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Nicht Geheimsprache Mensch heitsalphabet!

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Die Wiederkehr des Archaischen in der modernen Kunst kann als Versuch gelten, ein ursprüngliches Weiterleben zu erneuern, das zwar nicht in dem sentimental gefärbten Begriff der ästhetischen Einfühlung (die schon Abstand voraussetzt) wurzelt, wohl aber in dem Urvermögen, das die Religionspsychologie „Identifikation“, die Völkerkunde „Partizipation“ nennt.

Die Kunst aber, die dem intuitiven Einheits-crlebnis entspricht, wird jene sein, die auf die immerwiederkehrenden, allem einmalig Vergänglichen zugrunde liegenden Elementarformen zurückgeht. In ihr sind die Dinge und Wesen wieder ver-t.uischbar, trotz Logik und Kausalität, durch Analogiezauber. Man kann sie durch Zeichen beschwören, und jedes steht für viele. So formuliert Sydow: „In abstrakter Kunst dokumentiert sich äußerlich das mystische Weltbewußtsein “ Odet, wie Franz Marc sagt- ..... der tiefe Hang der modernen Sucher, durch das .Abstrakte' Allgemeingültiges, Einigendes auszudrücken.“

Das Paradoxe der heutigen Situation der Kunst will es nun aber, daß gerade dieses Streben zum Allgemeingültigen die Künstler daran hindert, allgemeinverständlich zu bleiben. Gerade das immer fortschreitende Bemühen um das Einfache wird von den „einfachen“ Menschen abgelehnt, und es kommt faktisch darauf hinaus, daß nur die Gebildeten in der Lage sind, jene Ausdrucksformen zu begreifen, die auf den Bildungsballast der Jahrtausende verzichten.

Man spricht heute viel von dieser Kluft, die zwischen dem Künstler und dem Volk aufgerissen ist, man fragt, warum das so sei und wie dem abgeholfen werden könne Vielleicht ist aber die Frage falsch gestellt Vielleicht beruht sie auf einem Mißverständnis der seelischen Lage des Volkes ebensosehr wie des Wesens der modernen Kunst.

Zweifellos isi die Kunst seit der Renaissance immer mehr ein Privilegium der „Könnenden“, der^ Künstler geworden. Die improvisierende Hirtenflöte,' das naive Frage- und Antwortspiel von Reimpaaren und Ritornellen, das Volkslied, die bemalten Truhen und geschnitzten Bilder, alle ursprünglichen Formen anonymen künsterischen Hervorbringens, dieser eigentlichen Beteiligung des Volkes an der Kunst, wurden seitdem fortschreitend und besonders entschieden im 19. Jahrhundert zurückgedrängt. Ebenso wie auf anderen Gebieten ist die Ausführung immer mehr den Spezialisten überlassen worden.

Das Volk degenerierte zu einer Masse von passiven Konsumenten, die nun sehr folgerichtig nichts anderes verlangten, als sich auch beim Konsumieren so wenig wie möglich anstrengen zu müssen. Sie gewöhnten sich daran, im Kunstwerk nur das technische Kunststück zu sehen, die Illusionsmaschine, Erzeugnis eines „Könnens“, das der breiten Masse von vornherein versagt sei.

Die Kunst des 20 lahrhundcrts aber, die man so oft als „volksfremd“ und „intellektualistisch“ mißversteht, ist zu einem wesentlichen Teile gerade der Versuch, zwar nicht „die Kunst dem Volke“ nahezubringen, aber „das Volk der Kunst“, nämlich der ursprünglichen spielenden Betätigung des Ausdrucksund Gestaltungstriebes, wiederzugewinnen. Diese Kunst, die auf das unglückselige Wort „abstrakt“ getauft wurde (wie um von vornherein durch eine Giftetikette zu verhindern, daß sie in ihrer lebendi gen Funktion verstanden werde), geht auf jene durch Hybris und Wichtigtuerei verschütteten einfacher Elemente des ursprünglichen Formcnspiels zurück die auch in Kinderzeichnungen, in Bauern- und Laienkunst, in der Gestaltung primitiver und vorge schichtlicher Völker zu finden sind.

Man begann mit der Entdeckung des Zöllner Rousseau und kam folgerichtig zur Verherrlichun der „Art Brut“ Die moderne „antinaturalistisch' Kunst“ ist keine Geheimsprache, sondern ein Mensch heitsalphabet des schöpferischen Formens, das fast jedes Kind - allerdings, scheint es, nur ein kleiner 1 ei! unserer erwachsenen Zeitgenossen — erlernen kann. Es ist historisch und psychologisch interessant, daß die oft betonte asoziale „Art pour art“ der Jahrhundertwende, gerade wo sie ihre extremste Ausbildung erreichte, in den — meist ganz bewußten — Versuch einer Erneuerung der Volkskunst umschlagen mußte. „Die Kunst für Künstler“ wurde von einer Art tiefer „Seelsorge“ abgelöst: nämlich Sorge um die Seelen derer, die, nachdem sie alle Naivität der Lebensgefühle verloren, kaum mehr ein Recht haben, sich „Volk“ zu nennen.

Daraus folgt die Notwendigkeit einer Kunsterziehung. Nicht aber in erster Linie Erziehung zum Betrachten, sondern zum Selbstschaffen. Die neue Kunst gibt allen Menschen, bei denen überhaupt der kindliche Form- und Farbensinn noch intakt ist, die Möglichkeit, sich künstlerisch zu äußern. Vor 1933 bestand bereits in einigen Schulen ein moderner Zeichenunterricht, d. h. ein weniger auf die seelenlos „richtige“ Wiedergabe toter Objekte zielender und mehr auf spontane Freude an Form und Farbe als Mitteln seelischer Mitteilung gerichteter. Und wenn Freude der unmittelbarste Nutzen ist, den eine Beschäftigung uns bieten kann, und um so höher zu schätzen, je tiefer sie sich mit Erkenntnis verbindet, dann hatte man damals alles Recht, auf die Erfolge dieses neuzeitlichen Kunstunterrichts stolz zu sein. Die Kinder wurden zwar ebensowenig zu großen Künstlern gemacht wie durch das naturalistische Zeichnen, aber die Liebe zum Elementaren der künstlerischen Schöpfung und damit die richtige Empfindung nicht nur für die neue, sondern ebensosehr für die alte Kunst entwickelten sich in demselben Grade, in dem sich die Schüler der spontanen Erfindungskraft ihrer eigenen Phantasie bewußt wurden

Denn es ist nicht wahr, daß Kunst Luxus ist.

Keiner kann es sich leisten, den Schaffenstrieb, oder, um etwas bescheidener zu sein, den freien Spieltrieb in sich absterben zu lassen. Denn der bedeutet nicht nur ein Mittel gegen die Langeweile, nicht nur eine Steigerung des Lebensgefühls und Vermehrung der Freude am eigenen Dasein, sondern auch im psychotherapeutischen Sinne eine notwendige seelische Hygiene, nicht weniger, wahrscheinlich mehr notwendig als die Ertüchtigung des Körpers durch den Sport; eine Selbstheilung, die außer dem Minderwertigkeitskomplex der Massen gegenüber der Kunst noch eine Menge anderer Komplexe zum Verschwinden brächte.

Die „großen“ Künstler wären dann nicht mehr durch eine unüberbrückbare Kluft vom „Volk“ getrennt und während ihres Lebens ebenso abergläubisch verfolgt wie nach ihrem Tode abergläubisch vergotzt — sie würden sich nur dem Grade nach durch die reichere Phantasie, die tiefere Erfahrung, die höhere Geistigkeit von den ..Laienspielern“ unterscheiden. Sie würden die Spiele der anderen anlegen, neue Tonarten einführen, neue Spielregeln erfinden, schließlich die handwerklichen Traditionen erhalten und weiterbilden.

Für weiteste Kreise der Menschheit würden sie weithin sichtbare Zeichen errichten, während die minderen Begabungen und die „Dilettanten“ und „Amateure“ (nun im besten Sinne des Wortes als ..Kunstliebende“) sich gern mit der Wirkung in kleineren Kreisen, also wieder dem Grade nach: in ihrer Familie, ihrer Freundschaft, ihrem Dorf, ihrer Provinz zufriedengäben.

Ist die Erneuerung der Volkskunst (die zugleich eine Entkitschung bringen würde) dazu verurteilt, Utopie zu bleiben? Aber sollte es sich auch nur um einen schönen Traum handeln, den die Besten unter den Künstlern der Gegenwart träumen, so ist doch beinahe sicher, daß von seiner Verwirklichung die Wiedergeburt unserer Kultur abhängt.

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