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Die Opfer kämpfen weiter

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Nicht nur das zufällig Persönliche, sondern eine ganz bestimmte Haltung ist es, die durch den einzelnen — wenn auch vielfach gebrochen — zutage tritt. Bei Schreibenden kann dieses Eigentliche, durch ihre Bemühung um möglichst knappe und genaue sprachliche Form, besser erkannt werden, obwohl gerade in ihrem Fall die Gefahr besteht, ein Gewebe aus Worten und Sätzen könnte die Tatenwelt der Person — seine nicht literarische, sondern humane Wirklichkeit — der abwägenden Betrachtung entziehen.

Die Haltung, die hier ins Licht gerückt werden darf, ist allen gemeinsam, die sich, durch die Greuel des Jahrhunderts betroffen, gezwungen sehen, die Todesgefahr zu bannen und den Zufall ihres eigenen Überlebens als bewegende Kraft in Worten und Taten fruchtbar zu machen. Hier liegen die Wurzeln ihrer literarischen Arbeit, ihrer schwachen Versuche, auf das Gemeinwesen zu wirken, auch ihrer persönlichen Neigungen, die letztlich ihre, Lebensformen ergeben.

Was die Literatur betrifft, so empfinden diejenigen, die den Massenwahn des Nationalsozialismus und des Stalinismus wie ein Wunder überlebt haben, das geschriebene Wort als Teü eines ununterbrochenen, zuweüen ins Unterirdische verdrängten Strömens von Erfahrung und Erkenntnis, das seit viertausend Jahren alle Zeiten und Kulturen verbindet und Gedanken und Empfindungen über die Vergänglichkeit der Dinge hinwegträgt in einer Sphäre des Seins, die von den Mördern niemals betreten, nicht einmal berührt werden kann.

Wer jemals, und auch nur in der Laune einer flüchtigen Stunde, ein Gedicht geschrieben, eine Reflexion aufgezeichnet, eine auf Wahrheit zielende Beobachtung notiert hat, vermochte dadurch den Geist der Sekunde zu retten, am anonymen Werk des gemeinsamen Schrifttums mitzuweben und dadurch ein Stück Menschlichkeit dem Tod zu entziehen. Von dieser und keiner anderen Einsicht getrieben trachten die Uberlebenden des Jahrhunderts danach, auf die Botschaft der Zeiten zu horchen, in der kurzen Spanne ihres Lebens möglichst vieles aufzubewahren, sich nach bescheidenen Kräften an diesem endlosen Gespräch von Menschen und Kulturen zu beteiligen, Erhaltenes und Selbst-Erfahrenes weiterzugeben und dadurch Leben zu vermehren.

Die Möglichkeit, Literatur als Spiel zu betreiben, mit Worten zu experimentieren, die Lust, Sinnzusammenhänge mutwillig zu zerbrechen, bleibt ihnen freilich versagt; sie fühlen sich — verwundet, wie sie sind — der Suche nach Sinn und Sinnlichkeit der Sprache, der Suche nach dem Wert im Wort verpflichtet. Auch werden sie alle geschlossenen Wertsysteme aller festgefügten Weltanschauungen mit äußerstem Argwohn verfolgen: viel zu oft haben sich solche aus abstrakten Begriffen verfertigte Strukturen der angeblichen Menschheitsbeglük-kung als Anleitungen zu Mord und Verfolgung erwiesen.

Den phüosophierenden

Schreibtischtätern werden wir, je nach persönlicher Geistigkeit, den Glauben an eine göttliche Ordnung der Schöpfung oder die lächelnde Skepsis von Epikur und Montaigne, und in manchen Fällen sogar beides, entgegensetzen, denn zwischen Augenblick und Ewigkeit gibt es kein Drittes, und die Einheit von Geist und Materie ist genauso unzerstörbar wie die Identität von Inhalt und Form. Dagegen werden die Uberlebenden des Jahrhunderts nach den Ursachen des Unheüs suchen, in ihren Romanen die Verkettung von Schuld und Sühne und neuer Schuld beschreiben, sich der Sprache als einem Mittel der intellektuellen Analyse und zugleich als einer körperlosen Wesenheit aus Klang und Rhythmus anvertrauen.

Es gibt viele Möglichkeiten, die Literatur dem Tod entgegenzusetzen, doch äußert sich in jeder nur die eine einzige Regung als treibende Kraft. Das Werk meines verstorbenen Freundes Herbert Eisenreich, diese bedeutendste Hervorbringung österreichischer Epik des letzten Jahrzehnts, mag in seiner Fülle und Tragik als lebendiges Beispiel dienen.

Was nun die Welt der Taten betrifft, so werden die Uberlebenden des Jahrhunderts es nicht allein mit der Ablehnung der geschlossenen politischen Denksysteme bewenden lassen; sie werden die Verneinung umstülpen in die Bejahung von Unternehmungen, die geeignet sind, die Wohlmeinenden zu suchen über alle Grenzen hinweg, die Staaten, Sprachen, Generationen, ja Mentalitäten voneinander trennen; sie werden trachten, die Verwobenheit der verschiedenen Kulturen überall in der Welt und freilich vor allem im weiteren Raum ihres eigenen Lebens — und dieser ist für uns die Donauregion — zu begreifen und begreifbar zu machen.

An diesem Punkt tritt kein Wunschtraum und keine Chimäre, kein anachronistischer Mythos und keine gekünstelte Illusion eine's törichten politischen Spiels in Erscheinung, sondern die Achtung des Lebens in seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit, in seiner Bewegtheit und Dauer, in den täglichen Möglichkeiten der Erneuerung und im Fortbestand historisch geprägter, in der Tiefe der kollektiven Erinnerung wirkender Kräfte.

Die einzelnen farbigen Glassplitter des Kaleidoskops, die immer wieder neue Motive ergeben, sind bestimmender als ihre bizarren Spiegelungen; die Ordnung der Geometrie, die ihr Wechselspiel bestimmt, hat mehr Bedeutung als die flüchtigen Bilder bunter Arabesken. So versuchen wir die Donauregion betreffend im Teü das Ganze, in der Erscheinung das Gesetz, in der Vielfalt die Einheit zu erkennen und— immer noch in Gedanken an die erfahrene Todesgefahr — jeden einzelnen Mosaikstein gegen mutwillige Zerstörung, aber auch gegen die Kräfte der Vergänglichkeit, zu beschützen.

Das macht uns zu Freunden der bedrohten Volksgruppen und bedrängten Minderheiten, denn jedes einzelne slowenische Wort, das in Kärnten aus dem gemeinsamen Wortschatz aller Österreicher verlorengehen könnte, macht unser gemeinsames Dasein ärmer, und jedes einzelne Dorf, das, trotz mancher Bemühungen, in Niederösterreichs Wäldern an der toten Grenze zu Böhmen allmählich verödet, erscheint uns als Sinnbild einer uns alle betreffenden geistigen Verkarstung.

Wenn sich mein Freund Müo Dor der ermüdenden und wenig bedankten Pflicht unterzieht, die schlimme soziale Lage der österreichischen Autoren zu verbessern, dann ist das seine Antwort auf die Schläge, die er im Hauptquartier der Gestapo in Wien hatte erleiden müssen, und wenn ich im Rahmen des österreichischen PEN-Clubs versuche, für die internationale Solidarität der Literaten etwas zu tun, dann bekämpfe ich die Mörder, die im Jahre 1944 einige meiner Nächsten zu Tode gebracht, in den Jahren 1948 und 1958 meine politischen Lehrmeister gehenkt haben. An diesem Punkt geht es nicht um kleinliche Querelen zwischen Stilrichtungen, Gruppen und Cliquen, sondern um eine Art Wiedergutmachung, die — im Gegensatz zu jeder Wieder-schlechtmachung — Leben vermehren kann.

Auch in der Welt der literarischen Themen, in der Form, die der Inhalt ist, in der persönlichen Lebensführung macht sich auf diese Weise ein Paradoxon erkennbar. Wer die Hölle nicht kennt, nicht am eigenen Leib erfahren hat, will sie als die Summe aller normaler menschlichen Beziehungen beschreiben; wer die Todesgefahr nicht erlebt hat, macht den Tod zum Mittelpunkt eines verfeinerten Manierismus; wer die mörderischen Auswirkungen totalitärer Systeme nicht erlitten hat, bringt ihre Leitideen geschmäcklerisch aufbereitet auf die Bühne — die Uberlebenden aber heüen sich an der Inhalte klärenden sinnlichen Kraft der Sprache, verteidigen das humanistische Erbe aller Kulturen gegen die Gefährdung durch Ideologie und Geschäft, suchen Zuflucht gegen bedrängende Erinnerungen in den Stunden des gesteigerten Lebensgefühls. Sie sind dankbar für das gute Gespräch unter Obstbäumen, in denen sich die Fruchtbarkeit lautlos erneuert, und begreifen im Heranreifen des jungen Weins fürwahr andächtig das tföstliche Wirken einer errettenden Vitalität.

Das sind die wesentlichen Züge jener Haltung, die kurz darzustellen sind als Grundlage mancher Bemühungen, die Wirklichkeit in der Sprache zur Wahrheit zu verdichten und im Leben die ordnende Kraft des Geistes wirken zu lassen. Das Barbarische ist in Europa, auch in uns selbst, immer noch zugegen. Ihm die Kräfte der Kultivierung entgegenzusetzen bleibt tägliche Pflicht.

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