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Gefährliches Buch

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Da hat der bekannte Literatur- und Theaterhistoriker Siegfried Melchinger unter dem Titel „Geschiehte des politischen Theaters” ein Buch erscheinen lassen, bei dem es sich um die Zusammenstellung von 24 Vorlesungen, gehalten an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart, handelt Melchinger war übrigens auch Mitbegründer von „Theater — heute”, von welchem Unternehmen er sich aber bald zurückzog, da er, bis vor kurzem selbst Theaterkritiker, wohl spürte, daß das Theater so ode nicht ist wie die Zeitschrift und die in ihr beschriebenen Aufführungen. — Auch sie war und bleibt gefährlich — mit der Einschränkung, daß sie ja wohl nur wenige Leser hat. Das gleiche gilt für Melchingers Buch nicht mehr, seit es in einer zweibändigen wohlfeilen Ausgabe zu haben ist…

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Da hat der bekannte Literatur- und Theaterhistoriker Siegfried Melchinger unter dem Titel „Geschiehte des politischen Theaters” ein Buch erscheinen lassen, bei dem es sich um die Zusammenstellung von 24 Vorlesungen, gehalten an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart, handelt Melchinger war übrigens auch Mitbegründer von „Theater — heute”, von welchem Unternehmen er sich aber bald zurückzog, da er, bis vor kurzem selbst Theaterkritiker, wohl spürte, daß das Theater so ode nicht ist wie die Zeitschrift und die in ihr beschriebenen Aufführungen. — Auch sie war und bleibt gefährlich — mit der Einschränkung, daß sie ja wohl nur wenige Leser hat. Das gleiche gilt für Melchingers Buch nicht mehr, seit es in einer zweibändigen wohlfeilen Ausgabe zu haben ist…

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Die Gefährlichkeit besteht in der Einseitigkeit. Und durch die Fülle von Wissen, das Melchinger aufwendet, um zu beweisen, wie viele der neuen und alten Dramen politisch sind, die es in Wirklichkeit keineswegs sind. Aber gerade weil er so viel weiß, muß mäh ihn der Unredlichkeit zeihen. Denn dann müßte er wissen — und er weiß es natürlich auch —, daß er bewußt einseitig ist und sich nicht geringfügiger Unterschlagungen oder Verdrehungen (in oben erwähntem Sinn) schuldig macht.

Politisches Theater ist für Melchinger Theater gegen die herrschende Klasse, also Revolution auf dem Theater. Das ist nun ganz einfach nicht wahr. Politisches Theater kann auch für die herrschende Klasse eintreten. Nach Melchinger ist das unglaubwürdig. Warum eigentlich? Hunderte Gegenbeweise wären zu erbringen. Fast alle Festspiele, und es gibt deren auch viele von literarischem Niveau, verherrlichen den status quo. Oder wie ist es mit Emst von Wildenbruch, gewiß, kein bedeutender Dramatiker, aber einer der zahlreiche Dramen geschrieben hat? Sie alle waren patriotisch, will sagen: sie verherrlichten das bestehende Regime. Oder die Regimes, die sie beschrieben. — Und wie steht es mit Shakespeare, dessen Königsdramen geschrieben wurden, um die Vorfahren der herrschenden Königin Elisabeth zu preisen oder das konkurrierende Königsgeschlecht in den Schmutz zu ziehen? Letzten Endes waren auch diese Dramen Festspiele.

Politisches Theater: Wenn es so etwas überhaupt gäbe, müßte es doch an der Wirkung zu spüren sein. Das heißt: es müßte entweder eine Veränderung der Lebensbedingungen bewirken oder aber die Unterdrückung, Einkerkerung, Ermordung der dieses Theater produzierenden Männer und Frauen. Oder umgekehrt: eine Revolution müßte ein politisches Theater hervorbringen. Eine Durchsicht der Weltgeschichte der Dramatik zeigt, daß nichts von alledem je geschehen ist Das politische Theater hat nie und in keinem Lande etwas erreicht. Und es ist ganz amüsant, daß in dem Land, das sich sozusagen für das revolutionärste hält und sicher in gewissem Sinne auch ist, in Rußland nämlich, das altmodischste Theater der Welt gemacht wird, wie es anderswo kaum noch denkbar ist

Melchinger behauptet — ich vereinfache etwas — Klassiker, das heißt vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden geschriebene Dramen würden gespielt, weil sie den Mißbrauch der Macht anprangern, der ja heute noch existiert, weil sie also letzten Endes modern sind. Auch das stimmt nicht. Es werden diejenigen alten Stücke gespielt, die heute noch interessieren, aus welchen Gründen immer, und der vielleicht wichtigste Grund dafür ist, daß es sich um hervorragende Werke handelt. Und unter diesen Werken gibt es viele, die nicht einmal Melchinger unter die politischen oder revolutionären Klassiker einzureihen vermag.

Er tut es trotzdem. Um nur eines von vielen Beispielen zu nehmen: Moliėre ist für ihn Revolutionär. Und wir haben bisher immer geglaubt, Moliėre sei ein Kritiker der menschlichen Schwächen, ein Verächter der Menschen. Er läuft zum Beispiel nicht Sturm gegen einen Geizigen, er macht ihn nur lächerlich. Und die Diebe, die sein Geld stehlen, denken gar nicht daran, es an die Armen zu verteilen, sondern nur an sich selbst, was ihnen aber mißlingt, denn sie werden geschnappt. Kurz, es bleibt bei dem status quo. Ähnliches wäre über den „Eingebildeten Kranken” zu sagen. Die Seiltänze endlich, die Melchinger aufführt, um zu beweisen, daß „Dom Juan” (mit einem m, was ein Literaturhistoriker wissen sollte), von Moliėre revolutionär ist, berechtigen ihn zum sofortigen Eintritt in einen Zirkus.

Auch Äschylos ist nach ihm revolutionär, und das gilt besonders für die „Orestie”. Über die „Orestie” kann man natürlich sehr vieles sagen, aber letzten Endes läuft ja doch wohl alles darauf hinaus, daß Unrecht fortzeugend immer Böses muß gebären, daß also niemand ungestraft morden (nach Melchinger: Revolution machen) kann. Gewiß, Äschylos hatte gewisse Schwierigkeiten mit den Behörden, aber nicht wegen seiner Dramen.

Zum Schluß wird sogar „Wilhelm Teil” als politisches und revolutionäres Drama reklamiert. Ganz abgesehen davon, daß der sicher einmal politisch stark interessierte und in seinen Dramen revolutionäre junge Schiller sich später gewandelt hatte, ist „Wilhelm Teil” das Gegenteil eines politischen Stücks oder, um ganz genau zu sein, Wilhelm Teil persönlich Gegenteil eines Politikers. Er lehnt es ausdrücklich ab, sich an einer Revolte zu beteiligen, er sagt es sehr deutlich, er will seine Ruhe haben. Das wollte übrigens auch der ältere Schiller, als er „Wilhelm Teil” schrieb.

Dies alles sind nur einige wenige Beispiele für die Willkürlichkeit von Auslegungen, wie Melchinger sie betreibt — ähnlich wie der Pole Jan Kott sie bei Shakespeare betrieb. Da konnte man Sachen über Shakespeare lesen, die der sich nicht im Traum hätte einfallen lassen. Das Buch ist erst vor ein paar Jahren erschienen. Wer weiß heute noch davon? Shakespeare hat dieses Buch jedenfalls überlebt.

Bei Melchinger bleibt auch völlig unklar, wer politisch sein kann und wer nicht, wer revolutionär wirken kann und wer nicht. Er behandelt nur die Dramatiker. Aber eigentlich kann doch nur eine Aufführung politische Wirkung haben, sie hängt also letzten Endes vom Theaterdirektor oder zumindest vom Regisseur ab. Und das sollte niemand besser wissen als Melchinger, denn er lebt ja wie wir in einer Zeit, in der genügend Stücke umfunktioniert werden. Man denke nur an jene Wiesbadener Aufführung des „Wilhelm Teil”, Regie Heyme, wo alle Schweizer Nazis waren, wo der Rütlischwur nach der Melodie des Horst-Wessel-Liedes gesungen wurde, wo der einzig anständige Mensch im Stück Gessler war.

Nebenbei: Ich bin der festen Überzeugung, daß auch ein Theater kaum politisch wirken kann. Jedenfalls ist kein Fall bekannt, wo das geschah. Die Literaturhistoriker haben früher immer behauptet, „Der tolle Tag” („Figaros Hochzeit”) von Beaumarchais hätte revolutionär gewirkt. Nicht die Spur. In diesem Lustspiel wird lediglich ein amouröser Graf, der im übrigen sehr nett zu seinem Gesinde ist, an der Nase herumgeführt — und zuletzt verzeihen alle allen. Und das Stück wurde in einem Theater gespielt, wo sich Aristokraten amüsierten — sogenannte Revolutionäre hätten nicht einmal das Geld gehabt und auch nicht den Anzug, in das Theater zu gehen.

Das einzig wirklich politische Theater war das von Erwin Piscator in den zwanziger Jahren in Berlin. Es wurde mit Geldgebern auf die Beine gestellt, die durchaus als Kapitalisten bezeichnet werden konnten (nicht mehr nach dem Zusammenbruch des Theaters innerhalb zweier Jahre, da waren sie nämlich ihr Geld los). Und das Publikum dieses Theaters? Das bestand nur aus feinen Leuten aus dem Westen

Berlins, die so etwas auch einmal gesehen haben wollten. Die Arbeiter blieben diesem politischen Theater fern. Und sie zogen, wenn überhaupt, Operetten oder Schwänke vor.

Natürlich kann man alles als politisch und revolutionär betrachten, wenn — was ja heute Mode ist — der Begriff der Gesellschaftskritik eingeführt wird. In diesem Sinne sind auch Wildenbruch oder Grillparzer politisch, indem sie nämlich gegen die Gegner der jeweiligen Regime antreten. In diesem Sinne ist fast jeder Schwank politisch, weil gesellschaffskritisch.

Ein Beispiel für viele: Da gibt es ein Stück, in dem eine Kammerzofe die Hauptrolle spielt. Sie ist bedrückt über ihren Stand, der es ihr unmöglich macht, in der großen Welt eine Rolle zu spielen. Sie stiehlt ein Kleid ihrer Gebieterin und geht unter einem falschen Namen auf einen großen Ball. Sie klagt: „Warum schuf mich die Natur denn zur Kammerzofe nur?” und zieht ihre revolutionären Konsequenzen.

Das ist also auch ein politisches, weil revolutionäres Stück. Es heißt „Die Fledermaus”.

Es hat immer Dramatiker gegeben, die politisch engagiert waren und die vielleicht, aber immer nur unter anderem (Hauptmann! Shakespeare! Schiller!) versuchten, ihre politischen Überzeugungen in ihrem Drama wiederzugeben. Aber niemals haben sie damit eine politische oder gar revolutionäre Wirkung erreicht. Dafür gibt es zwei Gründe. Ein Theater faßt im besten Falle tausend Plätze, und ein Stück wird — abgesehen von den amerikanischen Musicals — allenfalls zwanzig, fünfzig, achtzig Mal gespielt. Mit so wenig Publikum kann man keine Revolution machen. Hinzu kommt, daß ein Theaterabend bestenfalls drei Stunden dauert. In so kurzer Zeit kann man aus Theaterbesuchern keine Revolutionäre machen.

Das ist der Unterschied zwischen Theater und Buch. Ein Buch kann immer wieder gelesen werden, ein Buch kann immer wieder verliehen werden, ein Buch kann direkt oder indirekt Millionen erreichen. Das „Kapital” von Karl Marx war ein solches Buch, leider auch „Mein Kampf”. In Dramenform wären diese Werke fünf Jahre nach ihrer Entstehung der Vergessenheit anheimgefallen.

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