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SCHEIN UND WIRKLICHKEIT

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Für die Welt des Scheines, genannt Theater, muß man sich nicht nur begeistern, sondern man muß sie auch lieben. Wenn sie mich von Jugend her auch begeisterte, so stieß ich doch verhältnismäßig spät beruflich auf meine alte Liebe. 1946 aus der Gefangenschaft zurück, hielt mich der damalige stellvertretende Leiter der Bundestheaterverwaltung, Ministerialrat Dr. Kosak, buchstäblich auf der Straße auf und fragte mich, ob ich zu ihm kommen wolle. Ich kam. — Meine erste Zeit war hart. Nicht nur, daß der damals schon legendäre Leiter der Bundestheater, der noch aus der Monarchie stammende Sektionschef Dr. Eckmann, gerade in Pension gegangen und statt ihm Dr. Hilbert eingezogen war, der sich in keiner Weise auskannte, dafür aber eine Betriebsamkeit entwickelte, die entgegen der jahrzehntealten Tradition der Bundestheater war, auch ich stand diesem komplizierten Apparat völlig hilflos gegenüber. Die Gebäude der Bundestheater waren zu diesem Zeitpunkt zertrümmert, die Büros der Verwaltung zum Teil zerstört. Alles, was man zum Theater brauchte, gab es nicht und war auch kaum zu beschaffen. Von meinem Ensemble keine Spur. Da aber die Alliierten zu ihrer eigenen Belustigung befahlen, daß die Theater zu spielen hätten, übernahmen die Bundestheater zuerst provisorisch die Volksoper und das Ronachergebäude und begannen dort wie im baufälligen Theater an der Wien Vorstellungen zu geben. Ich aber wurde von der Pike auf geschult

Zuerst bekam ich den Auftrag, mir alle Häuser, die bespielt wurden, vom Keller bis zum Dachboden anzusehen. So visitierte ich wochenlang alle Räume der Theater und lernte den Theaterbetrieb kennen. In den freien Stunden, so nannte ich die Zeit, in der ich nicht irgendwo herumkroch, bekam ich von Sektionschef Dr. Eckmann ein Privatissimum vorgesetzt, wie man Schauspieler und Sänger zu behandeln hätte, wie die Leitung der Bundestheaterverwaltung funktioniere, worin ihre Stärke liege und wo sich ihre Schwächen zeigten. Die Frage Ensemble- und Startheater wurde genauso erörtert, wie die Vor- und Nachteile der gemeinsamen Werkstätten. Kurz, ich lernte — bis Dr. Hilbert meine Fähigkeit erkannte, in jedes Büro hineinzukommen und mich mit Arbeit überhäufte. Aber auch dann noch schlich ich mich, wann immer ich konnte, zu dem Born des Wissens, Doktor Eckmann, und ging niemals mit leeren Händen von dannen.

Ministerialrat Dr. Kosak war zeitlebens der Mann des Geldes gewesen, und ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Menschen getroffen zu haben, der die Finanzen der Theater besser geführt hätte als er. Von ihm lernte ich, was ein Theaterbudget alles enthält, wie man sparen kann, ohne der Welt des Scheines etwas zu nehmen oder das Niveau der Aufführungen zu senken, wie es oft behauptet wird, wenn man nicht bereit ist, genügend Geld aus dem Fenster zu werfen. Kurz, die drei Jahre meiner Tätigkeit in der Bundes- theaterverwaltung waren für müh die Grundlage jenes Wissens über das Theater, das ich heute besitze. Ich halte dies deswegen für notwendig zu erwähnen, weil sich heute so viele Menschen rühmen, vom Theater etwas zu verstehen, ohne im Grunde die geringste Ahnung davon zu haben. Die gleichen Menschen finden es zwar selbstverständlich, daß man dieses oder jenes Handwerk lernen müsse, sie nehmen aber ebenso ruhig einen leitenden Posten bei einem Theater an, ohne sich auch nur über eine Soffitenbeleuchtung im klaren zu sein. Daß diese Welt des Scheins sehr große Realität hat, daß Theater nicht nur beinhartes Geschäft ist, sondern im Direktor eines Mannes bedarf, der oft wie ein Dompteur eines Zirkiusses herrschen muß, im nächsten Augenblick aber die Milde eines Priesters haben soll, das wissen die wenigsten.

Seit eh und je war Theater Spiegelbild seiner Zeit. Sowohl was die Autoren als auch was die Darsteller und das Publikum betrifft. Man könnte fast sagen, jede Zeit hat das Theater, das es verdient. Hier möchte ich als Beispiel jene Jahre anführen, die wir heute als „Ära Hilbert“ bezeichnen können, die Jahre von 1946 bis 1950. In dieser Zeit gab sich alles was Rang und Namen hatte, sowohl auf dem Gebiet des musikalischen, wie auch auf dem des Sprechtheaters in Wien Rendezvous. Das Publikum ging begeistert mit und die Besatzungsmächte standen verblüfft vor der Tatsache, eine Stadt in Trümmern vor sich zu sehen, gleichzeitig in ihr Aufführungen zu erleben, die schlechthin als einmalig bezeichnet werden müssen. Freilich darf man nicht übersehen, daß man damals um das wenige Geld, das jeder hatte, außer einem Theaterbillett fast nichts bekam. Also ging man ins Theater, um sich abzulenken. Fachleute wie Dr. Kosak und Dr. Eckmann wußten genau, daß diese glanzvolle Zeit nur einen Übergang darstellen könne. Sie begannen daher ganz im Stillen systematisch mit dem Aufbau der Bundestheater, als dem Aushängeschild Österreichs auf dem Kultursektor. Gleichwohl hatten sie ein wachsames Auge auf die übrigen Theater, weil sie wußten, daß diese das Reservoir der Bundestheater bildeten. Sie waren durchaus nicht der Ansicht Dr. Hilberts, jeden guten Schauspieler sofort an die „Burg“ engagieren zu müssen, weil sie meinten, die erste Sprechbühne deutscher Sprache könne nur erstklassige Künstler beschäftigen.

Die Frage, ob ein Ensembletheater noch möglich wäre, beantworteten sie höchst klar und einfach. Solange ein hervorragendes Mittelfach zur Verfügung steht, wird dieses einen Star zwingen, ganz aus sich herauszugehen, will er nicht an die Wand gespielt werden. Außerdem kann man mit einem hervorragenden Mittelfach, wie es damals das Burgtheater und die Staatsoper besaß, unter Umständen auch ohne Star sehr gute Ensembleaufführungen herausbringen. Kurz, man kann auf den Star auch warten. Ihre Sorge galt daher der Ausbildung des Mittelfaches, und so wurde es beispielsweise sehr begrüßt, als Direktor Aslan eine Zahl junger Mädchen an das Burgtheater engagierte, die zunächst in kleineren Rollen und an den vorhandenen Kräften lernen sollten, wie gut ein Mittelfach im Burgtheater sein muß. Ich erinnere mich mit besonderem Vergnügen, wie eines Tages eine junge Schauspielerin, Elisabeth Höbarth war es, für die berühmte

Maria Becker in „Trauer kleidet Elektra“ einsprang und mindestens ebenso gut war, wie ihr berühmtes Vorbild.

Auch heute ist ein Ensembletheater genauso möglich' wie früher. Allerdings muß man sich zuerst über den Begriff eines Ensembletheaters einig sein. Meiner Ansicht nach kann ein Ensembletheater nur so verstanden werden, daß neben einem ausgezeichneten Mittelfach etliche Stars, die auch nur zeitweise anwesend sein mögen, zur Verfügung stehen. Sie sind dann die Lichter, die dem Ensemble Glanz verleihen. Sollte aber ein Star im Augenblick nicht zur Verfügung stehen, dann muß auch mit dem Mittelfach das Auslangen gefunden werden können. Einzig und allein von der Güte des Mittelfaches wird es daher abhängen, wie gut eine Vorstellung ist. Diese Methode hat beispielsweise den Bundestheatern seinerzeit viel Geld erspart, weil man nicht gezwungen war, einen Star um jeden Preis zu engagieren. Freilich, um ein ausgezeichnetes Mittelfach haben zu können, dazu bedarf es Zeit. Diese Jahre wurden nun bei fast allen Theatern versäumt. Was nützt es, wenn der Komponist in der „Ariadne auf Naxos“ international erstklassig ist, alle anderen Darsteller aber abfallen? Die Vorstellung wird vom Publikum als schlecht bezeichnet, denn Theater ist Teamwork!

Seit 1946 lebt man beim musikalischen Theater von den großen alten Dirigenten. Furtwängler, Knappertsbusch, Bruno Walter, und wie sie alle hießen. Welche stehen heute noch zur Verfügung? Mit der Dezimierung dieser Meister durch den Tod kommt außerdem noch dazu, daß andere, viel reichere Länder sich ebenfalls Opernhäuser aufgebaut haben und die noch zur Verfügung stehenden Dirigenten mit weit höheren Gagen verlocken, als wir bei nüchterner Betrachtung zu zahlen imstande sind. Deswegen hätte man auf die-

sem Sektor bereits vor Jahren beginnen müssen, jüngere Kräfte langsam und behutsam aufzubauen. Dazu hätte die Kritik einiges beitragen können. Es ist grundfalsch, einen jungen Dirigenten, der zum ersten Male in der Staatsoper dirigiert, etwa mit Furtwängler oder „Kna“ zu vergleichen und ihm damit gleich von allem Anfang an jede Freude zu nehmen und ihn vom Pult zu vertreiben.

Staatsoper und Burgtheater sind das Aushängeschild Österreichs. Diese Institute haben daher keinesfalls den Charakter von Experimentiertheatern, dürfen und sollen daher immer nur Werke zur Aufführung bringen, die bereits international anerkannt sind. Das dürfte aber nicht dazu führen, daß geradezu eine Abkehr von der Modernen erfolgt. Hier hätte die Staatsoper viel nachzuholen, um zu vermeiden, daß sonst der Spielplan verödet. Diese Spielplangestaltung, wie sie derzeit ist, in einer Zeit, wo der Sparriemen enger und enger gezogen wird, muß zwangsweise das sowieso beträchtliche Defizit erhöhen. Man muß das Publikum mit modernen Stücken konfrontieren, muß es aus seiner Lethargie reißen, will man die Kassen füllen. Hier soll auf die Spielplangestaltung des Volkstheaters hingewiesen werden, das sich ehrlich bemüht, etwas zu bieten. Aber auch die sogenannten Provinztheater zeigen vielfach ein wesentlich interessanteres Programm als allgemein die Theater in Wien. Diese Kritik soll nur zeigen, wo man den Hebel ansetzen müßte.

Das Theaterpublikum von heute ist nicht schwieriger als jenes von gestern. Wie gut man es beispielsweise im Musikverein versteht, die Konzertsäle zu füllen, müßte Theaterdirektoren doch Grund zum Nachdenken geben. Nur jener Direktor, der sich in das Publikum einzufühlen vermag wird sich in Zukunft behaupten können. Wie oft mußte man zum Beispiel feststellen, daß ein Theaterstück im Frühling als „Reißer“ über die Bretter ging, um im Herbst ein glatter Mißerfolg zu sein. Man muß eben berücksichtigen, daß das Publikum im Frühling bereit ist, ein seichteres Stück hinzunehmen, nicht aber gewillt ist, wenn es erholt aus dem Urlaub kommt, sich ein beliebiges Boulevardstück anzusehen. Es sind dies Regeln, die so oft vergessen werden. Wie bei den Dirigenten, so ist es auch mit den Kritikern. Da die Mittelgeneration fehlt, werden junge Kritiker, die früher bestenfalls als Ersatz von ihrer Zeitung aufgeboten wurden, heute als erste Kritiker eingesetzt und geben Kritiken von sich, die bei sachlicher Beurteilung durchaus nicht als objektiv betrachtet werden können. Es ist nun meiner Ansicht nach falsch, mit diesen Leuten nicht in Kontakt zu treten und sie einfach zu ignorieren. Man müßte sich diese jungen Leute herbeiholen und ihnen klarmachen, welche Fehler sie begangen haben. Fehler, deren Wirkung sie meist gar nicht voraussehen. Eine solche Zusammenarbeit zwischen der künstlerischen Leitung der Theater und der Kritik fehlt völlig.

Theater wird immer Geld kosten. Freilich, auch hier kann man sparen. Die Welt des Scheins bietet viele, ja oft mehr Möglichkeiten, als man vielfach annimmt, Geld zu sparen. Ich erinnere mich an einen der größten Fachleute auf dem Gebiet des Sachaufwandes, den sogenannten „Burg- Jaschke“ — im Gegensatz zum „Opern-Jaschke“, seinem Bruder — der als Verwaltungsdirektor im Burgtheater tätig war. Diesem sagte einmal ein Bühnenbildner, er benötige einen Teppich um rund 30.000 Schilling. Jaschke lachte und sagte, er bekäme einen Karton um 600 Schilling, den das Publikum, wenn dieser richtig beleuchtet würde, als herrlichen Perser ansehen würde. Gesagt, getan. Der Bühnenbildner war platt, weil Jaschke recht behielt. Solche Fälle könnte ich zu Dutzenden aufzählen. Genauso wie man an der Einhaltung der Arbeitsverträge besonders interessiert sein müßte. Was weiß denn ein Laie, was Überstunden gerade auf dem Theatersektor kosten? Gerade bei eigenen Werkstätten ist es notwendig, diese so rationell als möglich zu führen, um so wenig als möglich Überstunden auf laufen zu lassen. Es ist halt beim Theater so, wie in einer Familie, Ersparen kann man beim Theater nur im Sachaufwand, in der Familie beim Essen.

Wir kommen nun in eine Zeit, wo gerade jene Bundeskredite besonders von der Streichung bedroht sind, die als Subventionen für die Theater gedacht waren. Um so mehr müssen die Theaterdirektoren bestrebt sein, aus sich heraus jede Möglichkeit aufzuspüren, die sie vielleicht noch nicht gefunden haben, um Gelder freizustellen. Es nützt nichts, wenn man sich darüber ärgert oder meint, diese Gelder müßten einfach kommen. Bei einem so defizitären Staatshaushalt wie dem unsrigen ist es klar, daß vieles wichtiger ist als das Theater.

Wien hat rund ein Viertel der Einwohner von Österreich und unser ganzer Staat ist kleiner als London. So wirkt es geradezu grotesk, daß sich auf dem Theater- und Musiksektor bisher gar keine Anzeichen einer Zusammenarbeit ergeben haben. Wohl gibt es einen Theatererhalterverband österreichischer Städte und Länder und einen Wiener Theaterdirektorenverband. Aber eine tatkräftige Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Theatern und vor allem mit den großen Musikgesellschaften gibt es tatsächlich nicht. Oft könnte eine mitgeteilte Erfahrung aus dem einen Sektor im anderen sehr wesentlich helfen, Geld einzusparen. Nicht nur auf dem Sektor des Sachaufwandes, sondern auch auf dem des Personalaufwandes. Könnte man nicht beispielsweise gemeinsam darangehen, einen Sänger oder einen Dirigenten zu engagieren, um die hohen Aufenthaltskosten zu vermindern? Könnten nicht die Erfahrungen des einen dem anderen nutzbar gemacht werden?

Auch in den politischen Parteien ist man neuerdings auf die Kultur aufmerksam geworden und hat verschiedent- liche Gruppen gebildet, die sich damit befassen. Freilich haben diese Gruppen einen wesentlichen Fehler an sich haften: Die Beteiligten mögen jung und initiativ sein, aber sie haben zuwenig Erfahrung. Kunst und insbesondere Theater muß man genauso lernen, wie jedes andere Gewerbe oder jede andere Wissenschaft. Jugendlicher Elan allein nützt gar nichts, und so befürchte ich, daß genau das Gegenteil ein- treten wird. Statt Hilfe für das Theater werden weitere Fehler gemacht werden, Fehler, die wir uns aber gerade heute nicht leisten können. Gewiß, man kann die Eintrittspreise willkürlich erhöhen. Dagegen ist das Publikum machtlos. Aber das Publikum muß die Vorstellungen nicht besuchen; wenn ihm die Preise für das Gebotene zu hoch Vorkommen. Dagegen ist wiederum der Theaterdirektor machtlos, und schließlich ist immer derjenige Sieger, der das Geld hat. In diesem Falle der zahlende Besucher. Ich erinnere mich an einen Ausspruch Dr. Eckmanns, der sagte, wenn die Bundestheater die Preise erhöhen müßten, um das Defizit zu senken, dann ist dies der Weisheit letzter Schluß, weil — das Defizit nur größer werden und das Publikum wegbleiben wird. Eine zusätzliche Folge aber wird diese Maßnahme haben: Man stößt ein Publikum von sich, das zu gewinnen in der Zukunft dann sehr schwer sein wird. Da muß einem schon etwas anderes einfallen, zum Beispiel — bessere Aufführungen!

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