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Hauptstadt Europas

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In diesen Tagen weilten auf Einladung der Stadt Wien achtzig führende Publizisten und Chefredakteure der westlichen Welt in der Bundeshauptstadt. Ihnen sollen später Publizisten des Ostens folgen.

Vielleicht erinnert man sich dabei großer Tatsachen der Vergangenheit. Von Wien aus wurde bis tief nach Polen, Rumänien und den Balkan hinein das Schulwesen der erwachenden Völker betreut, ihre nationale Wissenschaft, die Philologie ihrer Muttersprachen und nicht zuletzt ihre Presse aufgebaut. In Wien wurde 1791 die erste serbische Zeitung gedruckt, bereits im folgenden Jahre erschien eine zweite serbische Zeitung; in Wien sind die erste ukrainische und die erste griechische Zeitung (1795. „Ephemene“) erschienen. In Wien ging nicht nur Thomas G. Masaryk, der Begründer des tschechoslowakischen Staates, in die Schule, ins Akademische Gymnasium, in dieselbe Anstalt also, in der Hugo von Hofmannsthal und viele weltbekannt gewordene österreichische Gelehrte ihre grundlegende Ausbildung erhielten, sondern auch viele bedeutende, ja bahnbrechende Geister, die in West und Ost Weltruf erlangten.

„Es wäre ein Fehler, wenn man die Diskussionen um die Wahl einer Hauptstadt Europas nicht ernst nehmen wollte“ Mit diesem • Satz leitet Salvador de Madariaga, der in Oxford lehrende führende Kopf des politischen Liberalismus Westeuropas, in dessen führendem Organ, der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 16. Februar, seinen international vielbeachteten Aufsatz „Zur Wahl der Hauptstadt Europas“ ein.

Salvador de Madariaga prüft da eine Reihe von Projekten, die in dem Vorschlag gipfeln: „Es steht außer allem Zweifel, daß eine Hauptstadt Europas für ganz Europa, für West und Ost, Geltung haben muß. Und wenn man sich einmal diesen Gedanken zu eigen gemacht hat, kann es meiner Ansicht nur noch, eine Stadt geben, die dafür in Frage kommt: Wien.“ Madariaga schließt seine ausführliche Begründung seines Vorschlages dann mit den Sätzen: „Es sollte alles unterlassen werden, was die Wahl Wiens erschweren könnte.- Oesterreich sollte der .District of Columbia' Europas werden. Auf diese Weise würde seine Neutralität in innereuropäischen Angelegenheiten gerechtfertigt und das Problem Wiens, ein Land zu finden, das für eine so große Hauptstadt groß genug ist, würde sich auf eine natürliche Weise lösen.“

Der große Europäer Salvador de Madariaga hat diesen seinen Vorschlag erstmalig schon vor mehr als dreißig Jahren gemacht, in einer Zeit, in der Wien und Oesterreich darniederlagen, überschattet von Elend und Verwirrung, vom Zusammenbruch des Zwölfvölkerstaates. In eben diesem Wien war am Vorabend des ersten Weltkrieges, am 21. Juni 1914, Bertha von Suttner gestorben. Diese große Frau, die Nobel zur Stiftung des Nobelpreises und Carnegie zur Stiftung eines Friedenspreises 1910 angeregt hatte, hat bekanntlich durch ihr Werk „Die Waffen nieder!“, dem an Aktualität nur ihr Buch „Die Barbarisierung der Luft“, 1912, an die Seite gestellt werden kann, die Welt aufhorchen lassen, von Rußland bis Japan, von England'bis Amerika. Ihr Glaube war: „Die Zukunft gehört“der Güte.“ Im letzten Jahr des 19. Jahrhunderts prophezeit

sie: „Das 20. Jahrhundert wird nicht zu Ende gehen, ohne daß die menschliche Gesellschaft die größte Geißel, den Krieg, als legale Institution abgeschafft haben wird.“

Eine verpflichtende Tradition für Wien. Im veraschten und verarmten Wien nach der ersten Weltbrandkatastrophe gründet ein junger Mann die Paneuropäische Union. Ihm bestätigt später ein großer alter Mann Europas, dem sich in diesen Tagen wieder die Augen der ganzen Welt zuwenden,Winston Churchill: He has the right vision. Dieser Mann hat die rechte Schau der weltpolitischen Zusammenhänge.

Diese Schau wächst in Wien, ist hier in einem guten Grunde beheimatet. Für alle Friedenskongresse und weltpolitischen Gipfelkonferenzen sollte als Maxime ein Wort eben dieses, damals in einer so aussichtslosen Sache sich engagierenden jungen Mannes, Richard Coudenhove-Kalergi, gewählt werden: „Es sollen uns alle fernbleiben, die die Bedeutung der Idee verfälschen oder für sich nutzbar machen wollen. Alle Sektierer, Verräter, Spione, Haarspalter, Profiteure und Zyniker. Denn sie werden mit uns so wenig anzufangen wissen, wie wir mit ihnen.“

Der* Hinweis auf Bertha von Suttner und Richard Coudenhove-Kalergi ist wichtig: er zeigt, daß dieses Wien nicht nur in der imperialen Zeit einer Maria Theresia das von Gottsched besungene neue „Rom auf Erden“ war, sondern gerade in schwierigster Zeit immer noch ein Boden war, auf dem ein redliches Denken und Arbeiten für den Frieden wohl gedeiht besser als im Dunstkreis vieler anderer Orte Europas. *

Wenn Oesterreich' sich ernsthaft in einer so ernsten Sache wie der für die Wahl Wiens zur

„Hauptstadt Europas“ engagieren soll, dann muß zunächst einmal daran erinnert werden: Glaubwürdigkeit wird eine solche Bemühung nicht durch Sentimentalitäten und Träumereien finden. Wir sagen außerdem: Oesterreich. Ganz Oesterreich. Stadt und Land müssen sich hier mitengagieren, nicht nur im eigenen Interesse, weil sie, wenn Wien Hauptstadt Europas wird, mitengagiert sind in der Aufnahme der Menschen, die in unser Land strömen. Ganz Oesterreich, das heißt aber vor allem: Regierung und Volk, und das heißt politisch, beide Regierungsparteien. Es ist ein offenes Geheimnis, daß manche schlechtberatene Männer der ersten Regierungspartei etwas scheel auf Wiens Bemühungen um die Wiener Festwochen und um die Olympiade sehen, weil die Regierung der Bundeshauptstadt Wien in sozialistischen Händen ist, so daß parteipolitisch abgeurteilt wird, was staatspolitisch gesehen werden will. Hier sollte doch allen aufgeklärten Freunden Wiens und unseres Landes ein sichtbares Zeichen zu denken geben: Auf dem Rathaus flattert nicht mehr ein Flammenwald roter Parteifahnen, sondern, bei allen festlichen Gelegenheiten, neben der rotweißen Fahne der Stadt die Flagge des Staates.

In jeder westlichen Stadt wäre man „unter sich“. In Paris, in Brüssel, in Straßburg, in Genf. Alle politische Arbeit, Osteuropa betreffend, geht da leicht in schönen Worten, in Rhetorik oder gefährlicher Illusionistik unter.

Wien ist keine Idylle, weil Europa kein Idyll ist, nie gewesen ist. Wer in Wien zum Fenster hinaussieht, etwa von den neuen Villen am Hang des Wienerwaldes, sieht hinüber nach Böhmen, Mähren, Ungarn. Eine Stunde Fahrt mit dem Wagen von Wien aus führt ihn an die

Grenze einer anderen Welt. Stacheldraht, Gerichte, Flüchtlinge. .

Das aber gerade ist die einmalige Atmosphäre des Wien nach dem zweiten Weltkrieg und nach dem Abschluß des Staats Vertrages

Es gibt keinen einzigen Ort in Europa heute, keine einzige Großstadt in Europa, in der alles so sichtbar, spürbar zugegen ist, was Europa heute ist: Wohlstand, ja Luxus, Freiheit befreiter Massen, die sich in einem demokratischen Prozeß der Selbstfindung und Selbstbesinnung aus Jahrzehnten des inneren heißen und kalten Krieges emporgerungen haben und sich heute als weltanschauliche und politische Gegner und Partner gegenseitig die Freiheit garantieren.

* ■

Europa also, einmal als ein Raum politischer Freiheit und als eine eigentümliche Wirtschaftswunderwelt. Europa anderseits als ein Bündel von Angst und — Hoffnung: Osteuropa.

Wien, im Schnittpunkt dieser Angst und Hoffnung gelegen, besitzt nun heute eine Atmosphäre — Madariaga weist in seinem oben zitierten Aufsatz auf die außerordentliche Bedeutung der Atmosphäre eines Umschlagplatzes wichtiger politischer Verhandlungen hin —, wie sie nicht besser gedacht werden kann, für jene heiklen Geschäfte des Friedens und der Freiheit, die in der Hauptstadt Europas auszuhandeln sind.

Diese Atmosphäre macht Wien zur „offenen Stadt“ par e x c e 1-I e n c e, und sie besteht darin, daß man sich hier, im vollen Bewußtsein einer tiefen, lebendigen Verankerung in westlichen Ueberlieferungen politischer und kultureller Freiheit, vom „Westen“ nicht schlechtweg alles erhofft und vor dem „Osten“ nicht allzusehr erschrickt... Innere Freiheit, also Unbefangenheit, als Vor-

Aussetzung redlicher Mittlerdienste: alles das hat Wien zu bieten. Weil es die Wiride, die vom Osten hereinwehen, so deutlich wie die Lüfte aus dem Westen wahrnimmt. Und weil im Oesterreich der Maria Theresia, der Bertha von Suttner, des Coudenhove-Kalergi, im von Hof-

mannsthal angesprochenen „Muttermut“ des Oesterreichers ein großes unerschütterliches Vertrauen beheimatet ist.

Dieses große Vertrauen in den guten Sinn auch der härtesten Verhandlungen ist das wichtigste Kapital, das die Kapitale Europas besitzen

muß. Ein Kapital, ohne das sie immer nur Provinz, im schwachen Sinn des Wortes, sein müßte.

Mehr ist zur Stunde nicht zu sagen. An Volk und Regierung, an Stadt und Land liegt es nun, nach dem Rechten zu sehen.

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