6821726-1973_40_19.jpg
Digital In Arbeit

Überleben in der Flut

Werbung
Werbung
Werbung

Früher galten Schulen und Hochschulen als wichtigste Kontaktstellen zur literarischen Produktion: Hier wurde besonders wirksam auf Neuerscheinungen aufmerksam gemacht — und zugleich auf dauerhaft Gültiges. Maßstäbe zur Beurteilung geistiger Güter wurden vermittelt. Bildungsmedium war das Buch vor allem deshalb, • weil es als Wertträger angefordert wurde. Die Bücherproduktion war überschaubar und konnte komplett und ruhig beurteilt werden. Rezensenten wie Lehrende nahmen sich genug Zeit dafür.

Selbst auf wissenschaftlichen Spezialgebieten, mehr noch im allge-mein-interessierenden Schrifttum hat eine Bücherflut eine intellektuelle Überschwemmung angerich-

tet, die ein humanes und sachliches Überleben sehr erschwert. Wer es heute etwa als Hochschullehrer riskiert, einige Jahre Rektor oder Dekan zu sein, setzt seine berufliche Glaubwürdigkeit deshalb aufs Spiel, weil er den in dieser Lesevakanz andrängenden Stau an neuen Büchern, Publikationen und Forschungsergebnissen nicht bewältigen kann und sich zwischen Tür und Angel von den Assistenten sagen lassen muß, was an neuer Fachsubstanz „angefallen“ ist. Professoren und Gymnasiallehrer, die vor lauter Korrekturenlesen und Prüfungen nicht mehr zum nötigen Bücherlesen kommen, sind keine Seltenheit. Aber wer soll dann das Buch als Bildungsmedium wirksam machen, wenn nicht sie?

Und selbst wenn sie Zeit und Lust dazu hätten, sich durch die Bücher-schwemme hindurch freizuschwimmen: sie würden kaum wissen, was sie aus der Flut herausgreifen und konsumieren sollten. Denn nicht alles, was in ihren Fachgebieten neu erscheint, kann konsumiert werden. Und da es — zumindest in der Wissenschaft — allen Fachgenossen so ergeht, will kaum noch jemand das Danaidengeschäft des Rezensierens auf sich nehmen; denn das setzt ja voraus, eine Auswahl aus dem Quodlibet des Neuen zu treffen und dazu bestimmte, vorgegebene Wertmaßstäbe anzulegen. Und dies zu tun, ist heute in Wissenschaft und Bildung ziemlich lebensgefährlich — oder wenigstens unpopulär. In der Wissenschaft ist das Rezensieren ein Hobby für Nachwuchskräfte geworden, die noch unbedarft genug sind, um nicht jene Skrupel zu spüren. In der belletristischen Literaturkritik steht es besser: Dort gibt es noch Namen, auf die Verlaß ist. Allerdings bekommt ihr Urteil mitunter eine fast „päpstliche“ Gültigkeit.

Im Publikationswesen hat sich seit Jahren edne Konzentration in Richtung auf weitgehende Marktbeherrschung durch wenige Groß-

verlage vollzogen. Deren Produktionskapazität ist so groß, daß kaum genug an neuen Texten für den Buchdruck produziert werden kann, damit die Maschinen ständig laufen. Die Planungsstrategie sieht dann verständlicherweise so aus, daß fast nur noch aktuelle Titel produziert werden. Was aktuell ist, wird sofort konsumiert und dann sogleich überflüssig. Es hat seine Informations-funktion erfüllt und wandert eher in den Papierkorb als in den Bücherschrank. Man muß fragen, ob die Planungs- nicht zugleich eine Wegwerfstrategie ist: Das aktuelle Buch soll möglichst schnell verbraucht, abgenutzt sein und Geschmack nach neuen Aktualitäten wecken. Die Folge: Was für den schnellen Verbrauch produziert wird, braucht nur

am Maßstab der Aktualität und nicht der Qualität gemessen zu werden. Für Qualität ist nämlich typisch, daß sie über den Tag hinaus erhalten bleibt. Man darf behaupten: Schneller Konsum verdrängt dauernde Qualität.

Mit der Großdimensionierung der Bücherproduktion wird insofern ein literarischer Teufelskreis hergestellt, als die Artikulation des bloß Aktuellen zugleich auch Exaltation des Ephemeren bedeutet und für solides Erarbeiten von Büchern, die auf dauernde Qualität konzipiert sind, keine Zeit vorhanden ist. An das Buch als Wegwerfware haben sich viele Menschen bereits gewöhnt, auch viele Schüler und Studenten. Das Aktuelle wird derart attraktiv (und manchmal reißerisch) offeriert, daß man ihm gar nicht widerstehen kann. Ein Beispiel: ,JJen“ Neill hat heute jeder Pädagogikstudent gelesen, weil man „in“ sein und die Bibel der antiautoritären Erziehung kennen will; aber einen Text von Pestalozzi und selbst von Rousseau, bei dem Neill doch erhebliche geistige Anleihen gemacht hat, hat man meist nicht gelesen. Was mehr als zehn Jahre alt ist, muß altmodisch sein — die historische Dimension entfällt dem geistigen Bewußtsein.

Man muß nicht unbedingt lamentieren, wenn heute im Germanistikstudium zukünftiger Deutschlehrer nicht mehr so ausführlich Altgotisch und Altnordisch, Alt- und Mittelhochdeutsch betrieben werden wie noch vor zwanzig Jahren; aber es bedeutet Verarmung der Sprachkultur und Verkarstung des Sinnfeldes, wenn im Deutschunterricht der Schulen Goethe und Hölderlin, die Klassiker und die Romantiker, ja selbst die „Klassiker“ vom Schlage Thomas Manns kaum noch „drankommen“ — vor lauter Brecht und Dürrenmatt, Frisch und Handke. Leicht zu sagen, wer heute in Pubes-zentenklassen noch versuche, mit

„Wilhelm Teil“, „Ganymed“ und „Taugenichts“ anzukommen, erzeuge bei Schülern nur mitleidiges Lächeln. Und selbst wenn dem so ist: Weshalb?

Lehrer können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, wenn sie feststellen, daß bestimmte Verständnisdimensionen heute verbaut zu sein scheinen, ja daß bestimmte Antennen für das Aufnehmen von Werten zerbrochen sind. Eine allgemeine Wertkrise unserer Tage entschuldigt und erklärt das nur teilweise. Früher galt der „altmodische“ Satz: Erziehung und Bildung können als Prozesse der Werterfahrung durch den Schüler nur gelingen, wenn der Lehrer von den Werten ergriffen ist, die er erfahrbar machen will. Zu fragen ist, ob der

Wertreichtum, den jede qualitative Dichtung enthält, einfach nicht mehr vorhanden ist oder ob er von denen, die als Sachwalter der Literatur handeln, nicht mehr klar genug gesehen wird. Diese Frage hat im Vordergrund zu stehen, wenn heute von einer Krise des Deutschunterrichts die Rede ist. Sicherlich ist diese Krise nicht dadurch aufgekommen, daß irgendwann begonnen wurde, soziolinguistische und struk-turalistische Elemente in die Literatur- und Spracherfahrung einzubringen, ja selbst Trivial- und Banaltexte bis zum Boulevardblatt und zum Kinoplakat als Sprachdokumente der Zeit kritisch zu analysieren. (Übrigens kann man das, was trivial und banal ist, nur beurteilen, wenn man höhere Qualitätsmaßstäbe kennt.)

Kern des Problems ist doch die Intention, die man mit dem Publizieren und dem Lesen verbindet: Soll das Buch ein Wertträger sein oder nicht? Soll es nur Quelle von Information und Unterhaltung sein?

Mit der Funktion des Buches als eines Wertträgers mag in der Vergangenheit mancher Unfug getrieben worden sein: Der Deutschunterricht triefte hier und da von Moralin und „Weltanschauung“, und dabei kamen der sprachliche und der literarische Aspekt oft zu kurz. Auch nicht wenige Schüler erwarteten vom Literaturunterricht eine Art Glaubenshilfe — Texte von Reinhold Schneider und Gertrud von Le Fort wurden wie neue Evangelien in Weihestunden dargeboten.

Aber vollzieht sich heute beim Umgang mit Brecht und Handke nicht ähnliches, wiewohl mit roter Tönung? Die Gefahr der Ideologisie-rung ist beim Umgang mit Literatur in Schule und Hochschule stets groß gewesen. Aber der Schwierigkeit entrinnt man nicht, wenn man nur Aktuelles aufgreift. Und selbst die soziolinguistische Komponente kann

marx-lastig werden, auch wenn sie sich noch so empirisch-objektiv drapiert.

Indem ein Buch bestimmte Auffassungen vom Menschen, vom Leben, von der Gesellschaft verbreitet, wird es zum Wertträger, selbst wenn es indifferent und neutral zu argumentieren vorgibt. Vermutlich wirkt das Buch dann am meisten als Medium von Bildungsprozessen, wenn es zur Auseinandersetzung mit Werten anregt, Wertentscheidung und Wertnahme oder -Verweigerung provoziert. Natürlich ist am Buch auch die Information noch für Bildung relevant; aber Information schöpft nicht die Chancen der Bildung voll aus.

Lehrer und Schüler haben es heute schwerer als früher, verläßliche Qualitätsmaßstäbe für die Auswahl von Büchern zu finden. Selbst auf dem Schulbuchmarkt herrscht Überangebot. Die Fülle des Gedruckten ist mehr Belastung als Bereicherung, und nicht wenige Zeitgenossen wehren sich gegen die Bücherflut durch Verzicht auf Lektüre — nach der Regel: Im fernsehen erfährt man ja doch alles wirklich Wichtige. Die Lektüreverweigerung wird zur intellektuellen Selbsthilfe, zum Schutz gegen Desorientierung: „Trau nicht den Büchern!“

Solchen Rigorismus bekommen Verleger und Buchhändler jetzt vielleicht noch nicht zu spüren; aber bis dahin wird es nicht mehr lange dauern. Das Unbehagen gegen den überzogenen Aktualismus des Bücherangebots, gegen das bunte Wirrwarr der Taschenbücher und das Vexierspiel der Bestsellertitel wächst in der Jugend. Nicht lange, und die jungen Leute werden wieder nach „Klassischem“ fragen, nach Dauerhaftem, das man auch noch nach drei und nach dreißig Jahren lesen kann. Studenten fragen — schon um das Wichtige kürzer und komprimiert vorzufinden — nach Handbüchern und Standardwerken, auch wenn diese viel teurer sind als die literarischen Eintagsfliegen mit Bestselleraufputz. Daß Bücher zu Bestsellern manipuliert werden und bereits vor dem^Erscheinen Bestseller sind, macht kritische Köpfe skeptischer gegenüber der literarischen Werbung. Auswahlmündigkeit wird zu einem Ziel neuer literarischer Bildung. Bald wird man fragen, ob kritisches Leserverhalten stärker ist als manipulative Werbung auf dem Büchermarkt. Vom Image der Buchimperien brök-kelt der Lack ab. Das Ansehen der kleineren Verlage steigt, die für Qualität arbeiten und den Mut haben, auch „unaktuell“ zu produzieren. Aber noch muß es den Kulturkritiker erschrecken, daß Autoren von hoher Qualität nicht gefragt sind, ja daß sie vom Buchmarkt bereits beerdigt worden sind noch zu ihren Lebzeiten. Der Superkommerz hat brutale Seiten. Es fällt schwer, dann noch daran zu glauben, das Buch habe mit geistigem Leben zu tun.

In stärkerem Maße, als es vielen Politikern und Pädagogen bewußt geworden ist, haben die Veränderungen auf dem Büchermarkt und im Leseverhalten die geistige Landschaft verändert, und zwar nicht nur dadurch, daß das Publikationsangebot für den Konsumenten unübersichtlich geworden ist und ihn in eine scheinbar heillose Desorientierung gestoßen hat. Wichtiger ist eine gewisse Umschichtung im Wertbewußtsein vieler Zeitgenossen: Weil übermäßig die Aktualität und der Wandel zu Höchstmaßstäben geworden sind, fehlen vielen Menschen Orientierungspunkte, oder sie gewöhnen sich an einen Indifferentismus, der sie eher unsicher als frei macht. An viele geistig wichtige Gehalte, die im Buch konserviert werden, kommen junge Menschen gar nicht mehr heran, weil sie niemand zu ihnen hinlenkt. Überspitzter Aktualismus führt auf die Dauer zu einer Verflachung und Verrohung der geistigen Zuwendung, für die das Leisen prototypisch ist. Wem fällt heute noch auf, daß etwa Lyrik als geistig-seelische Äußerungsform im Buch kaum noch wirksam werden kann? Weil Lyrik nicht zur Massenproduktion geeignet ist, bleibt sie weitgehend ungedruckt und verkapselt sich als Absonderlichkeit.

Selbst die vielen Bücher, die heute zur Emanzipation und Mündigkeit stimulieren, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Gros der Leser in der Bücherschwemme zur Unmündigkeit und Abhängigkeit verurteilt ist. Produkt einer modernen literarischen Bildung müßte der mündige Leser sein, der marktkritische Bücherkonsument, der die Bü-cherproduzenten (Autoren wie Verleger) und Buchhändler als Partner betrachten und die Politik des Buches genauso mitbestimmen möchte wie jene. Noch fällt der Leser als Sozialfigur in einer sich mündig und kritisch gebenden Bildungsgesellschaft aus. Schüler und Studenten können rebellieren, Lehrer und Professoren protestieren, wenn sie etwas ändern wollen; einen Leserstreik, eine Bürgerinitiative „Entflechtet den Buchmarkt“ kann man sich nur utopisch vorstellen. Und doch könnte ein kritisches, zielbewußtes Marktverhalten der Lese-Interessenten die Einseitigkeiten im Büoherangebot zugunsten einer Akzent- und Wertverlagerung erzwingen. Denn schließlich sind Verleger und Verkäufer auf die Käufer angewiesen.

Literarische Bildung in Schule und Hochschule kann den Anstoß zur Veränderung geben. Auch die Literaturkritik kann das Blatt wenden, vorausgesetzt, sie macht sich selbst erst einmal von ihren eigenen Konzentrationstendenzen frei, vom viel zu großen Meinungseinfluß weniger Rezensenten in wenigen Blättern, auf die die Mehrheit von Kritikern kleinerer Formate hört. Der bloßen „Waschzettel-Rezensionen“ sind zu viele, und sie regen nicht zur Kritik, sondern zum Kauf an. Bei wirksamer Buchkritik müßten viele Bücher un-gelesen bleiben, weil ihr Wert minimal ist. Die Folge wäre bald, daß solche Bücher nicht mehr gedruckt würden, weil höhere Qualität verlangt wird. Der Umgang mit Trivialliteratur ist heute im Literaturunterricht Mode; weshalb wird nicht auch das einseitig Ephemere und Kurzlebig-Aktuelle zum Trivialen gezählt?

Der geistige Zustand unserer Zeit ist mit dem Stichwort „Gutenberg-Galaxie“ gewiß nicht zureichend diagnostiziert. Aber wenn Bücher nur für schnellen Verbrauch und kurze Geltungsfrist produziert werden, halten sie die Aktualitätskonkurrenz von Zeitung, Hörfunk und Fernsehen auf die Dauer nicht aus und werden sinnlos. Denn sie können nie so aktuell sein wie die anderen Kommunikationsmedien. Wo Aktualität oberster Maßstab ist, sollte man eigentlich nur noch Tageszeitungen lesen — selbst wöchentliche oder monatliche Information wäre dann eine unzumutbare Verspätung. Und für diejenigen Zeitgenossen, die ganz up to date sein wollen, wäre auch die Zeitung Nonsens, weil Funk und Fernsehen den neuesten Neuigkeiten dichter auf den Fersen folgen können... Absurde, aber gar nicht so irreale Perspektiven!

Um Kindern Lust zum Lesenlernen zu machen, schlugen Philanthropen der Goethe-Zeit vor, Buchstaben und Buchstabenseiten in Keks- und Kuchenform zu verabreichen. Manche Illustrierten locken mit pikanten Bildern zum Lesen, und mit dem Genuß ist der Wille zum Lesen schnell dahin. Daß Lesen ein Aus-Lesen des Wenigen aus dem Vielen bedeutet, droht vergessen zu werden. Aus-Lesen bedingt ein Entscheiden für das Eine und gegen das Andere, ein Abschätzen höherer und niedrigerer Werte.

Unser Bildungswesen würde fahrlässig handeln, verließe es sioh quie-tistisch darauf, daß demnächst wieder eine Mode des Klassischen, Dauerhaften kommt, so wie jetzt eine Mode des Aktuellen umzugehen scheint. Literarische Maßstäbe und in Generationen mit Mühe aufgebaute Lesehaltungen zerstört man nicht ungestraft. Es ist zu simpel, darauf zu hoffen, daß „Hyperion“ demnächst wieder einmal so aktuell werde, wie heute „Die Zwille“ von Ernst Jünger aktuell ist. Nicht nach dem Maß der Aktualität können Bücher in Idealkonkurrenz treten, sondern nach dem Maß der Qualität. Über das, was als Maß von Qualität gelten soll, müssen sich alle Beteiligten einig werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung