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Randhemerkungen zur woche

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„DIE WELT WÄRE GLÜCKLICHER, wenn das menschliche Leben in weihnachtlicher Freude, im Geist der Güte und des Friedens sich vollzöge“, klang es, ergreifender als jemals, aus der Weihnachtsansprache, die der Heilige Vater am Mittag des Heiliger Abends von seinem Leidensbett aus an die Welt /ichtete. h 26 Sprachen strahlte der Vati-kansend-t die Worte aus — zu hören für alle, die guten Willens sind. Millionen hielten den Atem an, als aus dem Munde des schwer leidenden hohen Sprechers selber noch Trost für alle kam, die mit ihm das gleiche Geschick teilen: „Mit besonderer Liebe möchten Wir Trost und Stärke jenen wünschen, für die der Heiland Seine Vorliebe dadurch gezeigt hat, daß Er sie an Seinem Kreuz teilnehmen läßt, allen jenen also, die krank an Leib oder Seele darniederliegen, die mit ihrer Trauer oder mit ihrem LeU allein in der Welt stehen. Opfer der Menschen rder eines harten Geschicks.“ Und dann der erschütternde Satz, der einen Großteil dieser Leiden mildem und mindern helfen soll: „Nicht zuletzt gilt Unsere Botschaft der Güte und des Friedens allen Völkern und deren Herrschern, im besonderen jenen, die in der heute so entscheidenden Zeit die Verantwortung für das Geschick der Erde tragen. Die Botschaft des menschgewordenen Gottessohnes möge sich in der Lauterkeit ihrer Handlungen auswirken.“ Schließlich deutete der Heilige Vater noch an, daß er an der eigentlichen traditionellen Weihnachtsbotschaft noch arbeite und sie nach den Feiertagen veröffentlichen werde. Vatikanische Kreise sind der Auffassung, daß der Heilige Vater darin wieder aktuelle Fragen der Weltpolitik streifen werde. Da Probleme des Friedens und soziale Fragen in den Weihnachtsbotschaften der vorausgegangenen Jahre einen großen Raum eingenommen haben, ist es nicht ausgeschlossen, daß Papst Pius XII. auch in diesem Jahr unter anderem brennende Fragen der Weltpolitik berühren und dabei auch auf das umstrittene Problem der Koexistenz zwischen Völkern und zwischen verschiedenen ideologischen und politischen Auffassungen zu sprechen kommen wird.

EINE INTERESSANTE STELLUNGNAHME von sozialistischer Seite konnten wir vor einigen Wochen festhalten. Damals stellte der Chefredakteur des Zentralorgans der zweiten Regierungspartei eine ernste Ueberlegung über die Werte echter Tradition und demokratischer Repräsentanz an. (Vgl. „Die Furche“ Nr. 50/1954.) Manches wahre Wort wurde dabei gesprochen, was noch vor nicht allzu langer Zeit Horror in den eigenen Reihen erweckt hätte. Heute können wir ein zweites Blatt in die Mappe „Positives aus dem sozialistischen Lager“ einordnen. Diesmal spricht ein Mitglied der jungen Generation, der Grazer Bildungsreferent der sozialistischen Studenten. In einer temperamentvollen Zuschrift an das „Forum“ verwahrt sich die-ser gegen die sachlichen, allzu sachlichen Argumente, mit denen im letzten Heft zwei Nationalräte

— darunter ein Parteifreund — die berühmte Frage der Lebensfähigkeit Oesterreichs bejaht hatten.

„Ja, um Gottes willen, bin ich nur Oesterreicher und existiert Oesterreich nur, weit einige Leute zur Kenntnis genommen haben, daß bei vernünftiger Wirtschaftslenkung jedes Gebiet lebensfähig ist? Leitet sich das Vorhandensein eines Staates und seiner politischen Sendung ausschließlich von ökonomischen Faktoren ab? Sind Nationen nicht historisch gewachsene Einheiten, die durch Tradition, durch gemeinsame Lebensform und Lebensweise, durch spezifische Aufgaben zusammengeschmiedet wurden? Und gibt es denn nicht auch so etwas wie Vaterlandsliebe? ,. . Hier soll keinem mit Fahnen und Emblemen geschmückten österreichischen Chauvinismus das Wort gesprochen werden. Man möchte nur wissen, worin denn unser Bekenntnis zu Oesterreich besteht: worin unsere Jugend ihr Oesterreichertum bekunden und erleben kann-, ob Manifestationen unserer Nationalität auch außerhalb von Fußball- und Skiwettkämpfen möglich sind: und ob man Oesterreich immer nur als eines der gegenwärtig bestfundierten Länder der EZU betrachten soll — oder auch als die Brücke Zentraleuropas zum Südosten, als letzte Bastion der Demokratie im Machtkreis der bolschewistischen Armee, als Kulturberelch, der auch heute der Welt unendlich viel zu geben hat, und als ein Land, an dessen Berge und Wälder, an dessen Städte und Dörfer, an dessen Himmel seine Menschen mit Liebe denken, auch wenn sie fern von der Heimat sind.“ Solche Worte sind gute Worte. Sie erfreuen doppelt und dreifach, da sie aus einem politischen Lager kommen, in dem man — es ist gar nicht so lange her — ausschließlich für eine nebulose „Internationale“ schwärmte und sich bestenfalls für die „Republik“ erwärmte.

DIE ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN BEZIEHUNGEN wurden nach jahrelangem, jahrzehntelangem Stillschweigen ungarischerseits

— man erinnere sich, mit welch verlegenem Schweigen das offizielle Ungarn 1938 dem Anschluß begegnete! — in diesem Monat Gegenstand programmatischer Erklärungen führender ungarischer Politiker. Der stellvertretende Ministerpräsident Andras Hegedüs sprach zuerst Anfang Dezember in Moskau 'iber Oesterreich. In einer Radioansprache am 7. De-ztmber erläuterte er dann den Standpunkt der ungarischen Regierung zu dieser Frage. Am 21. Dezember sprach Ministerpräsident Nagy in Debrecen erneut davon Die weitere Verbesserung der Beziehungen mit einem friedliebenden Oesterreich sei möglich. In den vergangenen Jahren hätte die

ungarische Regierung alles unternommen, um diese Beziehungen zu fördern (sportliche Beziehungen usw.). Die weitere Entwicklung hänge davon ab, welche Haltung Oesterreich gegenüber den Anschlußbestrebungen westdeutscher imperialistischer Kreise einnehme. — Ort und Zeitpunkt der ursprünglichen Hegedüs-Erklärung zeigen nun klar, daß Ungarn (und die Sowjetunion) den Dossier „Oesterreich“ aus der Schublade bloß hervorgezogen haben, um der großen Auseinandersetzung über Deutschland ein weiteres Argument zuzuführen. Einen Sonderfall „Oesterreich“ gibt es für Ungarn ebensowenig, wie es auch keine autogene ungarische Außenpolitik gibt. Diese Erkenntnis ist seit Mitte der dreißiger Jahre leider keine Neuigkeit mehr. Nichtsdestoweniger wäre es aber verfehlt, österreichischerseits nicht auch weiterhin auf eine folgerichtige, auf realer Basis ruhende Verbesserung der Beziehungen hinzuarbeiten. Da bietet sich jedoch dem Betrachter ein eigenartiger Anblick. Während man in letzter Zeit auf Großversammlungen in ganz Ungarn gegen die Pariser Verträge wettert und auf Spruchbändern und in Sprechchören allerhand Wahres und Erdichtetes von einem deutschen Imperialismus und Militarismus erzählt, sitzen im Speisewagen zwischen Wien und Budapest markante Gestalten westdeutscher Provenienz, die nach Budapest fahren, um dort Geschäfte abzuschließen. Ihre Angebote sind, dank der deutschen Kapitalkraft, meist sehr günstig, sie gewähren Kredite, sie könnten auch- warten. Imperialismus und Anschlußgefahr? Hinter den gepolsterten Türen spricht niemand davon. Westdeutschland ist heute daran, Oesterreich auf dem ungarischen Markt — kein allzu großer Markt heutzutage, zugegeben — mit ungarischer Assistenz in handelspolitischer Hinsicht den Rang abzulaufen! Was bleibt, ist die Sparte „Sport-beziehungen“. Hierzu, besorgt um die Auslandsgeltung zeitgenössischer ungarischer Kulturprodukte, fragte ein Autor im Budapester „Magyar Nemzet“: „Warum dürfen nicht auch Komponisten, Künstler, Dichter ins Ausland fahren wie Pitskas und Kocsis?“ Die Frage rührt an einem Problem, das tiefer liegt als das der zwischenstaatlichen Beziehungen. Sie blieb unbeantwortet.

SO RECHT VERWENDBAR WAR ER NIE GEWESEN, der Herr Heinrich von Kleist, das hat schon der altpreußische General von Kotteritz gewußt, der dem milden Liberalen Hardenberg nachdrücklich vor einer Förderung dieses Autors warnte (Anno 1S11). Und nur die aktenkundig vermerkte Tatsache, daß Kleist mit „Tod abjejangen“ sei, schützte ihn vor weiteren Kalamitäten in einem Deutschland, das er mit einer stechend-heißen Haßliebe geliebt hatte. Den Nazis war er auch etwas unheimlich, und die große Aufführung des „Prinzen von Homburg“ im alten Schiller-Theater mit Horst Caspar und Paul Wegener wurde nachgerade zu einer Peinlichkeit, als der „alte wunderliche Herr“ Kott-witz auf offener Szene den Großen Kurfürsten daran erinnerte, daß „der Buchstab seines Willens nicht das höchste Gesetz“ sei ... Nach 1945 wagte man sich überhaupt nicht gern an dieses Drama. „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs“ war weder im Westen noch im Osten Deutschlands eine för-dernswerte Maxime. Nun aber hat es ein sowjat-zonaler Intendant dennoch gewagt: Vorsorglich die Genehmigung des Kulturministers Becher einholend, hat Herr Semmelrogge dieses spröde und in seiner Problematik unverkennbar echte Werk inszeniert. Aber siehe da: Das vor 150 Jahren in diesen gestoßenen, atemlosen Versen verborgene Ekrasit explodierte auch heute noch. Man sprach geradezu von einem 17. Juni des Theaters ... Der Luftdruck dieser Explosion war so stark, daß er den Intendanten bis in die Emigration nach dem Westen schleuderte. Wir wisseH nicht, an welchen Stellen der Funken des Widerstands von den Kleist-Versen ins heutige deutsche Publikum übersprang, zu seiner Ehre wollen wir annehmen, daß es nicht die hohen-zollerisck-prussianischen waren. Wohl aber muß es der überall funkelnde und lodernde Rebellengeist gewesen sein, der mit einem Male den Theatersaal elektrisierte, ähnlich wie es einst mit den Opern Verdis ging, deren harmlose biblische Sujets es nicht verhindern konnten, daß die Italiener des Risor-gimento in ihnen die Ankündigung der Revolution erblickten. Die Sache mit dem plötzlich lebendig gewordenen homburgischen Prinzen steht übrigens nicht allein. Vor wenigen Wochen erst wurde der weniger glückliche Kollege des genannten Intendanten, der Operndramaturg von Dresden, Doktor Günther H an sw al d, zu einer mehrjährigen Haft verurteilt, weil er in den Spielplan der Staatsoper „reaktionäre Tendenzen“ eingeschmuggelt hatte. Das Experiment der Propagandaalchimisten in Sowjetdeutschland, die Nationalismus und kommunistische Linientreue zu einem neuen Element der Eroberung vereinen wollen, endet eben heute immer öfter mit einer Knallgasexplosion, bei der die Retorten zerbrechen und die Stichflammen aufschießen. Man hat nicht ungestraft den Rebellen und Maßlosen vom einsamen Wannseegrab beschworen Ein Ereignis am Rande, aber es bestätigt, daß es einen geistigen Widerstand gibt, ein Freiheitsklima, das die Luft spannungsknisternd macht, auch wenn es sich nur um einen Klassikerabend handelt. Der Dramaturg von Dresden ist eingesperrt, der Intendant von Halle verjagt, was aber ist mit dem Publikum geschehen, dessen Reaktion ja erst den Affront möglich machte? Ist es zu arretieren, zu überführen, zu „fassen“? Oder müssen alle Kulturpäpste nicht in ähnlicher Haltung vor ihm stehen wie die braven Bürger in Nestroys „Lumpazivagabundus“ vor dem schweigenden Schuster Knierim-, der ja auch „nix sagt“ und von dem dennoch behauptet wird: „Der ras o-ni er t inw endig f

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