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EIN ÖSTERREICHER IN HANNOVER

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Ich bin in der Zeit, die ich nun in Hannover lebe, öfter gefragt worden: Wie fühlen Sie sich denn eigentlich als Österreicher in Niedersachsen? Wie kommen Sie denn zurecht? Und ich glaubte die Sorge durchzuhören, wie das denn wohl gehen würde.

Nun, ich konnte und ich kann darauf nur antworten: gar nicht so schlecht. Und ich versuchte das, so oft die Frage an mich gerichtet wurde, ein wenig zu erläutern, indem ich, im Sinn des Obengesagten, auf ein paar Eigenschaften hinwies, die meinem Empfinden nacheinander eher glücklich zu ergänzen scheinen, als daß sie sich gegenseitig ausschließen. Es muß auf dieser Welt — vielleicht für jeden Menschenschlag — bestimmte Klimazonen geben, auch außerhalb seiner Heimat, in denen er gut gedeihen kann, die ihm vielleicht sogar behilflich sind, eigene Fehler einzusehen und Schwächen zu überwinden — wie es umgekehrt Landstriche geben wird, in denen er dahinwelken muß. Ich glaube, daß die kühle Luft Niedersachsens eine solche gute Zone für den Österreicher ist, wie ich mich umgekehrt schon öfter zu hören freute, wie gut die Ferienzeit im österreichischen hiesigen Freunden bekommen ist.

Wenn ich nun also den Schattenriß des Niedersachsen und den des Österreichers zu ziehen versuche, so muß ich natürlich mit dem Geständnis beginnen, daß ich nicht viel mehr als drei Jahre hier in Hannover lebe und diese Zeit sehr kurz ist, einen anderen Menschenschlag wirklich kennenzulemen, zumal wenn er so verschlossen und nicht ohne weiteres zugänglich ist wie der niedersächsische. Mir geht es da vielleicht wie dem deutschen Kaufmann in Tokio, der nach zwei Jahrzehnten in Ostasien gestand: „Zunächst verstand ich herzlich wenig vom japanischen Wesen; dann, nach drei Jahren, glaubte ich alles zu verstehen; heute habe ich eingesehen, daß ich noch gar nichts verstanden habe.“

Ich möchte also diesen glücklichen Zeitpunkt des Vertrauens in die eigene Einsicht nützen und mit einer kleinen Begebenheit beginnen. Sie betrifft meine erste Begegnung mit Niedersachsen und verlief nicht sehr ermutigend. Ich hatte im Juli 1948 in Mödling bei Wien das Abitur — oder, wie man dort sagt, die Matura — abgelegt und unternahm anschließend mit einem Klassenkameraden eine mehrwöchige Radtour durch Deutschland. Eines unserer Ziele war dabei der Harz. In einem kleinen niedersächsischen Dorf hatten wir Ansichtskarten gekauft und suchten nun das Postamt, um auch Briefmarken zu erwerben und die Kartengrüße nach Hause zu schicken. Guter Mann, fragten wir einen älteren Bauern, den wir da auf der Straße trafen, gibt es hier in diesem Ort ein Postamt? Unsere Frage muß ihn offenbar gekränkt haben. Glaubt Ihr, sagte er, es ist bei uns so wie bei euch in Bayern, daß es hier keine Post gibt? Wir sind aber gar nicht aus Bayern, wagten wir zu widersprechen. Dann seid ihr Österreicher, sagte der Mann. Das ist noch viel schlimmer. Das war für uns, die wir noch im eitlen Glauben befangen waren, wir müßten als Österreicher überall besonders herzlich willkommen sein, eine herbe Enttäuschung. Ich weiß nicht, dachte dieser alte Bauer, als er sein finsteres Verdikt sprach, an jenen Mann aus Braunau, der es in Österreich zu nichts als dem Obdachlosenasyl gebracht hatte und darum nach München ging, um dort seine schreckliche Karriere zu beginnen, und war deshalb Österreich gram, oder war er umgekehrt von jener unangenehmen nationalen Färbung, die meinte, das Großdeutsche Reich hätte den Krieg schon gewonnen, wenn nicht die schlampigen Österreicher alles vermasselt hätten. Wie immer. Ich habe es jedenfalls noch öfter erlebt, daß die Gestalt des Österreichers im Norden Deutschlands vor allem in den sozial unteren Schichten hinter der robusteren, vierschrötigeren und grobschlächtigeren des Bayern verborgen bleibt, was zu Vermengungen des Charakterbildes führen kann, die der vitale Bayer wohl ebenso entrüstet zurückweisen würde wie der empfindsame Österreicher. — Und im übrigen, so fuhr unser offenherziger Bauer fort, haben wir nicht eine Post im Ort, sondern zwei. Das war mehr als wir erwartet hatten. Es stellte sich freilich bald heraus, daß das Dorf nicht zwei Postämter, wie wir der sibyllinischen Antwort entnehmen zu dürfen glaubten, besaß, sondern nur zwei Briefkästen, die uns n^mgels Marken im Moment aber nichts nützen konnten. L

Die Charakterisierung, die der Niedersachse am häufigsten mit dem Österreicher verbindet, ist die eines Menschen, der im Augenblick lebt. Wahrscheinlich trifft sie einen zentralen Zug des Österreichers. Österreich ist wirklich das Land, wo man im und für den Augenblick lebt, den Augenblick mit beiden Händen ergreift und genießt. Das bestimmt zum Beispiel auch sein Verhältnis zur Kunst. In Österreich blühten von jeher die Künste am stärksten, die sich genießen lassen, Oper und Theater. Oper und Theater, das bedeutet: ein festlicher Abend, ein paar Stunden, für die man sich schmückt, Stunden gesellschaftlicher Begegnung und Stunden gesteigerten Daseins im Aufnehmen des Schönen, in der Kommunikation und in der Konsumtion, im geistigen Genuß. Wichtiger als das Stück, das gespielt wird, sind die Darsteller, die auftreten; und beinahe ebenso wichtig ist, wer heute gekommen ist, sie zu sehen, und wer nicht und warum. Die bildende Kunst, die sich nicht wie Theater und Opemabend in einer Stunde festlicher Inszenierung konsumieren läßt, hat es in Österreich immer schon schwerer gehabt, vor allem die Kunst unseres Jahrhunderts, die dem Gefühl so viel weniger entgegenkommt als noch die Kunst von Barock und Biedermeier; die geistige Auseinandersetzung verlangt das intellektuelle Verstehen ebenso wie das geschulte Auge. Das sind Dinge, die dem Österreicher weniger liegen. Hier wird er es seltener zu wirklicher Kennerschaft bringen als etwa in der Frage, ob Oskar Werner oder seinerzeit Fred Lie- wehr diese oder jene Nuance in der Rolle des Don Carlos an der Burg richtiger interpretiert habe oder gar der unvergessene Girardi.

In dem Sinne, in dem man in Österreich für den Augenblick lebt, lebt man hier in Niedersachsen für die Dauer. Man wird in der bildenden Kunst die intellektuelle Auseinandersetzung nicht scheuen, ist überhaupt der Moderne, nicht nur der modernen Malerei, in ungleich größerem Maße aufgeschlossen als der Österreicher. Das, was man nicht versteht, lehnt man nicht von vornherein ab, man versucht vielmehr, ihm auf den Grund zu gehen. Man fühlt sich verpflichtet, zu lernen, sich fortzubilden, sich Wissen anzueignen, denn Wissen ist ja Macht. Man möchte up to date sein, etwas, was dem Österreicher herzlich gleichgültig, ja, im tiefsten Sinne verdächtig ist. Albert Paris Gütersloh hat das einmal sehr schön formuliert: „Die hiesige Rückständigkeit entsteht ja aus der dauernden Sättigung durch Bewältigenmüssen der Relikte aller vorigen Generationen. Es ist also gar nicht die Angst vor dem Neuen, welche den Ekel vor der jetzt gekochten Mahlzeit hervorruft, sondern die währende Stillung des Appetits durch das Alte.“

Wo sich hierzulande die Volkshochschulen mit grimmigem Ernst aller möglichen Probleme annehmen, finden in Wien bestenfalls Stadtbesichtigungen, Reiseberichte mit Farbdias, Sprachkurse und Bastelstunden statt. Dem Bildungsbedürfnis, ja der Bildungsbeflissenheit, die man im norddeutschen Raum auch bei einfachen Menschen finden wird, entspricht in den gleichen Schichten des Österreichers, nicht etwa nur beim Herrn Karl, wie ihn Qualtinger gezeichnet hat, weitgehend der Ignoranz — und einem gewissen Stolz darauf, es nicht nötig zu haben, derlei Dinge zu wissen oder zu lernen; wie man anderseits in den gleichen einfachen Volksschichten in Österreich oft in einem Maße Herzensbildung, Taktgefühl und Lebensweisheit finden kann, das vielleicht ohne Beispiel ist. Einen Satz wie „Wissen ist Macht“ wird man in Österreich ebensowenig verstehen wie „Zeit ist Geld“. Was ist Macht, was ist Geld? Wissen ist noch lange nicht Eros, Eros — im höchsten Sinn — verlangt immer die ganze Persönlichkeit, nicht bloß den Machtträger. Und Geld ist noch lange nicht Reichtum, Zeit kann ein viel kostbarer Besitz sein.

Des Österreichers liebstes Studium ist er selbst, das einzige, was er zu lernen immer bereit ist, sein Österreicher- tum; wir können es deutsch mit savoir vivre. wiedergeben oder übersetzen als die Kunst des Möglichen. Nicht umsonst spricht man vom gelernten Österreicher, um ihn vom bloß geborenen Österreicher abzuheben. Man lernt, indem man lebt, und indem man lebt, lernt man zu leben. Man lernt, um zu leben, nicht andersherum. Der gelernte Österreicher, das ist der durch Erfahrungen, durch Rückschläge weise gewordene Mensch, der sich auch über das seltsamste Ereignis nicht mehr wundern, auch über das Widrigste nicht mehr aufragen wird, sondern es ohne Anstrengung einzubeziehen vermag in einen Kosmos hierarchisch geordneter Seltsamkeiten und Widrigkeiten, deren äußerster Wert immer die menschliche Seele bleiben wird. Ich muß nicht betonen, daß die Psychoanalyse eine österreichische Erfindung ist, daß Freud, Breuer, Feuchtersieben, Weininger und auch jener Sacher-Masoch, nach dem der Masochismus benannt wurde, Österreicher waren, idrinuß Sie nicht an die klinische Schärfe des Menschenbildes eines Nestroy, Schnitzler, Kafka oder Musil erinnern.

Dem Wiener (und wenn ich jetzt vom Wiener spreche, so nenne ich ihn stellvertretend für den Österreicher, als seine ausgeprägteste Verkörperung, ohne mich um die zu erwartenden Proteste des Oberösterreichers, des Steiermärkers, des Salzburgers, des Kärntners, des Tirolers oder gar, am heftigsten, des Vorarlbergers zu kümmern, die ja bekanntlich alles, was von Wien kommt oder mit Wien zusammenhängt, nur mit äußerster Skepsis verfolgen), dem Wiener also geht es — vielleicht aus einem tiefen Gefühl für die Vergänglichkeit des Irdischen, vor allem der eigenen Zeit — um den erfüllten Augenblick, dem Niedersachsen in contrario um das Bleibende, um Dauer. Möchte der Österreicher Kunst erleben, so möchte der Niedersachse sie bewahren, der Freude am Genuß entspricht die Freude am Besitz, dem Stolz auf das, was man ist, steht der Stolz auf das, was man geworden ist und was man erworben hat. gegenüber.

Nirgends wird das augenfälliger als im Sammeln von Kunst. Wenn, was heute so häufig nicht mehr ist, jemand in Österreich Bilder sammelt, so spielt dabei neben der Sammlerleidenschaft, der Lust an bestimmten Bildern, dem Wunsch, sie ständig um sich zu haben, meist auch das soziale Moment eine Rolle, das Bestreben, einzelne Künstler zu fördern, ihnen zu helfen, ihre materielle Existenz zu erleichtern, und auch die Staatspreise wurden lange Zeit der offiziellen Leseart nach an zugleich würdige und bedürftige Künstler vergeben. Kunstförderung und Künstlerfürsorge sind Bereiche, zwischen denen man hierzulande reinlicher zu scheiden weiß als in Wien, wo unaufhörlich Persönliches mit Sachlichem vermengt wird und nicht mehr zu trennen ist.

Bleiben wir noch einen Augenblick bei den Bildern. Der Österreicher wird über Kunst in der Regel spontan urteilen, er wird sich nur fragen: Macht es mir heute Vergnügen, dieses Gemälde anzuschauen oder nicht? Er fürchtet nur eines: Langeweile. Was ihn langweilt, mag zwar Kunst sein, aber es beschäftigt ihn nicht weiter, er gibt sich nicht damit ab. Der Niedersachse dagegen wird viel eher fürchten, rückständig zu sein; diese Furcht ist vielleicht ebenso groß wie die andere, einer vergänglichen Mode anzuhängen. Zwischen Scylla und Charybdis urteilt er selten spontan, hält eher mit seiner Meinung zurück, überlegt, wartet ab, wägt. Er fragt: Ist das auf der Höhe der Zeit? Und dann: Wird das dauern? Bleibt das? Hat das Zukunft? Manchmal scheint es mir fast, er fürchte sich davor, daß ihm etwas gefallen könnte, was nicht Bestand hat, was sich nicht halten wird, so daß in 50 Jahren vielleicht seine Enkel sagen könnten: Da hat sich der Großvater aber geirrt! Da hat ihm etwas gefallen, mit dem man heute nichts mehr anzufangen weiß, was zum alten Eisen gehört.

Es kann hier passieren, daß Besucher einer Ausstellung sagen, ja, vor drei Monaten, da haben wir da oder dort eine phantastische Ausstellung gesehen, das war eine großartige Sache! Das schließt keinen Tadel für die gegenwärtigen Bilder ein, das ist nur das Urteil letzter Instanz über die ihnen vorangegangenen. Der Rheinländer dagegen — und ich wage damit eine weitere Differenzierung — ist rasch begeistert, findet einen neuen Künstler wunderbar, stellt ihn hurtig neben Picasso oder neben Nay und hat ein halbes

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