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Hegel und die Folgen

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Wie sehr dieser Standpunkt in die Zukunft weitergewirkt hat, zeigt die Tatsache, daß sich nahezu alle, die Kunst heute totsagen, die das Ende der Kunstperiode verkünden, auf Hegel berufen. Daß daneben nach wie vor Kunst im Sinne des Spiels betrieben wird, läßt erkennen, wie wenig von den ursprünglich vorhandenen Widersprüchen auch heute noch bewältigt wurde. Seit Baumgarten, der als Schöpfer des Begriffs Ästhetik gilt, hat sich die Trennung zwischen sinnlicher und rationaler Erkenntnis erhalten. Seither spitzten sich die Gegensätze noch zu. Während nämlich Hegel dem Schönen und der Kunst einen festen Stellenwert in seiner Metaphysik zugewiesen hat, stellt sich mit dem Zuendegehen der philosophischen Ästhetik heraus, daß das Erbe von verschiedenen Einzelwissenschaften wie Philologie, Kunstwissenschaft, Linguistik und empirischer Soziologie angetreten wurde. Und durchaus nicht zum Vorteil der Kunstbetrachtung. Denn nicht nur widersprechen die Methoden einander; auch das Interesse der einzelnen Disziplinen an Kunst ist unterschiedlich und oft auf Teilprobleme beschränkt. So kommt es zu der grotesken Situation, daß es keine geschlossene Darstellungs- und Betrachtungsweise der Kunst gibt, wenn man von den klassischen Versuchen marxistischer Ästhetik absieht. Auch die von Max Bense vertretene Informationsästhetik bestreicht nur einen unverhältnismäßig schmalen Ausschnitt der Kunstproduktion. Überdies geht sie völlig unhistorisch an das Problem des ästhetischen Wertes heran, oder leugnet überhaupt die Möglichkeit, zu objektiven Wertbestimmungen zu gelangen. Doch nach wie vor werden Gedichte geschrieben, nach wie vor erscheinen den Kassandrarufen zum Trotz Romane in zum Teil beträchtlich hoher Auflage.

Hach Ansicht von Walter Benjamin haben diese Massenproduktionen und die Möglichkeit, Kunstwerke in einem hohen Grad technischer Vollkommenheit zu reproduzieren, zum Verlust an Echtheit geführt. Kunst jedoch im Zeitalter der rapiden Zunahme mechanischer Reproduktionsmöglichkeiten ist durch den immer rascher vor sich gehenden Verschleiß ihrer formalen Möglichkeiten charakterisiert. Dadurch aber sind auch — wie Theodor W. Adorno gezeigt hat — die Gehalte von Kunst fragwürdig geworden. Grundsätzlicher und weitaus tiefer stellt sich uns heute diese Fragwürdigkeit dar; sie erscheint unbehebbar durch Veränderung des Stils oder der Sprache. Die Entfremdung scheint Adorno bereits so weit fortgeschritten, daß die Möglichkeit von Kunst als solcher in Frage gestellt ist. Immerhin bleibt aber noch die Hoffnung, daß derart radikale Kritik und Zweifel selbst dem Prozeß der Verdinglichung und Entfremdung unterliegen, den sie am ästhetischen Objekt diagnostizieren. Und der Verdacht liegt nahe, es habe die Theorie wieder einmal die Praxis im Stich gelassen.

Anderseits zeigt sich, daß gerade die Gefährdung künstlerischer Aussageformen durch die Massenproduktion zu einer freiwilligen Beschränkung ihrer Aufnahmemöglichkeiten führen kann. Der Kreis, ir dem experimentelle Kunst heute anerkannt und auch verstanden wird ist klein. Ihn verbindet das Interesse, das er der Verlagerung vor Aussagen in den Innenraum des künstlerischen Geschehens, in die

Mittel entgegenbringt. Damit scheint zunächst nur an die Tradition des Spieles wieder angeknüpft. Doch läßt die Entwicklung der von der Informationsästhetik beeinflußten konkreten Poesie sowie einzelnes von Handke ahnen, daß eine Synthese von Spielhaltung und engagierter Kunst nicht unmöglich ist. Die Ansätze indes sind noch nicht allzu deutlich konturiert. Noch hat das Manifest, die Haltung des Prokla- mativen, die beide unmittelbar auf den Protest des Dandy zurückgehen, breiten Spielraum. Allerdings steht zu hoffen, daß die weitere Auseinandersetzung mit der Informationswissenschaft und mit der Linguistik zu stärkerer Konkretisierung der bislang doch recht abstrakten Sprachmodelle führen wird. Die Wanderungen auf schmalem Grat, die der Experimentator ohne Gewißheit auf Erfolg unternimmt, haben ihn zu einer Überspitzung seiner Vorstellung und zur Überschätzung seiner Möglichkeiten verführt. Manifest und Proklamation richten sich als Selbstschutz sowohl gegen die Umwelt, als auch ins eigene Lager zurück. Und als Selbstbestätigung erinnern sie etwas an das laute Pfeifen eines, der in der Dunkelheit durch den Wald geht.

Jedoch sie haben Tradition. Sowohl der Umschlag des Ästhetizismus ins Barbarische, mit dem der Fututrismus die Selbstzufriedenheit des Besitzbürgertums aufzurütteln suchte, als auch die Proklamation von Antikunst zielen unbedingt auf Eklat, wollen entschieden die Auseinandersetzung. Diese Auseinandersetzung ist aber selbst wieder historischer Veränderung unterworfen, wird sich also bei zunehmender Reizüberflutung nur noch als Zurücknahme der Reize, durch Reduzierung der Dosis bis zur Langeweile, provozieren lassen. Solchen oder ähnlichen Modellen gehorcht Kunst heute. Bedenklich daran ist nur, daß nicht mehr das einzelne Kunstwerk interessiert, sondern lediglich die Aufstellung eines solchen Modells. Wer einmal das Instrumentarium etwa der konkreten Poesie durchschaut hat, kann mühelos den ganzen Ablauf möglicher Textformen konstruieren. Sowohl diese Festlegung auf eine Theorie, die der konkreten Kunstproduktion vorausgeht, als auch die Reduzierung auf semantische und syntaktische Strukturen, die zu einem hohen Grad an Beliebigkeit, an Austauschbarkeit, des Schillerns und Oszillierens von Textgestalten führt, signalisieren Symptome weit- gender Entfremdung. Denn diese Strukturen entziehen sich doch zunehmend der Erfahrung des Empfängers. Vor allem findet dieser keinen Weg mehr, sie auf sich anzuwenden; bestenfalls kann er in ihnen ein eigentümliches Wert- und Bedeutungsgesetz feststellen. Dazu kommt, daß die Freiheit der schöpferischen Praxis wohl auch zu einer der Rezeption verpflichtet. Doch zeigt sich, daß der Empfänger von dieser Freiheit nur in negativem Sinne Gebbrauch machen kann. Die schreiten kann und will. Und nur dem Scheine nach setzt sie Bewußtsein in Gang. Denn von der Unverbindlichkeit der Spielwelt führt eben kein Weg zu kritischer Reflexion. Das Spielzeug aber läßt sich — wie zu Beginn bei Baudelaire gezeigt wurde — nach seinem Sinn nur befragen, indem es ihn zugleich aufgibt. Und das ist unser eigentliches Dilemma.

Gebrauch machen kann: Die Reiz- stellen sind zu dünn gesetzt, als daß sie Reflexion in Gang brächten, und die einzige Freiheit, zu der Kunst noch anreizt, ist nicht selten die Freiheit der Leere.

Umso problematischer muß daher der Anspruch erscheinen, den Eugen Gomringer für die konkrete Poesie erhebt: „Zweck der neuen Dichtung ist es, der Dichtung wieder eine organische Funktion in der Gesellschaft zu geben …“ Er zeigt, daß Realität — auch die relativ eng gezogene Realität ästhetischer Erfahrung — nicht mehr entsprechend durchschaut und interpretiert wird; daß Ideologien die Möglichkeit verstellen, Kunst als Mittel der Wirklichkeitserkenntnis wieder zur Wirkung kommen zu lassen. Nur so ist es zu erklären, daß einfach Blindheit dafür besteht, wie sehr diese Kunst — diese entfremdete, verdinglichte und fetischisierte Kunst — selbst Produkt einer Gesellschaft ist, die sie zu bekämpfen vorgibt. Sie ist in ihren eigenen Ansätzen gefangen und bleibt es, solange sie diese nicht überschreiten kann und will. Und nur dem Scheine nach setzt sie Bewußtsein in Gang. Denn von der Unverbindlichkeit der Spielwelt führt eben kein Weg zu kritischer Reflexion. Das Spielzeug aber läßt sich — wie zu Beginn bei Baudelaire gezeigt wurde — nach seinem Sinn nur befragen, indem es ihn zugleich aufgibt. Und das ist unser eigentliches Dilemma.

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