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Digital In Arbeit

Gebratene Tauben

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Das Verhältnis des Wieners zu seiner Arbeit ist problembeladen, seltsam gebrochen und Mißverständnissen ausgesetzt. Wien ist nun einmal der Süden vom Norden, und da ist vielerlei anders, schon gar, wenn es um die unleugbare Tatsache geht, daß der Mensch, um als solcher existieren zu können, einiger Anstrengungen bedarf. Für den hohen Ernst, mit dem man ein paar Breitengrade weiter nördlich das Arbeitsethos umgibt, erntet man hierzulande nur verständnisloses Kopfschütteln. Aber man lasse sich davon nicht irreführen! Die Behauptung, man könne Wien nicht ernst nehmen, haben die Wiener selbst in Umlauf gesetzt, um ernstgenommen zu werden. Man hat es ihnen gerne geglaubt. Und eben deshalb ist man ein wenig skeptisch, wenn im Zusammenhang mit dieser Stadt so unwienerische Wörter wie Produktivität, „efficiency“ oder „Management“ fallen.

Diese Lektion in Neo-Amerikanisch hat man inzwischen auch an der Donau bereits hinter sich gebracht. Es ist schon eine gute Weile her, als es hier eine amerikanische Wirtschaftshilfe gab, bei der außer Geld auch gute Ratschläge abfielen. Damals gab es ein Produktivitätszentrum, dem aufgetragen worden war, die Methoden transatlantischer „efficiency“ auf die, ach, so kontinentale Wirtschaft des kleinen Landes zu übertragen. Diesem Bemühen dienten damals etliche Fachzeitschriften, und in einer von ihnen wurde der diabolische Plan ausgeheckt, auch einmal etwas für die Produktivität der geistigen Arbeit zu tun. Intellektuelle aller Schattierungen, Ärzte, Architekten, Schriftsteller, Juristen wurden aufgefordert, Artikel über die Frage zu schreiben, wie man in ihrer Sparte den geistigen Ausstoß gehörig auf Touren bringen könne. Da diese Aufträge zumeist mit Vorschüssen gekoppelt waren, erfreuten sie sich unter den Betroffenen bald einiger Beliebtheit.

Der Schriftsteller, dem dieser Job in den Schoß fiel, war Erik G. Wickenburg. Aber die Redaktion erhielt zunächst nur eine Quittung über den Vorschuß und dann längere Zeit nichts. Auf sanftes Drängen flatterte schließlich ein Manuskript ins Produktivitätszentrum, das sich „Lob der Faulheit“ betitelte und die These vertrat, der Autor müsse den Mut aufbringen, 23 Stunden am Tag nichts zu tun, in der Erwartung, daß die 24. Stunde ihm die erlösende Inspiration bringen möge.

Das war nun nicht eben das, was sich die Redaktion erhofft hatte. Die betriebstechnische Förderung der Schriftsteller mußte vorerst einmal unterbleiben.

Zwar ist man seit jenen Jahren auch in der Literatur um einiges, hektischer und betriebsamer geworden, doch hat diese Geschichte den nicht abzuleugnenden Vorzug, daß sie in das Bild paßt, das man sich anderwärts von der Beziehung des Wieners zu seiner Arbeit macht. Spitzmarken wie „Phäakenstadt“ oder „Capua der Geister“ haften ja der Donaumetropole schon seit geraumer Zeit an. Die Legende will, daß die Wiener selbst dann noch ihre ganze Zeit im Kaffeehaus verbringen, wenn es schon gar keine Kaffeehäuser mehr gibt. Wenn Probleme so knifflig werden, daß man anderswo zu ihrer Lösung eine Experten-Klausur oder einen Brain-trust einsetzen würde, pflegt man in Wien, beim Heurigen zu bereden. Metternichs Behauptung, in Erdberg beginne bereits der Orient, wurde mit Vorliebe auf die Wiener Arbeitssitten übertragen. Orientalische Passivität oder südliches Dolcefarniente ist so ungefähr das, was man von Wien erwartet. Und die Wiener wissen, was sie ihrer Reputation schuldig sind.

Vor etlichen Jahren wanderte durch die bundesdeutsche Presse die Geschichte von dem Wiener Schuster, der angeblich Kundinnen wegschickte, wenn ihm ihre Beine nicht gefielen. An seiner Tür soll zeitweilig ein Schild geprangt haben: „Wegen Arbeitsunlust geschlossen“. Aber obwohl ich meinen eigenen, viel zu stark strapazierten Schreibtisch in der Josefstadt aufgeschlagen habe, wo auch jener Schuhkünstler daheim gewesen sein soll, ist es mir nie gelungen, ihm auf die Spur zu kommen. Vielleicht gibt es ihn ebensowenig wie die anderen Sagenfiguren, den Rübezahl etwa oder das Donauweibchen. Vielleicht stand er auch bloß im Sold einer Fremdenverkehrsdienststelle - dann hat er sich gewiß bezahlt gemacht.

Aber wenn nun die Wiener schon einmal im Rufe stehen, sie ließen sich die gebratenen Tauben in den Mund fliegen—wer arbeitet dann eigentlich? Wer brät die Tauben? Als Wirtschaftswunder noch modern waren, haben ja auch die Österreicher eines davon abgekriegt. Da muß doch eigentlich eine Menge Arbeit geleistet worden sein, um aus der Trümmerwelt der Nachkriegsjahre herauszufinden und die Städte so proper hinzustellen, wie sie sich seitdem präsentieren. Irgendwer muß sich damals ordentlich abgerackert haben — wer ist es nur gewesen? Ein Wiener, den man mif dieser Frage in Verlegenheit setzen möchte, wird vermutlich antworten, das müsse an den anderen liegen, er selbst sei es bestimmt nicht gewesen.

Und dies ist die Wahrheit, die von den Fremdenverkehrsprospekten so gerne verschwiegen wird: Die Wiener sind emsig wie die Wiesel. Man wird mich der Verleumdung zeihen, wenn ich behaupte, man arbeite hier, was das Zeug hält oder — um im Landesjargon zu bleiben — daß die Fetzen fliegen. Das steht in keiner Operette und in keiner Fernsehreportage: daß sich die Bewohner dieser Stadt „zerfransen“ und „zersprageln“. Das Büro, die Werkstätte, die Fabrik genügen da gar nicht. Jeder hat noch einen Nebenberuf, vielleicht sogar deren zwei. Ein Beamter schreibt Zeitungsartikel oder hält Vorträge, ein Arbeiter werkt, wenn seine Dienststunden vorbei sind, „im Pfusch“ weiter, Angestellte bauen sich zum Wochenende eigenhändig ein Häuschen oder basteln zumindest die Einrichtung zusammen.

Ein bundesdeutscher Fernsehreporter war einmal, als er eine Österreich-Reportage drehte, diesem Geheimnis hart auf den Fersen. Er hatte einen Gastwirt vor die Kamera geholt, der ihm die übliche Phäakenversion seines Daseins vorplauderte. Für den Reporter aber war es offenkundig, daß in dem emsigen Betrieb dieses Mannes eine Menge getan werden mußte. Und als er fragte: „Aber wann arbeiten Sie denn eigentlich?“ erhielt er die klassische Antwort: „Wissen S Herr, wir arbeiten heimlich!“

Ein kluges Wort, zumal in einer Stadt, in der nichts direkt, nichts ohne Umwege geht! Heimlich arbeiten, hinterrücks, ohne daß es jemand merkt — das verträgt sich mit dem Bild, das der Wiener von sich selbst entwirft. Denn ihm liegt vor allem daran, im Ruf eines Lebenskünstlers zu stehen. Er will die Aura eines Mannes verbreiten, dem alles leicht von der Hand geht. Kenner will er sein, wo man den besten Kaffee, den saubersten Wein, das gediegenste Essen bekommt. Ein Sachkundiger will er sein, der sich auf die Behaglichkeit des Lebens, auf angenehmes Wohnen oder gute Reisen versteht. Daß ihm das hiefür nötige Geld nicht von selbst zufliegt, sondern mit einiger Anstrengung verdient sein will, das gehört zu den Schattenseiten des Daseins, über die man taktvollerweise nicht spricht. Man arbeitet verbissen, aber im verborgenen.

Dies gilt nicht nur für den anonymen Herrn jedermann. Es zeigt sich sogar in der Genieklasse des Wieners. Mozart und Schubert etwa sind beredte Zeugen dafür. Ihre Musik klingt so leicht und mühelos, als wäre sie ihnen ohne alle Anstrengungen zugeflogen. Und was für ein Leben haben sie dabei geführt! Sie haben ungeheure Stapel Notenpapier beschrieben, haben skizziert und umgearbeitet, instrumentiert und arrangiert. Der eine ist 35, der andere 31 Jahre alt gestorben. Was sie hinterlassen haben, ist schon rein manuell als reine Arbeit des Notenschreibens imposant. Kein Zweifel: auch diese Genies der Leichtigkeit waren heimliche Arbeiter, die sich den vorgeblichen Kuß der Muse mit viel Plackerei verdient haben.

Eine riesige Unterhaltungsindustrie ist bemüht, die Legende vom Wiener Lebenskünstler aufrechtzuerhalten, dem alles von selbst in den Schoß fällt. Aber die Wiener arbeiten ebenso fleißig wie die Bewohner anderer Landstriche, auch wenn sie diese schmähliche Tatsache kunstvoll vertuschen. Als einmal ein Auslandsjournalist ergründen wollte, wann sich denn in dieser Stadt die emsige Betriebsamkeit entfalte, von der er nie etwas zu Gesicht bekam, wurde ihm die lehrreiche Auskunft zuteil: „Lieber Herr, da müßten Sie einmal kommen, wenn Sie nicht da sind!“

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