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Randbemerkungen ZUR WOCHE

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Es sind nicht die schlechtesten Federn, die : in der Wiener marxistischen Presse beider Oservanzen zu Hause : sind. Aber an dem Thema „Pater Lom- ; bar di in W ien“ haben sie in bemerkenswerter Weise versagt, Im kommunistischen wie im sozialistischen Zeitungslager fühlte man sich zwar veranlaßt, umfänglich sich mit dem italienischen Jesuitenpater zu be- ' fassen, der in aller Welt und auch von Wien aus den „Kreuzzug der Hiebe“ predigt. Aber ! man hätte sich da und dort nicht mit soviel ; Aufwand von Zeit und Tinte quälen sollen, wenn man nicht mehr zu sagen hatte, als es in dem langen Geschriebe geschah. Da war ein Prediger, der vor Hunderttausenden in diesen Wochen den Reichen, den Mächtigen, den Volksführern und allen für das seelische und soziale Wohl ihrer Mitmenschen Verantwortlichen ins Gewissen redete, so daß es jeder, den es anging, verstehen konnte, er war kein wilder Ankläger, aber ein Wahrheitssager in einem' wirklichen Kreuzzug der Hiebe. Bei allen diesen Predigten, welche die Großstadt bis an ihre Ufer durchfluteten und vor den Lautsprechern der Kirchen Menschen aus allen Ständen versammelten, wurde es zum Ereignis, daß dieser Sprecher die Massen eroberte. Seine schlichten, eindringlich-freimütigen, gütigen Worte fanden sofort den Weg tum Volke, dem es nicht um eine Sensation, eine rhetorische Delikatesse oder um Blitz und Donner zu tun war Doch Stadtrat Dr, Matejka, der an die Adresse Lombardis einen offenen Brief richtete, war mit ihm sehr unzufrieden; warf ihm vor, daß er „die Reichen und die Gottlosen bloß ganz allgemein anschwärzt“, ohne „konkreter zu werden“, weil er ja freilich für die dogmatisch gebundene Dialektik des Kommunismus über „Kapitalismus“ und „Kapitalisten", die Summarien, in die ganze Staatssysteme und Völker pauschaliter eingeschlossen sind, keine Verwendung hatte. Im übrigen ein Brief, nicht sehr ziemlich für den Anwalt eines großen Gedankensystems. — Anders, aber nicht glücklicher, hat sich der sozialistische Polemiker, der gegen Lombardi ausgerückt ist, aus der Affäre ziehen wollen, Der Brief an die Redaktion, ein Schreibtischprodukt, das unter schlechter Wiener mundartlicher Ausdrucksweise Volkstümlichkeit zur Schau trug, war mit. dem Versuch, die Konzerthausrede Lombardis humoristisch zu behandeln, zu einem sehr traurigen Ergebnis, einer Sammlung von billigen Spöttereien gelangt. Das ist blutwenig, allzu wenig für die großstädtische Presse einer Partei, welche große Massen der Bevölkerung vertritt und deren Zeitung in diesem Falle keine Ahnung davon hatte, was auch viele sozialistische Arbeiter dachten und ausspraehen, die in einer der dichtgefüllten Kirchen der Außenbezirke den Kreuzzugsprediger oder auf dem Kin- zerplatz im 21, Bezirk seine Antwort auf die Frage gehört hatten; „Wer ist dein Bruder?“

Es ist wunderlich, Instrumente, welche die öffentliche Meinung ausmaehen wellen, so weit von der Meinung des Volkes entfernt zu sehen. Aber plädieren wir auf Begreifen und Verstehen: Dieser seltsam-schlichte Redner, dessen Hamen vor kurzer Zeit noch nicht viele Wiener gekannt haben, der ein Fremder in dieser Stadt war, wurde plötzlich zum Mittelpunkt einer Volksbewegung, die keine politische war und vor keiner Schranke haltmachte. Derlei hatte die Millionenstadt seit langem nicht. Also wohl ein Rätsel. Nicht für jene, die um. die Macht des christlichen missionarischen Sendungsbewußtseins wissen, aus dem jene waffenlosen Eroberungen der Herzen wachsen, vor denen waffenstarrende Gewalten versagen. Aber ein Rätsel, wie man leider sagen muß, für jene, die aus der parteipolitischen Tretmühle des Denkens nicht heraus können, auch wenn es um viel Größeres und Zeitlos- Gültigeres geht als um das Interessenspiel irdischer Kräfte.

Die zweite Woche im November ist von Erinnerungen aus den letzten 30 Jahren nur allzu schwer. Am 11, November 1913 trat der Waffenstillstand an der Westfront des ersten Weltkrieges ein, am 12. November wurde in Wien die Republik ausgerufen. Die großen Feierlichkeiten, unter denen der damalige Sieg der Alliierten über die Mittelmächte in den Hauptstädten des Westens gefeiert wurde, sollten sehr bald merklich überschattet werden. Zwar ging die Welt an jenem 9. November 1923, an dem der erste Marsch auf die Feldherrnhalle erfolgte, fast achtlos vorbei. Sie überhörte das immer stärker anschwellende, unterirdische Rollen und beeilte sich keineswegs, alles das fortzuräumen, was der noch glimmenden Flamme zur Nahrung dienen konnte.

„Le reste, c’est VAutriehe“, hatte vor 30 Jahren einmal ein berühmter fehlberatener Staatsmann gesagt. Die novembergeborene erste österreichische Republik war zwar mehr als ein Rest. Aber Europa verfiel dann deshalb der Katastrophe, weil man zwanzig Jahre lang Österreich als

Rest behandelt und die Bedeutung dieses „Restes“ für den Frieden Europas nicht begriffen hatte, Die Mächte, die viereinhalb Jahre nach ihrem zweiten Siege in diesem Augenblick noch immer über Österreichs Schicksal beraten, täten im allgemeinen Interesse gut daran, zu beweisen, daß sie gelernt haben.

Zu den Überbleibseln, die uns eine allmählich verdämmernde Vergangenheit hinterlassen hat, gehören die Passierscheine, die man in nicht wenigen öffentlichen Ämtern, Ministerien und Behörden auszufüllen hat, ehe man Erlaubnis zum Eintritt erhält. Die Zeiten, in denen, pst! der Feind mithörte, sind ja wohl vorbei. Aber geblieben ist der Brauch, den Portier zum Vorposten zu machen, der jedermanns Nam’ und Art zu wissen begehrt und ihm mit der Hegitimationskarte gleich die Parole abnimmt. Geblieben sind die kleinen Papierstücke, auf denen die Zeit des Eintritts — auf die Minute genau — vermerkt wird, und auf die der besuchte Beamte Wiederum auf die Minute genau den Abgang des Besuchers verzeichnet. — Scherz beiseite: Unsere Amtsstellen haben nicht Festungen zu sein, in die man nur widerwillig eingelassen wird, nicht Hochburgen des Bürokratismus, die jeden Eintretenden mit Mißtrauen betrachten. Sondern öffentliche Dienstorte.

Nachrichten aus Ungarn besagen, daß die Gattin des hingerichteten kommunistischen Außenministers Laszlo Rajk mit ihrem sechs Monate alten Söhnchen in die Sowjetunion verschleppt worden ist. Es ist nicht lange her, da gab es noch in der Nachbarschaft Ungarns einen wilden Balkan, auf dem in gewissen Gegenden die Blutrache geübt wurde und Rechtswesen und Sicherheit fragwürdig waren. Aber selbst dort, wo es nur die primitive öffentliche Ordnung der Skipetaren gab, bestand für den einsamen Reisenden gegen Gewalt und Räuberei eine Sicherheit: die Begleitung einer Frau schützte ihn. Das war das gültige ritterliche Gesetz der Reehtswildnis. — Ungarn hat nicht zum Balkan gehört; aber heute gelten dort für eine gewisse Ideologie nicht einmal die Satzungen der albanischen Berge. Selbst nicht für wehrlose Kinder. Es gab einmal einen Schattenkönig, dessen Namen die Weltgeschichte vergessen hätte, bände sich nicht an diesen Herodes seit fast zweitausend Jahren die Erinnerung des bethlehemitischen Kindermordes. Man wird auch in fernen Zeiten in Ungarn an die Zeiten denken, wo unter einem politischen System Säuglinge nach Sibirien oder wer weiß wohin verschleppt wurden,

Gerade dann, wenn Kräfte sich umgruppieren, gedeiht häufig die Aussprache. Die Geister scheinen in solchen Zeiten bereiter zum Freimut, der in der starren Front fast aus der Öffentlichkeit verbannt ist. Und doch bedarf die politische Atmosphäre seiner so dringend. Der französische Sozialistenführer Jules Moeh hat in diesem Sinne gehandelt. Als er als designierter Ministerpräsident den ersten Versuch der Neubildung des Kabinetts nach dem Rücktritt Queuilles unternahm, befragten ihn einige Abgeordneten des MRP über die Haltung, die er gegenüber der Frage der katholischen Schulen einnehmen werde. Darauf erwiderte er vor dem versammelten Parlament: „Es ist wünschenswert, daß wir uns als Menschen guten Willens eines Tages zusammensetzen, um. alle die Probleme durchzusprechen, die seitAnfangdesJahrhunderts aufgeworfen worden sind; und daß wir durch gegenseitiges Naehgebenzu einer abschließenden Einigung gelangen würden. Freilich sind zur Zeit viele noch nicht reif für diese Annäherung,“ „La Croix“ hat dazu bemerkt, es sei dies das erstemal gewesen, daß ein sozialistischer Staatsmann die Wirklichkeit des Problems der katholischen Schulen nicht nur zugegeben hatte, sondern auch für dessen Lösung auf dem Wege gegenseitiger Verständigung und nicht einfach einer Beseitigung der religiösen Erziehung eingetreten sei. Das geistige Klima der letzten vierzig Jahre hat gewiß eine grundlegende Wandlung durchgemacht, und dies nicht nur in Frankreich. Der Augenblick der endgültigen Schließung aller der Gräben, auf die der französische Staatsmann anspielte, mag noch nicht gekommen sein, Aber er liegt bereits in Reichweite. Die Erkenntnis dieser Möglichkeit sollte sieh überall Bahn brechen und die Bereitschaft zu den letzten Schritten stärken.

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