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KINDER ZEICHNEN

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Eine der größten Sehnsüchte unserer Zeit ist der Wunsch, zu sich selbst zu finden. Immer wieder ertappen wir uns auf der Suche nach der überschaubaren, heilen Welt, nach der in sich geschlossenen, ursprünglichen Persönlichkeit. Man fordert „Charakter“ oder „Originalität“ vom einzelnen, man steigt „zu den Müttern“ oder ins „einfache Leben“, man beruft sich auf das „Kollektiv-Unbewußte“, und doch steht hinter all diesen verschiedenen Chiffren eine aufgestapelte Sehnsucht nach einer Welt, in der man beruhigter hausen kann als in der kaum mehr überschaubaren Fülle der Zivilisation. Dem Kulturgeschichtler will es freilich zweifelhaft erscheinen, ob dieses Traumland je existiert hat, denn er stößt, ist einmal die verklärende Schicht der Retrospektive weggeräumt, immer wieder auf das gleich brodelnde, ständig gefährdete Leben.

Dennoch hat auch die Kunst der modernen, industrialisierten Gesellschaft wiederholt den Versuch unternommen, das Signum der verlorenen Einheit oder aufzufindenden Gemeinsamkeit auf ihre Bildflächen zu bannen. Gleich zu Beginn unseres Jahrhunderts brachen die Künstler in die Exotik auf oder glaubten, diese menschliche Urlandschaft zu Hause, bei den naiven Malern des „einfältigen Herzens“ zu finden. Durch gewaltsame Deformationen wollte dann der Expressionismus die allgemein gleiche Ausgangsbasis erzwingen, andere, große Einzelgänger, tauchten in das Land der Träume, und nach Abstreifen jeder Art von Gegenständlichkeit versuchen nun die Künstler unserer Tage, die puren Elemente der Gestaltung, bereichert um allerhand Alltagskram, selbst zum Sprechen zu bringen.

Kein Wunder, daß in diesem allgemeinen Bemühen auch die Zeichnungen der Kinder selbst — die lustigen Kritzeleien der Kleinen, die mühsamen Schulaufgaben der Größeren — heute an Bedeutung gewonnen haben. Für viele Besucher sind sie der Jungbrunnen, an dessen ungebrochener Frische sie sich gesundsehen wollen, andere Betrachter wieder vermeinen aus den Aufzeichnungen der jüngsten Generation eine originelle Kritik an der betriebsamen Welt der Erwachsenen herauslesen zu können. Den Pädagogen geben die Kinderzeichnungen ein gewichtiges Feld von Lehrsystemen. Anhänger der modernen Kunst finden in den großzügigen Malereien der Kleinen eine Bestätigung ihrer Prinzipien, Traditionalisten wiederum benützen die kindliche Leichtfertigkeit als Argument dagegen. Die Kinder selbst bemerken erfreulicherweise wenig von dieser Aufregung, für sie ist das Zeichnen Selbstzweck. Und sie tun es mit einer stilistischen Unbekümmertheit, die nicht selten einen für Erwachsene völlig verwirrenden Dualismus offenbart: denn sie zeichnen einmal so, wie sie es selbst wollen, und gleichzeitig auch so, wie es ihre Umgebung wünscht.

Die Schwierigkeiten, denen eine ordnende Beurteilung des Kinderzeichnens unterliegt, entspringen meist den eingangs geschilderten allzu vielen themenfremden Anforderungen. Die erste Ungenauigkeit liegt schon in der Bezeichnung „Kinderkunst“, denn hier soll ja keineswegs Kunst geschaffen oder zur Kunst, geführt werden, wohl aber handelt es sich um eine Betätigung mit den Mitteln der Kunst. Diese Betätigung ist zweifellos ein menschlicher Urdrang und kann durch das verwendete künstlerische Medium, durch die so blank zutage tretende Situation, auch höhere ästhetische Reize haben.

Das Kind gibt diesem Betätigungstrieb aus verschiedenen Motiven heraus nach: als expressiver Drang, als übermächtige Äußerung der aufgestapelten inneren Bilder- und Erlebnisfülle, dann als ein fast körperliches Mittel zur Bewältigung des unbekannten Lebens. „Jedes Kind scheint eine instinktive Liebe zum Zeichnen, Malen und Anfertigen von Dingen zu haben. Dadurch bringt es seine Gedanken und Vorstellungen über die Dinge zum Ausdruck, noch ehe es sich des geschriebenen Wortes bedienen kann, und diese Möglichkeit, seiner lebhaften Phantasie Gestalt zu verleihen, muß gepflegt und voll entwickelt werden“, faßt ein offizielles englisches Lehrerhandbuch von 1938 diese Veranlagung zusammen.

Die Pflege des angeborenen Zeichentriebes nun erweist sich heute immer mehr als ein bedeutendes Lehrmittel, ja als einer der Zentralbehelfe der Erziehung. Schon Plato hatte vor fast zweieinhalb Jahrtausenden festgestellt: „Nicht also mit Gewalt, sondern spielend beschäftige die Knaben mit diesen Kenntnissen, damit du auch besser wirst sehen können, wohin ein jeder von Natur aus sich neige.“ Lange vergessen, wurden diese Grundsätze für das moderne demokratische Erziehungssystem von ausschlaggebender Bedeutung. Noch stand ihnen allerdings ein ästhetisches Ideal entgegen, das in der Kunst allein das Prinzip der sklavischen „Naturnachahmung“ verwirklicht sehen wollte und vor allem das Schulkind streng dazu anhielt, wobei man Nachahmung für eine treffliche Schule der Disziplin und für eine praktische Entwicklung der technischen Fähigkeiten hielt.

1857 forderte dann John Ruskin, daß man die Kinder ungehindert kritzeln und zeichnen lasse, und gab damit eine entscheidende Anregung. Doch auch er, Angehöriger eines Jahrhunderts des pragmatischen Fortschritts- und Nützlichkeitsglaubens, wollte letzten Endes nur die Möglichkeiten verbessern, um Talente früh zu erkennen und so große Künstler erziehen zu können. „Wenn das Kind“, sagte er, „nur sinnlos Papier verkleckst, soll man ihm die Farbe wegnehmen, bis es gescheiter geworden ist; aber sobald es Soldaten und gestreifte Flaggen und Schiffe zu malen beginnt, sollte es jederzeit Farbmaterial zur Verfügung haben...“

In der Zeit des Jugendstils, der sich erstmals mit einer eigenen autonomen Bildwelt beschäftigte, begann man dann von der puren Nachahmung abzurücken; Franz Cizek hat in seinen Wiener Jugendkunstklassen die Anregung sogleich aufgenommen. Die Vorrangstellung der österreichischen Lehrerschaft auf diesem Gebiet hat auch seither nicht nachgelassen, wobei die offensichtlich musische Begabung der Kinder eine wesentliche Voraussetzung ist. Sie verliert sich leider weitgehend für den Großteil unserer Bevölkerung mit dem Eintreten des sogenannten Reifestadiums, so daß für unser Land, zumindest auf dem Gebiet der bildenden Kunst, wenig von Reife gesprochen werden kann. Doch finden wir hier Trost bei Goethe, der feststellt: „Wüchsen die Kinder in der Art fort, wie sie sich andeuten, so hätten wir lauter Genies.“

Erst eine neue Ästhetik, wie sie sich in der modernen Kunst manifestiert, bot die Grundlagen zum rechten Verständnis der Kinderzeichnungen. „Es gibt nämlich noch Uranfänge von Kunst, wie man sie eher in den ethnographischen Sammlungen findet oder daheim in der Kinderstube. Lache nicht, Leser! Die Kinder können es auch, und es steckt Weisheit darin, daß sie es auch können!“ (Paul Klee, 1912.) Nicht mehr das äußere Abbild, sondern die innere Struktur der Welt war zum Inhalt der Kunst geworden, die herausleuchtende Ursprünglichkeit, ja die Naivität war eines der wichtigsten Kriterien. Und diese vitale Naivität findet man gerade in den Kinderzeichnungen.

Zwei Problemkreise mußten erst grundlegend erforscht werden. Der erste beschäftigte sich mit den Fragen: Was geschieht eigentlich, wenn das Kind zu zeichnen beginnt? Welche Möglichkeiten stehen der kindlichen Psyche in dieser Hinsicht überhaupt offen? Schon gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hatte hier Sully eine noch heute gültige Aufstellung gemacht, wenn sich auch die einzelnen Entwicklungsstufen seither zeitlich nach vor verschoben haben:

Einem ersten absichtslosen motorischen Gekritzel mit ungefähr zwei Jahren, das schnell beabsichtigt und nachahmend wird, folgen mit vier Jahren lineare, optisch kontrollierte Zeichnungen, die sehr vereinfacht den Menschen zum Thema haben. Bald — mit dem fünften Lebensjahr — stellt sich ein einigermaßen genaues, wenn auch grobsymbolisches Schema ein, das mit sieben Jahren durch einen beschreibenden Realismus eine Bereicherung erfährt. Doch noch immer ist mehr die kindliche Logik als der Gesichtssinn maßgebend: „Das Kind zeichnet, was es weiß, nicht, was es sieht.“ Erst mit vielleicht neun Jahren wird nach der Natur, nicht aus dem Gedächtnis und nach der Vorstellung, gezeichnet und gemalt. Nun treten auch Überschneidung, Perspektive und Schatten auf. Diese Entwicklung wird einschneidend unterbrochen von einer Periode bildnerischer Verdrängung, die vom 11. bis zum 13. Jahr vorherrscht. Pubertäre Verwicklungen wie das Übergewicht gedanklicher und sprachlicher Bildung unterbrechen den bildnerischen Fluß. Er kann erst mit ungefähr 15 Jahren, dann aber als bewußte künstlerische Tätigkeit, wieder aufgenommen werden. Doch erreichen die meisten Kinder diese Phase nicht mehr, die vorhergehende Verdrängung hat sich allzu radikal ausgewirkt.

In diesem Entwicklungsgang ein „biogenetisches“ Grundgesetz der künstlerischen Entwicklung der Menschheit exakt nachzuweisen ist nicht recht gelungen, wenn auch manche Zusammenhänge zwischen dem Formalen des Kunstwerkes und dem Motorischen und Physiologischen in der Kreatur aufgehellt werden konnten. Doch wie der Geniekul im Sturm und Drang die Aufmerksamkeit für die Bedeutung spontaner Wurzeln im Kunstwerk geschärft hatte, so ist der einmal erkannte Duktus der Kinderkunst richtungweisend für den Zeichen- und Pinselstrich der Moderne geworden. In der graphischen Formung des Automatischen und Intuitiven haben die Kinder ihre Weisheit den Erwachsenen überzeugend mitgeteilt.

Diese wiederum versuchen seit einigen Jahrzehnten sehr ernsthaft und ehrlich, den Zeichentrieb durchaus zum Nutzen der Entwicklung des Kindes lehrhaft zu entfalten. Auch dieser zweite Kreis der vielfältigen pädagogischen Probleme steht am Beginn seiner grundlegenden Erforschung und ist so vielfachen Schwankungen unterworfen wie die Pädagogik selbst. Bei der bildkünstlerischen Betätigung der Kinder müssen im Zeitalter des Visuellen vor allem zwei Aspekte berücksichtigt werden: einmal der präzeptori-sche, um auch trotz der fortwährenden spielerischen Erschaffung und Betonung neuer Bilder- und Symbolwelten das gedankliche Wissen und die geistige Disziplinierung nicht zu vernachlässigen, anderseits aber auch die fast therapeutische Vorsicht, das Kind nicht durch optische Reize in Verwirrung zu stürzen, sondern zu sich selbst finden zu lassen.

Eine Unzahl bildnerischer Techniken stehen nun zur Verfügung, mit denen sowohl die intuitiven, sich selbst ausdrückenden und persönlichkeitsbildenden Themen behandelt werden können, wie schulgemäßen, die das Wissen schrittweise verarbeiten. Diese „Erziehung durch Kunst“, wie Herbert Read sie nannte, trägt einen Faktor der Ordnung und Schönheit in unser Erziehungssystem, den frühere Zeiten schmerzlich vermißt haben. In seinem gleichnamigen Buch gibt der englische Autor, der schon in den frühen vierziger Jahren eine tiefgehende moderne Analyse der Kinderzeichnungen angebahnt hatte, die Hoffnung nicht auf: „Wenn ein Schüler eine grundlegende ästhetische Erziehung erhalten hat. kann man aus ihm so gut wie alles machen.“

Die „Erziehung durch Kunst“ ist eine der großen Hoffnungen unseres Jahrhunderts. Sie muß durchgeführt werden, und sie bringt auch immer wieder schöne Früchte. Als die Stadt Kapfenberg unter dem Motto: „Die kulturellen Möglichkeiten der Industriegemeinde“ in ihren Kulturtagen 1963 der Öffentlichkeit einmal vorführen wollte, was sich an musischer Betätigung in den eigenen Reihen und aus eigener Kraft aktivieren lasse, durften die Kinderzeichnungen nicht fehlen. Daneben wurde auch die erwachsene Bevölkerung zu einem Photo- und Filmwettbewerb aufgerufen. Während das Echo auf das Thema „Unsere Stadt in Arbeit und Freizeit“ aus den Kreisen der Jugend überwältigend war und mit vielen Preisen belohnt werden konnte, erwies sich die Beteiligung der Photo- und Filmamateure schon als bescheidener und problematischer: Es zeigte sich deutlich, daß die musischen Kräfte in der modernen Gesellschaft, auch wenn — oder gerade weil — sie sich der zeitgemäßen technischen Mittel bedienen, zu vielen Belastungen ausgesetzt sind.

Denn selbst die Kinder kritzeln oder malen ja nicht unbelastet. Die Zusammenstellung des Kunstkalenders, den die Firma Gebrüder Böhler und Co. AG alljährlich herausgibt und der diesmal aus dem Kapfenberger Wettbewerb ausgewählt worden war, gab dem Schreiber dieser Zeilen eine interessante Übersicht über den ästhetischen Standort von Schülern wie Lehrern einer mittleren Industriegemeinde. Die über tausend Blätter waren mitunter umwerfend in ihrer Frische und Vielfalt, sie boten auch manche Überraschung, wenn recht witzig oder kräftig ortsnahe Themen aufgegriffen wurden. Es ließ sich an ihnen aber auch ablesen, gegen welch dichtes Gewirr unwillkürlich aufgeblähter bildlicher Vorstellungen, wie sie im Reklamebetrieb des täglichen Lebens aufgeschwemmt werden, hier anzukämpfen ist. Da schleichen sich in die lustigen Gnomendarstellungen der Sechsjährigen Walt-Disney-Elemente ein, da müssen die etwas älteren schon ernstlich unbeholfen auf den Fundus des Kindergartens zurückgreifen, wenn sie spontane Einfälle wiedergeben wollen, da zeigt sich, wie alles Figurale von der Plakatwelt schon in feste Formeln gedrängt ist. Und da erweist sich vor allem auch die groß “ einfallslose Abhängigkeit vom Lehrer, sowohl von seiner zeichnerischen Vorlagen wie von seinen pädagogischen Methoden. Und wenn er ein sehr guter Lehrer war und aus anfänglich taubem Gestein Gold geschlagen hat, dann kommt nach kurzer Zeit der Kitsch und schüttet alles wieder zu...

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