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Noch unelegant, unruhig und stotternd

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Ist es eine schiefe Position, wenn ich die freundliche Einladung der Redaktion annehme und in einem Blatt schreibe, bei dessen gelegentlicher Lektüre ich seit vielen Jahren eine nur durch Inkonsequenzen gemilderte Gegnerschaft zum Sozialismus finde? Wem frommt hier mein Aufsatz? Aber es geht um die Hauptsache, um die sozialistische Kultur. Wie sie beschreiben' mit heutigen Ausdrucksmitteln, die nichts von der Zukunft zu wissen scheinen? Muß die Sache unklar bleiben, weil die Bezeichnungen fehlen? Oder leisten die Bezeichnungen nichts, weil,die außersprachliche Wirklichkeit, das Denotat „Sozialistische Kultur“, nicht existiert?

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Ist es eine schiefe Position, wenn ich die freundliche Einladung der Redaktion annehme und in einem Blatt schreibe, bei dessen gelegentlicher Lektüre ich seit vielen Jahren eine nur durch Inkonsequenzen gemilderte Gegnerschaft zum Sozialismus finde? Wem frommt hier mein Aufsatz? Aber es geht um die Hauptsache, um die sozialistische Kultur. Wie sie beschreiben' mit heutigen Ausdrucksmitteln, die nichts von der Zukunft zu wissen scheinen? Muß die Sache unklar bleiben, weil die Bezeichnungen fehlen? Oder leisten die Bezeichnungen nichts, weil,die außersprachliche Wirklichkeit, das Denotat „Sozialistische Kultur“, nicht existiert?

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Zum Unterschied von der Deskrip-tionsfreundlichkeit gehabter Kulturen, etwa der auf Unterdrückung aufgebauten altgriechischen Sklavenhaltergesellschaft, beraubt die künftige sozialistische Kultur den Berichterstatter des Vorteils, in Begeisterung über, sagen wir, ihre Kunstwerke auszubrechen. Oder im Vergleich zur mittelalterlichen Kultur liegen über das Verhältnis der kommenden, beispielsweise zur Metaphysik, keine Tatsachen, sondern eher zynische Gerüchte vor.

Soll man die sozialistische Kultur also einfach phantasiereich, plastisch und paradiesisch nach vorn konstruieren, wie es populärwissenschaftliche Schaubilder mit dem idyllischen Leben des Neandertalers nach hinten tun?

Oder ich könnte eine Definition versuchen: Kultur als den Ort verstehen, wo eine Gesellschaft ständig in Worten und Taten ausspricht, was sie für den Sinn ihres Daseins hält — und mich dann diesem Sinn zu nähern versuchen, um stolz auf die tautologische Formel zu kommen: Die neue Menschheitskultur wird die auf der ganzen Erde realisierte oder, fürs erste zumindest, die sich realisierende Humanität sein.

Aber wie ohne Mißtrauen ins eigene Tun eine totale Humanität ausmalen inmitten der heutigen Weltkultur, die das Umpflügen von Städten durch amerikanische B-52-Bomber achselzuckend, und die Inhaftierung aufmuckender sowjetischer Intellektueller — ein kleiner dimensioniertes Verbrechen, wenn auch ein großes — leicht ärgerlich registriert?

Die „kommandierende Objektwelt“

Ist aber sozialistische Kultur, weil nicht vorhanden, gar nicht darzustellen?

Ich glaube, ein ehrlicher Weg, uns ihr zu nähern, besteht darin, uns in unserer nichtsozialistischen Kultur der Gegenwart umzusehen und diese gegenwärtige kapitalistische Kultur dort, wo sie unmenschlich ist, zur Nichtkultur zu erklären. Wer den Sozialismus will, muß ihn im Kapitalismus aufsuchen.

Sogenannte Sachzwänge, Entfremdung, Verdinglichung — das sind Erscheinungsformen unserer Nichtkultur, deren Wesen sehr einfach darin besteht, daß sie sich unentwegt dem Zirkulationsprozeß des Kapitals akkomodiert. Nicht das Ich und nicht die Gesellschaft sind souverän, das Kapital, das, sich von selbst, kaum gelenkt vom Willen seines Besitzers, ständig vermehren will und muß, ist es. Der Sachzwang, die Entfremdung, die Verdinglichung: Ausdruck der Situation des Ich, das bis zur Invalidität von einer es kommandierenden Objektwelt deformiert wird.

Augenfälliger Beweis: der Arbeiter am Fließband. Tragische Lage der Gesamtgesellschaft: die Menge ihrer Individuen, denen die harte Erfahrung ihres Soseins den Aberglauben an die verabsolutierten Werte von Wirtschaftswachstum, Leistung, Konsum eingebleut hat, und die bereit sind, zu schwören, diese verdinglichte Ist-Kultur, dieser brillante seelenlose Gladiatorenzirkus mit Erfrischungszelten, sei die wahre.

Wo Butter fehlt, kann die feine Rama durch nichts ersetzt werden.

Der Kapitalismus beherrscht dabei nicht nur die westliche Welt, er hat auch, jedenfalls vorläufig, über das nun schon im sechsten Jahrzehnt befindliche Experiment des Kommunismus triumphiert. Alle gescheiten Bücher, in denen die Geschichte des Sowjetkommunismus analysiert wird, beschreiben wesentlich Sein und Bewußtsein einer sowjetischen Gesellschaft, die immer chancenlos war, unmittelbar zum Sozialismus zu gelangen. Ihr Sein: der ursprünglich hoffnungslose Stand der Produktivkräfte. Ihr Bewußtsein: der Hunger der Massen, der Warenhunger, die lockenden vollen Schaufenster im Westen, das Ressentiment der Führung und die Furcht gegenüber diesem als Feind empfundenen Westen, der daraus notwendig entspringende Pragmatismus, Opportunismus bei der Behandlung des Aufbaus, der großartig sozialistisch sein sollte und doch teilweise mit ursprünglicher Akkumulation, also mit Superausbeutung der Menschen wie im frühesten Frühkapitalismus, beginnen mußte.

Der Kapitalismus ist die alles beherrschende Vaterfigur dieser unteilbaren Welt. Er korrumpiert jeden Versuch der Auflehnung. Das Bewußtsein der Sowjetbürger konnte sich bis in die Gegenwart nicht einstellen auf die objektiv nichtkapitalistischen Produktionsverhältnisse. Die Sowjetmenschen konnten nicht jene projektierten heiteren Atheisten werden, die an die Kraft des Menschen glauben und die Fetische Wirtschaftswachstum, Leistung,

Konsum belächeln. Sie beten heute zu Autos — wie wir. Die Quantitäten der Produktion sind ihnen, wie uns, heiligmäßige Beweise für oder gegen die Güte des Gesellschaftssystem? geworden.

Sozialistische Kultur gibt es heute nicht, kann es nicht geben — außer in der befreienden Vorstellung vom nicht mehr vorhandenen Kapitalismus.

Der Kapitalismus steckt in aller unserer Nichtkultur, auch dort, wo die Menschen ihn oft gar nicht vermuten.

Warum gibt's Kriege? Weil es das Schicksal der Menschheit ist? Nein: Weil hier zwar irrational anmutende, aber letztlich logische Kapitalsinteressen (Indochina) vorliegen.

Oder der arabisch-israelische Konflikt. Er ist doch nichts anderes als das schreckliche Erbe jenes aggressiven Kapitalismus, der Kolonialismus und Imperialismus heißt und jetzt, nachdem er 1948 mit einem scheinbar friedlichen Machtwort in Palästina den Konflikt installiert hat, seine Hände in Unschuld wäscht.

Oder vom Blut der anderen zur eigenen Hygiene: Warum sind Gemeindepolitiker und Stadtplaner prinzipiell nicht imstande, unsere

Städte wirtlich zu machen? Die Aus Schaltung des wesentlichen kapitalistischen Elements, der privaten Grundrente, würde die Problematik rasch entwirren.

Warum sind die Menschen dem Konsumterror, der Verblödung durch Werbung ausgeliefert? Weil eben diese Verblödung durch die Scheinvernunft der Objektwelt gefordert wird.

Keine Unaufrichtigkeit in unserer heutigen Kultur, die sich nicht der Kulturlosigkeit der Verdinglichungs-prozesse verdankte. Das gilt für Unternehmerverbände, wenn sie nasal vom Gesamtinteresse der Gesellschaft reden und im tiefsten nur die Kapitalbewegung und das an sie attachierte armselige Privatinteresse meinen. Das gilt auch von den Gewerkschaften, die den Kapitalismus honorig quetschen und würgen, ihn aber ja nicht umbringen wollen.

Die „Kunstproduktion“

Und die Kultur im engeren Sinn, also die, die so fein ist, daß man schon Kunst zu ihr sagt?

Wo sie aufrichtig sein möchte, opponiert sie, versucht sie dem Publikum dessen Verhältnisse (Manipuliertwerden) zu erklären. Das Ergebnis ist nur manchmal befriedigend, meist aber, weil grundlegende Aufklärung künstlerisch schwierig zu leisten ist, verworren, verwirrend, schlicht langweilig.

Andere Künstler wieder entziehen sich einfach arrogant der Ratio der

Verdinglichungsprozesse: sie machen sich mit Raffinement nutzlos, formlos, spielen unendlich mit sich selbst, spielen Seelen-Elite und verzichten — fast — auf soziale Kommunikation. Das asoziale Produkt ist dennoch nicht ohne Nutzen: Der Kapitalismus hat den größeren, er kann seinen klapprigen kulturlosen Mechanismus mit irrationalen Fetzen popig verkleiden. Der Ahner einer nichtkapitalistischen Welt wieder kann, immerhin, in dieser oft nur lallenden, oft unverständlichen Kunstproduktion den unbewußten Wunsch ihrer Schöpfer erkennen, die Vernunftehe der Mutter Gesellschaft mit dem Kapitalismus durch Vorweisung des sonderbaren Balgs zu desavouieren.

Und der Rest, der große Rest der Angepaßten, der braven Künstler, der schöpferischen wie der nachschaffenden? Was taugen die zur Erhellung der Situation?

Reden wir hier nicht, im Detail, weil das zu weit führen würde, von den großen Orchestern dieses Landes, die es mit der routinierten Vermittlung der ewigen Werte haben; gegen die lärmenden Widersprüche der Gegenwart nehmen sie Ohropax sowie die Erklärung, neuere Musik schrecke das Publikum nur ab. Ersparen wir uns eine ausführliche Polemik gegen die Bundestheater, wo das Ergebnis der dortigen Versuche, endlich personell und geistig auszumisten, abzuwarten bleibt.

Aber nehmen wir beispielsweise die glänzend sein wollenden Festspiele ä la Salzburg oder auch nur Bregenz. Deren Wert scheint mir weniger darin zu liegen, daß sie für die Kultivierung der Bevölkerung von Belang seien, als daß sie sich als Demonstrationsobjekt eignen: Wo sonst ließe sich sinnfälliger darlegen, wie Kunst nur zur unverbindlichen Freizeitgestaltung, zum Daneben des Normallebens, zum Opium wenn schon nicht des Volkes, so doch einer privilegierten Gruppe geworden ist, die es unentwegt ins singende, klingende Panoptikum des 19. Jahrhunderts zieht?

Angesichts konventioneller Fest-spielrummeleien erstaunt mich am meisten, daß es derlei überhaupt noch gibt. Dieser nur sich selbst dienende Troß von Organisatoren, diese hofrätlichen, angejahrten Stars, dieses Publikum, von. dem noch immer das Epitheton „erlesen“ im Schwange ist — wie sich das wie schlaue, egoistische Kinder vor der Kälte draußen verkriecht in die schummrigen Festspielhöhlen und, indem es seelisch schunkelt, sein eigenes Vibrato kennerisch durchkostet! Welcher kulturellen Entwicklung dient das? Es dient nur der Nichtkultur, der Verfestigung der verdinglichten Strukturen.

Um ein .richtiges Bewußtsein

Eine praktische Frage also: Sollte das nicht zu reparieren sein, zum

Beispiel mit kulturpolitischen Hammerschlägen?

Ich glaube, die Aufgabe ist größer. Es geht ja bei der kommenden Kultur nicht nur um die sogenannte gehobene Kultur, sondern um die tieferliegenden Prozesse, um den allgegenwärtigen Kapitalismus.

Die Hauptfrage also: Wie ließe er sich insgesamt zerschlagen?

Er läßt sich nicht auf einmal und an einem Ort, in einem Land, zerschlagen. Es werden viele Hämmer für die verschiedensten Zwecke nötig sein. Nicht nur plumpe Vorschlaghämmer zur direkten Bearbeitung der Eigentumsverhältnisse, 1 auch Gummihämmer zur Überprüfung der Reflexe unseres Patienten (wie weit stimmen die noch?), auch leichte Klopf-an-Hämmerchen zum Aufspüren neuralgischer Punkte.

Auskultieren wir unermüdlich diese Nichtkultur nach ihren Ver-dinglichungen. Heranbildung von richtigem Bewußtsein ist alles.

Niemand vermag sich eine Welt ohne Kapitalismus im einzelnen vorzustellen. Aber die Gesellschaft mag sie ahnen. Sie verneint bereits da und dort ihre Mißstände, sie ist nur nicht imstande, mit einemmal und bewußt ihre Kräfte zu einer Konstituante zu versammeln, die die allgemeine Vermenschlichung ausspricht.

Ich riskiere einen beruhigenden Vergleich mit der Sprache. Wenn ein Mensch in einer bestimmten Situation sich artikulieren will, bedient er sich unbewußt seines Vorrates von festen Wortverbindungen (syntag-matischen Typen), die er mit ebenfalls auftretenden assoziativen Gruppierungen (virtuellen mnemotechnischen Reihen) verschneidet; und zwar geht diese Selektion im Gehirn als quasiautomatischer Prozeß des kontinuierlichen Verwerfens sowohl der untauglichen Syntagmen wie der assoziativen Glieder vor sich

— übrig bleibt bei diesen komplexen Negieruhgsvorgängen das positive Zeichen; ein Wort oder eine Wortgruppe, die ausgesprochen werden. Dieses Zeichen aber kann noch nicht die ganze Vorstellung ausdrücken, das Individuum differenziert daher

— wieder ein Prozeß des Verneinens

— mit dem nächsten Wortschub den vorangegangenen und so fort, bis der positive Sinn, die vordem undeutliche Zielvorstellung, zu Ende artikuliert ist.

Die Gesellschaft, das heißt die Menge ihrer Individuen, hat insgesamt undeutliche humane Zielvorstellungen. Sie plagt sich mit der vorgefundenen Kultur, mit den ökonomischen, politischen, künstlerischen Zuständen, wird ständig vor den Kopf gestoßen, läßt sich unzählige ihrer Lage scheinbar entsprechende übliche Verhaltensweisen durch den Kopf gehen, probiert sie durch, verwirft sie als unzureichend, läßt dis eine oder andere Haltung aber als positiv gelten — zum Beispiel das unentwegte Fragen nach den eigentlichen Grundwerten des Menschen. Sie klaubt aus allem Negieren der Gegenwart langsam das Richtige für die Zukunft.

Und indem sie an ihrem riesigen Satz herumformuliert, indem sie ihn irgendwie machen will, nämlich in die sozialistische Kultur, weiß sie noch nicht, wie das Positive schließlich beschaffen sein wird. Darum wirkt sie unelegant, unruhig und stottert jetzt noch.

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