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Oesterreichs „gefesselte Phantasie“

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Es gibt keine österreichischen Dramatiker — i man behauptet es, man beklagt es, man kann es sogar beweisen. Dessenungeachtet nimmt die dilettantische Produktion überhand. Wer nur einen Monat lang in einer Dramaturgie gearbeitet hat, möchte dafür bürgen, daß allein in Wien weit über hundert „Dramatiker“ am Werk sind und das Leben der Lektoren verkürzen. Und Unzählige hausen in den Ländern, in Kleinstädten, Tälern und Almenhöhen. Man möchte Ferdinand von Saar variieren: „Zittre, du kleines Oesterreich, vor deinen verkannten Poeten!“

Meist sind es Professoren, Aerzte, Pensionisten der Bundesbahn und Witwen, die ein Leben lang die Illusion hochgehalten haben, die Welt brenne darauf, in Blankversen über Hanni-bal oder Erzherzog Soundso aufgeklärt zu werden. Sie kommen bei bestem Willen von den Imperien nicht los, erlauben sich höchstens zage und zähe Aufschwünge in die Gesellschaftskomödie, wobei exilierte Adelige, Ehebrüche, Künstlerschicksale (ein Genie, das an seinem Modell beinah „zerbricht“) und Mutterschmerzen besondere Faszination besitzen. Ein klein wenig Atombombengejammer und Kritik der Diktaturen aus gynäkologischer Familienglücksperspektive erweitern das spärliche Repertoire an Einfällen in Richtung „Zeitproblem“.

Aber es gibt ja eine Handvoll gut beleumundeter, weil aufgeführter Dramatiker, Einäugige unter-BlinrJen.rAuch rrfitIhrer idfeerrftrHe1“kärin1 ein Staat keinen Staat machen. Sie unterscheiden sich von den Amateuren nicht durch die Kraft ihrer Aussage, sondern nur durch den routinierteren Stil. Auch sie paktierten eine Zeitlang mit dem Altertum, dann gingen sie dazu über, „mysteriös“ oder gefällige Phrasoloen oder Alleinunterhalter zu werden. Sie sind bestenfalls das Schlimmste: Mittelmaß. Hochwälder nicht ausgenommen — den übrigens im Ausland dank seiner Reiselust und seiner Schweizer Stammadresse niemand mit Oesterreich identifiziert. Vielleicht ist er deshalb dem Odium, aus einem dramatisch sterilen Gebiet zu stammen, entwischt. Als „Schweizer“ Szenen-Mechaniker ist er den deutschen Theatern lieber, als die fühl-samen österreichischen Dramen-Manipulanten, die vor Bücklingen in die Vergangenheit an der Schwelle zur Gegenwart stolpern.

Sind nun die Aeltesten völlig überflüssigerweise hartnäckig produktiv, und lassen die Dreißig- bis Vierzigjährigen gar nicht merken, daß sie in den besten Mannesjahren sind, sollte man doch wenigstens auf den Nachwuchs hoffen dürfen. Die Jungen und Jüngsten aber (eine Generation, die nicht scheitern kann, da sie nicht aufbricht) scheinen völlig von einer Lähmung befallen zu sein, die den Dichterstarrkrampf in Raimunds „Gefesselter Phantasie“ noch überbietet. So viel ihnen zufällt, so wenig fällt ihnen ein. Aber wehe dem, der dies ausspricht: ihm hallt „Distichons“ Schlachtruf entgegen: „Auf, ihr Brüder hoher Lieder, schlagt ihn nieder!“

So ist man übereingekommen, bei offiziellen Anlässen, bei Kulturtagungen, deren Tätigkeit nur merken läßt, daß sich „nichts tut“, die gläubig Wartenden zu mimen. „Komm uns, Kommender!“ Man werde ihm die Türen offen halten. Doch auch der Mittelmäßige wird sachte gestreichelt. Es könnte ja sein, daß ihn unvermutet ein Funken von den prometheischen Feuern, die anderswo abbrennen, trifft, und ihm ein Stück gelingt, das wenigstens den Intendan-den-Staatspreis rechtfertigt. So erweisen sich jene unerschrockenen Förderer und Gutwettermacher als getreue Gefolgsleute einer klassischen Tradition, deren Ahnherr, Goethe, schon bevorzugt das Durchschnittliche lobte. Einige Optimisten aus echter Begeisterung werden stiller und stiller. Ihre wenigen Paraderösser sind nach den ersten Galopprunden müdegehetzt und müssen vorsichtig gelabt werden. Warum? Wen trifft die Schuld an der Leere der Gehirne, an der Fühllosigkeit der Herzen in unserem gelobten Dichterlande „Flora“? Die Autoren selbst, die Theater oder unser Gesellschaftsleben? Dieses ja, dieses vor allem. Die Autoren und die Theater nur insofern, als sie sich dieser Gesellschaft anschließen, sich ihr unterwerfen.

Ein Blick auf drei Kraftzentren der westlichen Welt, wo heute noch große Dramatik möglich ist, zeigt, unter welchen Bedingungen allein die dramatische Phantasie rege bleiben kann. Sie bedarf entweder der unbeschränkten Freiheit oder der dringlichen Gefahr des Freiheitsverlustes. Das Drama ist seinem Wesen nach antiesoterisch, es lebt aus den Bezügen auf das „Gemeinwohl“, das es zu schaffen oder zu beschirmen gilt. Selbst unter der Maske der Repräsentation erhält es sich kämpferisch, es setzt Opposition voraus. Es ist jedenfalls kritisch in verschiedenartigster Stoßrichtung. In einer klassenlosen Gesellschaft, in totalen Machtsystemen und in Lebensräumen, die vom Konformismus gänzlich destrukfiert sind, muß es zugrunde gehen.

Frankreich gilt als Land der Konfusion, weil sich Ordnungsprinzipien, die ein „gesundes“ Maß an Kritiklosigkeit voraussetzen, dort kaum entfalten können. Es ist indessen auch das Land der konsequenten Verantwortung gegenüber der

Wahrheit, das Land, das den Optimismus bis auf seinen nihilistischen Kern durchschaut, das Land der Humanität im Sinne eines unsentimentalen, dafür tätigen Mitleids, das Land des Dialogs, der Spannungen, der Leidenserfahrungen, in dem selbst die katholischen Dichter besser mit den Versuchungen als mit der Gnade vertraut sind. Auf diesem geschmähten und unbequemen „Par-nasse de la liberte“ sind Dichter und Publikum überzeugt, daß jedermanns Gedanken und Entwürfe zukunftsentscheidend sind. Man ist es sich selbst und der Nation schuldig, diese Meinungen zu kennen und zu prüfen. Das Publikum erwartet von seinen Dramatikern Aufrichtigkeit bis zur Selbstentblößung und vergilt mit aufmerksamster Hingabe.

An diesem Standard der Unvoreingenommen-heit gemessen, befinden sich die Dramatiker der USA in einem Klima merkbarer Freiheitsbedrohung. Die Stabilisierung der Gesellschaft ist nun soweit fortgeschritten, daß sich die ersten Verhärtungen zeigen können. Die Romantik schwindet und mit ihr die Vorherrschaft der männlichen Lebensprinzipien: Wagnis, Wettkampf, Toleranz. Die feminine „öffentliche Meinung“ ist immer unnachsichtig gegenüber der schöpferischen Unruhe, dafür hörig den Sicherheiten. Sie ist voll Angst, da sie Besitz und Beständigkeit erstrebt.

Noch fataler aber wirkt sich aus, daß die

USA als Antwort auf die kommunistische Weltrevolutionsparole eine demokratische Missionspolitik entwickelt haben, deren Dynamik ein ehrliches Koexistenzdenken von vornherein ausschließt und zu scharfer Bereitschaft auffordert. Die abgründige Frage des Sokrates im Pelopon-nesischen Krieg (Krenek: „Pallas Athene weint“), ob man zur Verteidigung der Freiheit die Freiheit zuerst aufgeben müsse, ist von der amerikanischen Leadership mit ja beantwortet worden. Die Demokratie vermöge sich nur dann zu bewahren, wenn sie selbst sich der demokratischen Meinungsvielfalt begibt, sogar gewisse humane Skrupel verdrängt, die ihre Aktionsfähigkeit beschränken. Sie wird demnach zwangsläufig während des Konflikts die Struktur des von ihr bekämpften Systems der Unfreiheit übernehmen. Es ist genau jene Solidarität in der Notwehr, die Lykurg zur Rettung der sinkenden attischen Republik empfahl, als er die exemplarische Tötung des Deserteurs Leokrates durchsetzen wollte.

Da waltet über aller Einsicht und aller Menschenfreundlichkeit ein geschichtlicher Zwang. Und keiner kann voraussehen, ob Maßnahmen, die heute segensreich sind, nicht morgen schon Unheil stiften. Die Frage bleibt offen, wie ein zeitweiliger Freiheitsverzicht sich auswirkt, wenn die „Entwarnung“ auf sich warten läßt. Sondervollmachten und Ausnahmesituationen öffnen der Diktatur die Tore. Alles hängt aber davon ab, daß in solchen Schwellenzeiten das Wissen wach bleibt, wessen man sich aus gutem Grund und zu gutem Zweck entäußert hat, das „Opfer“ muß merkbar bleiben.

Damit sind der amerikanischen Dramatik dringliche Aufgaben gestellt: Sie bleibt wachsam, und aktionsbereit, da ihr Freiheitsanspruch gegenwärtig sehr unbequem und alles andere denn „nützlich“ ist. Die Oeffenrlichkeit scheut nicht einmal davor zurück, sie als Agitation des Feindes zu diffamieren. Sie leistet jedoch durch ihre unzeitgemäßen Proteste dem Lande einen unvergeßlichen Dienst: Sie schützt die Demokratie vor sich selbst, das heißt vor jener Demokratie, die sich selbst schützt.

Die englischen Dramatiker der Gegenwart sind von dieser weltpolitischen Brisanz nur mittelbar betroffen. Besorgt oder zynisch, je nach Temperament und Erziehung, beobachten sie den matteren Flug der Raben um den Tower und setzen zu einer letzten Repräsentation oder zu fanatischen Kanzelreden gegen eine Vätergeneration an, die nicht lernen will, die Zeichen der Zeit zu lesen. Die Verbindungslinien von Fry zu Hofmannsthal, von Osborne zu Bronnen weisen zurück auf eine goldene Epoche unserer Literatur, die der Dramatik noch eine beflügelnde Funktion zubilligte.

Und in Oesterreich — heute? — Eine geistige Indifferenz, die heimtückischerweise mit „Reife“ verwechselt werden kann. Und tatsächlich wird man nicht müde, an in- und ausländischen

Tafelrunden die Reife des österreichischen Volkes lobend zu erwähnen, wenn wieder eine Spannung an klug dosierten Zugeständnissen erstickt ist.

Wir spüren die Folgen einer Ausgleichs- und Gleichgewichtspropaganda, die leider nur zu sehr der eingeborenen Unverbindlichkeit entspricht. Es ist in Oesterreich populär, Konflikten auszuweichen, Gegensätze zu lindern und über Unvereinbares zu schweigen. Und dank dieser Genügsamkeit sind wir weder reich noch arm, weder frei noch eigentlich unfrei, weder klug noch ungeschickt, weder oben noch unten, weder ganz noch gar nichts, sondern wie ein herrlich österreichisches Wort es am besten sagt: „halbert“. Am peinlichsten aber ist: Dagegen läßt sich nicht einmal protestieren, weil auf der Hand liegt, daß dieses liebenswürdige „Volk der Völkchen“ — im Querschnitt gesehen — wirklich damit glücklich ist, daß die Dinge so sind wie sie eben sind.

Die Tradition belastet nicht. Die junge Generation hat sich gut im dezimierten Raum eingelebt, und das ist auch das beste, das sie tun konnte; die Erinnerung an das „Reich“ (ans echte, nicht ans schlechte) würde sie nur unzufrieden machen. Die Aelteren, die nicht vergessen können, daß Anno dazumal österreichische Kriegsschiffe in der Cattaro-Bucht schaukelten, beruhigen sich mit Schadenfreude (Wie gut, daß die Abtrünnigen von 1918 auf den Holzweg geraten sind!), oder mit dem rosigen Zukunftsgemälde eines „Vereinigten Europa“ nach dem Muster der Monarchie.

Sonstige politische Spannungen? — Wir sind neutral und wir sind es wirklich. Man sehe nur, zu welcher Grelle sich die Teilnahme am weltpolitischen Streitgespräch aufputschen muß, da sie fürchtet, nicht beachtet zu werden. Propaganda Anti-West und Anti-Ost hat in Oesterreich keinen Boden, sie ist nicht einmal Boulevard.

Sozialpolitische Erregungen? Rechts und links wären nur mehr akzentuell zu unterscheiden, wenn es in unserer Sprache Akzente gäbe. Bisweilen findet sich noch primitiver, kurzatmiger Kapitalneid, der sich jedoch rasch wie ein schmächtiges Sommerwölkchen in mittleren Wohlstand auflöst. Und die wirklich Unzufriedenen suchen das Weite.

Erotische Leidenschaften werden durch ein Maximum an Gelegenheit entschärft oder enden im Gerichtssaal. Damit fertig. Natürlich eine Anzahl Schwierigkeiten, Ungehöriges, mitunter sogar Skandalöses, da jedoch kein natürliches Problembedürfnis vorhanden ist, vermag nichts dergleichen ein Problem zu werden.

Diese Gesellschaft braucht das Drama so wenig, daß sie es nicht einmal ablehnt. Ueber die „Importe“ erstaunt sie flüchtig: seltsam, daß es so etwas wie „Aktualität“, wie „unversöhnlichen Zwiespalt“, „Tragik“ überhaupt gibt. Ein neu tapeziertes Espresso hat mehr Aufsehen erregt als Camus. Der Umwelt entsprechen dann selbstverständlich die Theater. Es sind „Institutionen“, von denen man die vergnügliche Bestätigung erwartet, daß „alles eins ist“. Kritik nur mit Augenzwinkern, daß es gar nicht nötig sei, sie zu beherzigen, „es geht auch so“. Fürwahr: diese katharrtische Wirkung wird von jedem Brausebad übertroffen.

Alle Rufe nach dem „kommenden Dramatiker“ sind deshalb unehrlich und werden verhallen. Die Theater bedürfen seiner nicht, sie würden sich, wenn er käme, nicht mit ihm identifizieren, und lieber auf ihn als auf das Publikum verzichten.

Die Reaktion der Dichter ist begreiflicherweise Gesellschaftsflucht. Ein Exil hemmt schon den Epiker und Lyriker, aber es sterilisiert ihn nicht. Diese „privaten“ Künste können notfalls ihr Publikum „erfinden“ und auf die „späte Krone“ hoffen. Der Dramatiker dagegen bezahlt jeden Fluchtversuch mit Lähmungen der Phantasie. An Spekulationen auf „Ewigkeitswert“ und „Nachruhm“ geht er zugrunde. Er ist auf das Publikum angewiesen, das er vorfindet, er sucht und braucht den Kontakt — der freilich in Oesterreich ebenso wie die Klausur schädigt. Denn nun gerät er unentrinnbar in einen Aufweichprozeß, der seiner Persönlichkeit die Kanten, seinem Stil die Farbe, seinen Gedanken den Mut nimmt. Es ist, als läge er in einem Säurebad, das ihn schmerzlos zersetz'.

Mit zwei weinenden Augen müssen wir es sagen: Die einzige Förderung der wenigen begabten jungen Dramatiker kann hierzulande nur darin bestehen, sie „ehrenhalber“ zu verschicken. Ohne Ressentiments müßte Oesterreich auf sie verzichten, damit ihr Talent erhalten bleibe. Die Parole „Rette sich, wer kann“ ist hart, unpatriotisch, undankbar — gewiß. Aber, ist sie zu widerlegen?

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