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Für das sprachliche K unstiverk

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Es geht um Europa, das vereint werden soll. Aber, so hört man die Frage, ist es denn nicht schon vereint? Keineswegs.

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Es geht um Europa, das vereint werden soll. Aber, so hört man die Frage, ist es denn nicht schon vereint? Keineswegs.

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Es existiert ja noch gar nicht, dieses Europa, denn unser Erdteil be-ginnt am Atlantik und endet am Ural. Und jedes Volk und jede Nation, die Volksgruppen auch und Minderheiten beanspruchen Rechte. Das dürfen sie ja. Ob man sie ihnen gewährt, ob man das überhaupt kann, ist eine andere Frage. Da geht es natürlich vor allem um Wirtschaft und Umwelt, um Nationales und Nationalismen. Doch machen sich auch, und in wachsendem Ausmaß, Forderungen nach einem gerechten Europa in geistiger Hinsicht bemerkbar. Es gelte, die Eigenständigkeiten sehr differenzierter Kulturen zu schützen, vorweg die Sprachen und deren Literaturen. Sollten denn diese verblassen oder zurückgedrängt und schließlich einer nackten Einheitlichkeit zugeführt werden?

Wir Europäer haben dem Chaos ins Auge gesehn, sehr oft schon, aber Franz Grillparzer, ein Mitteleuropäer par excellence, weiß ganz genau, daß auch das Chaos sich einmal zu Ordnung und Demut entwickelt. Denken wir nur, wieviel sich schon verändert hat, in den Beziehungen Deutschlands etwa zu Frankreich und Polen und vor kurzem durch den in Berlin gefeierten Abschied von den Besatzungstruppen der ehemaligen Feinde. Grillparzers Vision der Geschichte wird allerdings noch dadurch ergänzt, daß er der Auffassung war, es ginge zunächst von der Humanität über die Nationalität geradewegs und unausweichlich hin zur Bestialität, um in der Folge, wie wir feststellen konnten, nach einem leidvollen Zeitraum, zurückzukehren zu Ordnung und Humanität.

DIE KUNST MACHT, WAS SIE WILL

Daraus ergibt sich der Wert und die Notwendigkeit jeder Literatur, des Wortes nämlich, das geschrieben sein will und nicht nur gesagt. Aber das Wort ist in Krise. Es ist der Auseinandersetzung, die im geistig regen Europa vor sich geht, mitunter nicht oder nicht mehr gewachsen. Das hat sich seinerzeit bei Hofmannsthal gezeigt, in seinem „Brief an Lord Chandos“, später bei Celan. Als Österreicher sprachen sie ganz im Sinne Europas. Besonders kraß tritt diese Erscheinung auch in Friederike Mayröckers Dichtung zutage und, auf ironisch-bissige Art, bei Ernst Jandl. Das Leben ist heute oft derart vertrackt, daß auch die Kunst macht, was sie will, wozu sie natürlich das Recht hat. Trotzdem ist sie bemüht - nicht ohne Tragik, versteht sich - das Verworrene, sagen wir ruhig: das Chaos zu überwinden und zwar auf die einzig mögliche Art, indem sie sich tragen läßt von der gewaltigen Strömung der Zeit, nur darauf bedacht, den Kopf über Wasser zu halten. Wem das gelingt, wem der Atem nicht ausffeht. dem wird auch der stärkste der Wirbel nichts anhaben können. Doch wer in Randgewässem sein Heil sucht, der findet zur Kunst nicht zurück. Das hat sich oft schon gezeigt, so etwa im „Sturm und Drang“, aus dem nur die wirklich Großen herausfinden konnten.

In seiner Mitteleuropa-Doktrin hat Friedrich Naumann 1915, mitten also im Ersten Weltkrieg, die Deutschen zur Toleranz aufgerufen, gegenüber den Bundesgenossen und nichtgermanischen Völkern. Hugo Hassinger, der Wiener Geograph und Autor unter anderem des Buches „Geographie der Geschichte“, hat gemeint, daß unserem Mitteleuropa eigentlich die Bezeichnung Vermittlungseuropa zukommen sollte. Während näml’ch die in den Westen drängenden Volxer, sehr früh schon zu Nationalstaaten wurden und dann, aus Landnot, wieder dem Osten zudrängten, woher stets neue Anstürme kamen, oder in den Süden wollten, wo sich alte, festgefügte Kulturen befanden, da mußten die Menschen der Mitte, in ihrer Verzahnung, miteinander auszukommen versuchen, im unermüdlichen Gespräch und ebensolchem Verhandeln. Für die Slawen waren die Deutschen „die Stummen“. Man konnte nicht reden mit ihnen. „Granica“ hin und „granica“ her. Der Streit um den Grenzstein, denn „gran“ ist das Felsstück, der Stein.

Vergessen dürfen wir nicht, daß Churchill - leider zu spät - die Ansicht vertrat, man hätte das Habsburgerreich nie antasten sollen, es wäre das beste Modell für ein geeintes Europa gewesen, lebten doch, und irgendwie friedlich, Völker in dreizehn verschiedenen Sprachen darin.

WAS HEUTE FEHLT, IST GEDULD

Das wäre festzuhalten bei dem Gedanken an ein großes geeintes Europa. Dialog, Verständnis, Verhandeln, Geduld, vor allem aber keine Gewalt. Ja, die Geduld, die Summe dessen, was man an Leiden ertragen und hinnehmen muß, die war für Franz Kafka die Tugend schlechthin. Seine Stimme, wir sollten ihr nachgehn. Auch der Joseph Roths. Sie waren Juden und als solche die hellhörigsten, weil am meisten verfolgten Menschen Europas. Egon Friedell, auch er der Herkunft nach Jude, spricht am Ende seiner „Geschichte der Neuzeit“ von der Möglichkeit einer Gesundung unseres Erdteils. Dabei kommt die Sprache natürlich auf Rußland, das damals ja noch von den Sowjets beherrscht war, und überhaupt auf die slawische Welt, von der er die Rettung Europas erwartet. Sie wäre ein unser Europa wesentlich mitbestimmender Teil. Von einem dem Kommunismus verschriebenen Rußland allerdings wäre nichts zu erwarten, doch sollte es künftig sich als christlich erweisen, dann läge darin die größte Möglichkeit.

So hat es durchaus den Anschein, daß der Zerfall von Machtkomplexen und die Bildung so mancher neuer Nation nicht nur, und ganz allgemein, dem Freiheitsbedürfnis der betreffenden Menschen entsprechen, sondern auch deren Drang, sich auf sich selbst besinnen und dieser Besinnung Ausdruck verleihen zu können, zumindest soweit das jene betrifft, auf die es ankommt: die denkenden Menschen. Piero Rismondo, ein Triestiner, der in Wien gelebt hat und ein bedeutender Schriftsteller war, sagte mir einmal, er unterscheide nur mehr zwischen denkenden Menschen und solchen, die die Fähigkeit des Denkens und den Willen dazu nicht besäßen und deshalb zur Masse gehörten. Diese wäre wohl das Schrecklichste und Hoffnungsvollste in einem. Sie ginge ja den Dingen nicht auf den Grund, sondern ließe sich von ihren Gefühlen bestimmen, griffe höchstens Meinungen auf, die scheinbar leicht verständlich sind, und handle danach. So geht man auch selten von Meinungen ab, die sich einmal festgesetzt haben, vielleicht in der Angst, aus dem Rahmen zu fallen, nicht mehr dabei sein zu können oder gar sich zu schaden.

Wo beginnen also mit der Mission? Die Antwort ist einfach: Zuallererst bei der Sprache. Wir brauchen sie, die uns angeborene Sprache, um zurückzufinden zu uns, um erst einmal denken und dann dieses Denken noch steigern zu können, indem wir uns schreibend darum bemühn. Die Schule also, die uns das Schreiben und Lesen vermittelt. Daran wäre zu denken, und daß die Ausbildung und Auswahl der Träger dieses Berufs mit größter Sorgfalt vor sich gehen muß, in jeder Hinsicht. Familie und Schule. Eine Einheit. In freien Stunden freilich möge der Mensch sich erholen, als ganzer Mensch aber. Vielleicht wird man nicht mehr nur „glotzen“, sondern wieder zu lesen beginnen, wenn die Lektüre nicht langweilig ist, wenn die Autoren, armselig, verbohrt auch, wie manche schon sind, nicht immer nur sich, sondern einen in der Erfahrung des Seins gerechten Menschen erleben.

Da hat es vor kurzem Gespräche gegeben, auf hohem Niveau: Weshalb die deutsche Literatur so langweilig sei und ob das überhaupt stimme. Ich weiß leider nicht, mit welchem Ergebnis. Aber daß man sich an dieses Thema gewagt hat, ist schon bezeichnend und auch erfreulich. Mancher ist pessimistisch. So schrieb mir neulich ein Freund: „Die Steine, der Sand, die können nicht le-sen. Was wird da bleiben, wenn alle Chinesen Autos besitzen und Brasiliens Bäume restlos gefällt sind? Der Neid und die Habsucht werden den Globus bald glattrasiert haben.“

Ich glaube das nicht. Ich glaube vielmehr, daß sich der Mensch zurückholt und Neues gestaltet. Wer schreibt und es ernst damit meint, der weiß, wie schwer das ist. Reden ist leicht. Das können alle, und sie schwätzen auch fleißig dahin, bei Diskussionen, von den Medien gar nicht zu sprechen, am runden Tisch, im Parlament. Wir aber brauchen das sprachliche Kunstwerk. Es ist die eigentliche, die wahre Wirklichkeit. Oder wollen wir unsere Dichter, Erzähler, Theaterschriftsteller einfach verneinen? Wir verneinten damit unser eigenes Leben, könnten uns selbst nicht mehr sehen, nicht erkennen, denn nur ein in heißem Bemühen Gestalt und zum Spiegel gewordenes Wort kann das bewirken.

VIEL VONEINANDER LERNEN

Der Ruf nach kultureller Eigenständigkeit wird also lauter, in jedem Land, trotz oder gerade im Hinblick auf ein vereintes Europa. In d . Vielfalt unseres Erdteils liegt Stärke und Reichtum. Wir haben alle voneinander zu lernen, und unterschiedliche Sprachen sollten kein Hindernis sein. Theodor Haecker hat eigens Dänisch gelernt, um Kirkegaard übersetzen zu können. Wer übersetzt, hat dazu den Vorteil, die eigene Sprache besser kennenzulemen. Manche sind dadurch zu Schriftstellern geworden. Die Kenntnis von Sprachen und vor allem das Leben im Ausland bereichern, ganz ohne Zweifel.

Vor urlanger Zeit gab es fahrende Schüler und Sänger, und Hand-werksburschen wanderten jahrelang in Europa herum. Ein jeder brachte seine Erfahrungen mit. Wenn es auch heute nicht mehr so ist, so sind doch viele auf Arbeitsuche in unseren Ländern, ziehen ihre Familien nach, die Kinder gehen in deutschsprachige Schulen, nicht ohne Vorteil für alle. Manches ist leichter geworden. Schriftsteller, Künstler, Studenten werden finanziell unterstützt. Es gibt Stipendien, die vermehrt und ausgenützt werden sollten.

Ich nehme an, daß Peter Handke viel in Frankreich gelernt hat, daß Erich Fried nur in England groß werden konnte, desgleichen Elias Canetti, der die Fremde gebraucht hat, um seine Zunge zu retten, und Johannes Urzidil kam erst in Amerika zu seinem Erfolg. Man muß voller Zuversicht sein, werin man an die in Europa möglichen Anregungen denkt und weiß, daß so viele am Werk sind. Unter ihnen befindet sich vielleicht auch schon so mancher, auf den es wohl ankommen wird, der auf einmal nach vorn drängt, und andere mitreißt, unter diesen hoffentlich auch zahlreiche I eser.

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