kamen aus Italien, seine Diplomaten und Hofleute aus Burgund, Spanien, Ungarn, Preußen. Politische Führer wuchsen ihm zu aus Sachsen und dem hannove-ranischen Raum; Musiker und Denker aus der slawischen Welt, und aus dem ganzen Umkreis der Romania sowie des deutschen Südwestens.

Der Einsturz der alten Ordnungen Europas hat Oesterreich vielleicht innerlich tiefer erschüttert als viele andere Länder und Völker, die durch die Faktizität ihres äußeren Weiterbestehens sich selbst ihre innerste Gefährdung verdecken konnten: die Frage, von welchem Brot des Lebens leben wir heute und morgen wirklich, wenn die Fassaden eines hektischen Aktionismus, einer fieberhaften Geschäftigkeit nicht mehr halten? — Oesterreichs Dichtung, zwischen Rilke, Kafka, Musil, Broch, Joseph Roth, Trakl, Hofmannsthal ist, ebenso wie das österreichische Denken, zwischen Ebner, Ficker, Wittgenstein, und dem oft übersehenen österreichischen Neopositivismus und Logizismus, ebenso wie die Tiefenpsychologie, die in Europa nur in Wien entstehen konnte, ein überaus angestrengtes, oft fast verzweifeltes Fragen nach den Gründen dieses katastrophalen Zusammenbruchs, und ein sehr waches Befragen aller jener zeithaften Versuche, die sich als neue Ordnung anbieten, anpreisen.

Man versteht im Ausland, gerade im binnendeutschen Raum, dieses Grundanliegen österreichischer Konservativität — der Oesterreicher gehört mit dem Spanier und dem Engländer zu den konservativsten Menschen Europas — sehr selten. Man versteht deshalb österreichische Politik und Geistigkeit nicht, weil man eine notwendige Zurückhaltung, ein Sichzurücktasten zu den ureigensten Quellen mißversteht als Provinzialismus, als „Verhweizerung“, als ein angebliches Sichherausha tenwollen von den großen Verpflichtungen europäischer Lebensgemeinschaft.

Mit großer Sorge beobachtet der Oesterreicher heute alle Versuche, neue Ordnungen Su kreieren, weil er fürchtet, daß sich unter dem Schleier großer Machtballungen und techni-zistischer Operationen 'das ältere Chaos birgt, nur in gewandelter Gestalt. Der Oesterreicher ist heute verhalten, leiser und ernster, als man denkt, zu einer umfassenden Selbstprüfung angetreten — er weiß im Innersten sehr genau, daß eine echte Wiedergeburt der Autorität, des Vaters, von Eliten, eines Klerus, einer europäischen Ordnung davon abhängt, ob die Selbstkritik bis in jene Tiefen vorgetrieben wird, in denen das Heil ruht.

Für den Oesterreicher ist heute Europa keine Frage von Kongressen, von Literaturen — wie glücklich ruhten doch, so war es auf dem Mainzer Kongreß „Europa als Erbe und Aufgabe“ soeben 1955 wieder sichtbar, andere Nationen in ihrem Eigensinn —, für Oesterreich ist Europa, ist eine neue Weltordnung eine Existenzfrage in einem viel unmittelbareren, drängenderen Sinn als für in sich geschlossene große Nationen, Staaten, Völker.

Eben deshalb weiß sich der Oesterreicher heute verpflichtet, sich selbst und seine zahlreichen Freunde und Gegner täglich, stündlich neu zu befragen: Wie sieht eure neue Ordnung wirklich aus? Wie steht es um eure Alternative? Sind sie nicht vielleicht Alternativen des Teufels — werden die neuen Horizonte für uns alle vielleicht erst sichtbar, wenn wir noch viel mehr Geduld, Schweigen, Opfer, langen Atem aufbringen, bis wir es lernen, einander in Europa zu behüten in einem unabdingbaren Anderssein, das am Schöpfungsauftrag selbst hängt?

Grillparzer, Stifter, Rilke, Hofmannsthal (man wage doch nur seine Auseinandersetzungen mit Borchardt und George wirklich zu lesen), Ebner, alle wirklichen Oesterreicher fragen seit mehr als 100 Jahren nach Europa hinein: wie steht es um die Verwaltung der Macht, um die Betreuung des Menschen, um die Erhaltung seiner spirituellen Substanz? Wer übernimmt wirklich die Verantwortung? Wer hütet den Menschen?

Wer schafft konkrete Friedens- und Freiheitsräume, in denen ein Wachsen, eine Geburt, eine Kernreifung möglich sind?

Der Oesterreicher ist bereit, in diesem seinem Befragen seiner Freunde und Gegner, in einem Versuch, sie zu desillusionieren und positiv zu enttäuschen über die Enge ihrer noch unaus-gereiften Positionen, weiter zu gehen als viele andere — wobei nicht übersehen werden darf: Dieses Befragen anderer ist nur ein Teil der Selbstbefragung, der Selbstkritik, der Infragestellung der eigenen Existenz, der eigenen Person auch.

In diesem Zusammenhang beruft sich der Oesterreicher auf seine geschichtliche Lebenserfahrung: Große Gegensätze, Unterschiede und Differenzen können weder durch Kriege noch durch Systeme noch durch Ideologien überwunden werden, sie können aber ausgetragen werden im Leben der Völker, in vielen Generationen, so wie eine Mutter ihr Kind austrägt. Den neun Monaten entsprechen Jahrhunderte im Leben der Völker. Der Oesterreicher ist überzeugt vom Lebenssinn des „Kompromisses“ und des Understatement, sein „Fortwursteln“ entspricht genau der englischen Praxis, weite und differenzierende Räume und Völker zu regieren durch den Versuch, gleichzeitig Rücksicht zu nehmen auf sehr verschiedenartige Menschen, Gruppen, Meinungen.

Das Leben, die Geschichte entziehen sich jedem System — der Oesterreicher kennt deshalb keine Philosophie als Systemphilosophie, kein Staatsdenken und kein Nationalbewußtsein — wohl aber besitzt er eine Musik, eine Lyrik, eine Baukunst (zwischen dem Barock und Adolf Loos und Richard Neutra), eine Psychologie, eine Kunst des Lebens und des Kontaktnehmens; lauter Künste, die darauf aus sind, Unvereinbares zu vereinen, eine Harmonie, eine Symphonie feindlicher und freundlicher Elemente sich schenken zu lassen; und, in dürftiger Zeit, lieber zu schweigen und sich in sich zu sammeln, als aktionistisch zu veräußern, was unveräußerlich ist.

Das Austragen der großen Auseinandersetzungen, die Europa und die freie Welt in der

Zukunft erwarten, kann heil- und sinnvoll nur geschehen, wenn, im Atomzeitalter und in der industriellen Massengesellschaft, neue Formen für diese notwendigen Auseinandersetzungen gefunden werden. Diese werden aber erst ersehen werden, diese neuen Formen, wenn in großer Enthaltung, in schöpferischer Reduktion, durch einen Eingang in die Stille, Tiefe, in den Quellgrund des eigensten Wesens, dieser neu erschlossen wird für die notwendigen Kommunikationen der Zukunft. Der Oesterreicher weiß heute sehr genau, daß er gegenwärtig diesen neuen Kommunikationen in Europa noch nicht ganz gewachsen ist. Er verhält sich deshalb. Noch einmal ist hier auf Spanien Bezug zu nehmen — ein Binnendeutscher, Karl August Horst, hat in seiner „Austria Hispanica“ von seinem Gesichtspunkt her diese innerste Beziehung angesprochen.

Man erwartet heute zumal auch in Westeuropa und Uebersee mit Ungeduld die Erschließung des großen österreichischen Wirtschaftspotentials, seiner Kraftwerke für die westeuropäische Industrie, und seiner Erze und Oele — und bedenkt zuwenig, daß Oesterreichs große Aufgabe für Europa, in Europa auch darin gelegen ist, Substanz zu wahren. Substanz zu bewahren vor dem Prozeß des Verschleißes. Die Zukunft wird zeigen, welche Kräfte Spanien für Europa entbinden kann, gerade weil es in einer eigentümlichen Verwehrung sich jahrhundertelang zurückgehalten hat, nicht nur zurückgehalten wurde.

Wenn Oesterreich nicht verschlissen und nicht zerrissen wird in dem rabiaten reißerischen Verbrauchsprozeß, der heute die industrialisierte Welt, auch im Geistigen und Religiösen, erfaßt hat, dann kann es langsam wieder wachsen, um seine alten Aufgaben, Mittler- und ehrlicher Makler zu sein, in neuen Formen zu übernehmen. Vielleicht geziemt es, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß diese innerste Zurückhaltung, die Verteidigung einer Intimsphäre des Menschen — nur diese kann echte Kontakte reifen lassen — in keiner Weise eine starke wirtschaftliche Produktion ausschließt. Oesterreich hat seine wirtschaftliche Produktion der Vorkriegszeit gegenüber um 273 Prozent gesteigert, das ist ein höherer Prozentsatz als in den meisten Ländern Europas. Der Oesterreicher erliegt aber nicht dem Irrtum, Produktion zu identifizieren mit Produktivität, mit der Schaffung menschlicher Lebensräume und Spielmöglichkeiten und sie nicht zu verwechseln mit Politik oder gar mit Schöpferkraft. — Also läßt sich sagen: Wo es heute laut hergeht, wo Lärm und große Worte sind, da ist nicht Oesterreich, da besteht keine Lebensmöglichkeit für Oesterreich.

Still, leise, verhalten beginnen heute Oesterreicher, ihre alten großen Beziehungen in neuen Formen zu realisieren. Drei Kommunikationen stehen im Vordergrund: 1. Die Beziehung zum binnendeutschen Raum, 2. zum Südosten und zur Slawenwelt und 3. die Beziehung zur Romania.

I. Der Oesterreicher ist ein Mensch, der in vielen Bezügen aus dem binnendeutschen Raum herkommt, diesem aber nicht zur Gänze verhaftet ist. Er hört aufmerksam und sehr wach hinein in diesen deutschen Raum, mit seiner oft bangen Sorge — denken wir an Hofmannsthal. Alle Schwierigkeiten der deutsch-österreichischen Beziehungen wurzeln in der großen Nähe — die Auseinandersetzungen zwischen Verwandten gehören zu dem Heikelsten, was es gibt, nur viel Geduld und Takt kann sie ins Heile retten — und in der eigentümlichen Ferne, die ein Korrelat dieser Nähe ist.

Der Oesterreicher meint oft, Untertöne zu hören im deutschen Raum, die dort der Lärm des Tages überschweigt — und steht selbst betroffen da, wenn er erfahren muß, daß in seinem eigenen Lachen, in seinem Humor, in seinem Singen und Sagen der Ernst, die Träne, das Leid übersehen werden (denken wir an Grillparzer, nicht nur in Weimar, und an Nestroys Auseinandersetzung mit Hebbels Tragizismus). Die Erschließung der sehr starken deutschen Potenz zu einer gewissen Weltfähigkeit und Weltgültigkeit ist für den Oesterreicher eine Existenzfrage — diese Erschließung zu einer neuen Kontaktfähigkeit hängt aber für beide, für den Binnendeutschen wie für den Oesterreicher, an einer neuen, zu erwerbenden Beziehung zur slawischen Welt. In eben dem Maße, in dem es dem binnendeutschen Menschen gelingen wird, eine neue Verantwortung für den slawischen Raum, ein neues Verständnis für die slawischen Völker zu begreifen, wird auch das binnendeutsche Verständnis für Oesterreich wachsen. Der geschichtliche Ansatzpunkt für Deutschland ist klar gegeben: er liegt bei Kaiser Otto III., der den Polenherzog als „Bruder“ und Mitarbeiter annahm, der die slawischen europäischen Völker ebenso wie die Ungarn in einem europäischen Bund von Föderierten vereinen wollte.

2. Für Oesterreich ist die zunächst innere Neugestaltung seiner Beziehungen zum slawischen Südostraum eine Lebensfrage. Ganz oberflächlich ist die Annahme, daß diese nur durch den Eisernen Vorhang verhindert werde. Der wirkliche Eiserne Vorhang ist immer in uns — man vergleiche da Kardinal Costantini auf dem Liturgiekongreß 1953, er sagte das in bezug auf die lateinische Chinamission —; wenn es gelänge, in Oesterreich einerseits, im binnendeutschen Raum anderseits, echte Strahlkräfte zu entbinden, die werbend, im Guten faszinierend, neue Möglichkeiten des Lebens erschließend, sich um das äußere und innere Heil der slawischen' Völker bemühen würden, wäre der äußere Eiserne Vorhang kein primäres Problem mehr.

3. Oesterreich ist in der Vergangenheit tief beeinflußt worden, wie auch der deutsche Südwesten, durch die Romania, durch das Römische, Lateinische, Französische und Spanische. Dieser Romania verdankt es sein Wissen um Maß und Grenze, um den hohen Wert des Mittleren; eine neue Hochschätzung der Vernunft — und damit eine Ueberwindung der Gnosis, des Mani-chäismus, aller Schizophrenien, die in tausend Formen heute hereindrängen nach Europa — das alles wird nicht zu gewinnen sein ohne eine neue lebendige Kontaktnahme mit der Romania.

Ohne sie, ohne diese drei neu zu erschließenden Beziehungen, vermag Oesterreich nicht, sein Eigenstes zu erschließen. Oesterreich ist also, um zum Abschluß dieser Bitte um ein gewisses Maß von Verständnis für den eigenen Weg Oesterreichs zu kommen, in einem erschreckend hohen Maße angewiesen auf eine hohe Einfühlungskraft seiner Partner, seiner Nachbarn. An dieser hat es in den letzten Jahrzehnten nahezu von allen Seiten gefehlt — nicht nur bei Präsident Wilson und Roosevelt, den Machern und Managern der beiden letzten Weltkriege und bei den Besatzungsmächten, die heute ihre Hand auf dieses Land gelegt haben. In dieser Ausgesetztheit — auf den Klippen der geängstigten Machtherren unserer Tage — liegt die große Gefährdung Oesterreichs. Und wohl seine große innere Chance, die eben darin besteht: in sich zu gehen, sich zu sammeln, zu schweigen, wenn andere überlaut reden und allzu rasch handeln. Sich zu bewahren, nicht für sich allein, sondern für jenes Europa, das morgen sein wird und das heute bereits langsam wächst, in vielen Menschen, in vielen kleinen Zellen und ..kleinen Leuten“, die, unverwirrt durch den Theaterdonner der Staatsaktionen, still bleiben und sehr wach. Bereit, anzunehmen, was Gott diesem Lande und diesem Europa hereinschickt auf den tausend Wegen der Geschichte, um darauf zu antworten mit jenen Mitteln und jenen Weisen, die Oesterreich gegeben sind, um dem Norden und dem Süden, dem Osten und dem Westen dienen zu können.

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