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Demokratie und Konservativismus in Österreich

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I.

Unsere Zeit verlangt von uns Entscheidungen aus der Tiefe unseres Wesens. Auch das Wort von der Demokratie wird zur Maske, wenn es nicht Ausdruck solcher Entscheidungen ist. Darum müßte die Demokratie von heute, wirklich ernst genommen, von drei Prinzipien getragen sein: Demokratie muß zuerst bedeuten, daß jedem einzelnen . die ganze Schwere der Entscheidungen, die die Lebensgestaltung von Generationen bestimmen wird, in voller Verantwortung aufgelastet ist. Davon sollte auch zuweilen die Rede sein, und auch davon, daß keine Gruppe in einem Volke und kein Volk in der Völkergemeinschaft in der Verfolgung gerade seiner Interessen jenseits von Gut und Böse steht„ daß kein Volk und keine Gruppe und keine Rasse und keine Klasse sich anmaßen darf, das unverantwortliche Instrument einer anonymen Entwicklung zu sein. — Demokratie bedeutet sodann, daß jedes Volk sein öffentliches Leben im Rahmen dieses Bewußtseins einer Gesamtverantwortung so einrichtet, wie es seinem Eigensein und nicht wie es irgendeiner Doktrin entspricht. Wo das staatliche Leben in seiner äußeren Umgrenzung und seiner inneren Ordnung dieses Eigensein nicht zum Ausdruck bringt oder bringen kann oder darf, dort kann es wefler einen Patriotismus geben noch einen Willen zum Aufbau, noch einen Willen zur Einfügung in eine neue Weltordnung. Wenn das Eigensein inhaltlich oder gebietlich verstümmelt oder unterdrückt wird, wird man es füglich für recht gleichgültig halten, wie der Staat oder die Weltordnung heißt, die solches tut. Das gilt bis herab in die Einzelheiten der sozialen Ordnung. Ein unterdrücktes Eigensein wandelt sich bei einzelnen wie bei ganzen Völkern unaufhaltsam zur Überschätzung und zur Einseitigkeit. Und diese Einseitigkeit wird die verfehlte Ordnung sprengen trotz aller Bemühungen der Macht und der politischen Pädagogik. In diesem Sinne sollte man auch versuchen, aus geschichtlichen Erfahrungen zu lernen. — Demokratie muß endlich bedeuten, daß in ihr alle Gegensätze auf der Ebene der unantastbaren sittlichen Normen und des geschichtlich geformten Eigenseins des Volk es zu fruchtbaren Spannungen werden, die ihre Ausartung zu Einseitigkeiten verhindert, um so alle lebendigen Kräfte der Ausgestaltung des staatlichen Daseins zuzuführen.

Um aber alle lebendigen Kräfte zu erfassen, muß die Ordnung des Gemeinschaftslebens zwei Elemene vor allem zum Ausdruck zu bringen und zu vereinigen verstehen, die immer miteinander in Spannung stehen und nur in Gegenseitigkeit fruchtbar sind und Leben zeugen: die Stetigkeit im Grunde und den ununterbrochenen Wandel der äußeren Form, das konservative Prinzip und das Prinzip der stetigen Erneuerung, das wir vielleicht das revolutionäre Prinzip nennen können. Statik allein läßt das Leben erstarren. Dynamik allein läßt es zerfallen. Darum braucht jedes Leben beide, braucht echten Konservativismus, als Konservativismus der Idee, des Lebensprinzips, nicht der äußeren Formen, und braucht ebenso ständiges Neubilden, Neuschaffen, das seine, Kraft aus dem stetigen Grunde des Lebensprinzips schöpfen muß, da es sonst anarchisch würde.

Auch mitten in der Zeit eines Neuaufbaues vom Grunde aus, ja gerade dann, ist die Besinnung auf beide Prinzipien notwendig, weil gerade dann verhängnisvolle Einseitigkeiten stimmungsmäßig naheliegen und ihre Propaganda Aufnahmsbereitschaft findet. Gerade in der Demokratie darf der Begriff des Volkes nicht mit dem Fluche der Einseitigkeit beladen, sondern muß allseitig und leben-d i g gefaßt werden.

Es ist deshalb vor uns selbst und vor der Weltöffentlichkeit unsere Pflicht, daß wir Österreicher uns auf unsere Eigenart in ihrer ganzen Fülle besinnen, die ohne innere Bejahung unserer Geschichte schlechthin in nichts versinkt. Wir müssen sie denen, die darangehen, der Welt eine neue Ordnung zu geben, verständlich machen, müssen ihnen auch das verständlich machen, daß sich unsere Eigenart nicht darin erschöpft, daß wir etwas nicht oder nicht mehr sein wollen, daß unsere Eigenart auch nicht darin besteht, daß wir jeweils das sein wollen, was andere von uns verlangen, sondern daß wir das nur sein können und wollen, was wir sind. Das ist um so mehr unsere Pflicht, weil die Grundlage unserer Selbständigkeit mehr als bei anderen Völkern in der Treue zu unserer Geschichte liegt. Was wir nicht aus uns selbst, aus dem ursprünglichen und tiefsten geschichtlichen Wollen in unserem Vaterlande als staatsbildende Kraft schöpfen können, kann auch nicht Grundlage unserer Staatlichkeit sein. Und was rings um uns in den letzten hundert Jahren an staatsbildenden (und oft menschenverstümmelnden) Kräften wirksam geworden ist — nicht ohne Spuren bei uns selbst zu hinterlassen —, spricht nicht für, sondern gegen unsere Selbständigkeit. Denn diese Kräfte haben Österreich 1918 zerschlagen und seither in Frage gestellt. Darum brauchen wir mehr als andere Völker einen gesunden, lebendigen österreichischen Konservativismus als Grundlage unserer staatlichen Selbständigkeit. Hier liegt das Problem.

II.

Das Verlangen nach staatlicher Sicherung seines Eigenlebens ist in jedem Volke ein spontanes, kommt aus den Wurzeln des Lebens und der Eigenart. Das ist zweifellos auch bei uns Österreichern der Fall. Um so mehr muß es wohl dem heute über unsere Existenz als Staat mitentscheidenden Ausland eigenartig anmuten, daß wir trotz dieses Verlangens, zumindest seit 1918, nicht aufhören, über Österreich, österreichertum, „österreichische Menschen“ usw. bei uns selbst in einer Weise zu diskutieren, die wohl kaum in einem anderen Volke eine Parallele findet. Es wäre lächerlich zu behaupten, daß diese Tatsache nicht irgendwo einen objektiven Grund hätte, und lächerlich zu glauben, daß ein Problem nicht mehr bestünde, wenn man darüber schweigt.

Der objektive Grund unserer Diskussionen liegt wohl darin, daß wir aus dem Rechte unseres geschichtlichen Werdens unser Wesen an Aufgaben gebunden sehen, die irgendwie in einem Mißverhältnis zur realpolitischen Bedeutung unserer Eigenstaatlichkeit stehen, die wir aber doch als deren eigentlichstes Fundament zu erkennen glauben. Daher das Rätselraten um Österreich, seine kulturelle „Mission“, seine Stellung zwischen Ost und West usw. Gerade die bis zum Überdruß ausgeschrotete und bis zur Sinnlosigkeit mißdeutete schicksalhafte Stellung zwischen Ost und West beweist dies. Sie ist nicht eine Angelegenheit lediglich der geographischen Lage. Schließlich liegt, jedes Land zwischen Ost und West. Das Schicksal, das hier gemeint ist, wurzelt in kulturellen Prinzipien, in solchen allerdings, die im Zeitalter, da der Nationalismus alin staatenbildend und Ökonomie und Tech lik allein weltgestaltend sein sollten, als veraltet beiseite gestellt worden waren. Gerade diese Prinzipien aber hatten unser Menschentum und unser Staatswesen so stark geprägt, daß sich der Österreicher selbst als veraltet und beiseitegestellt fühlte. Man mochte wohl glauben, die Seele Österreichs sei von der Weltgeschichte in Pension geschickt. Kann man sich da wundern, daß sich der Österreicher je nach Veranlagung entweder verträumt in die Vergangenheit versenkte oder zum „Raunzer“ wurde oder sich von jenen staatsbildenden Kräften erfassen ließ, die ringsumher neue Staaten erstehen ließen, Österreich selbst aber sinnlos zu machen schienen? So blieb von Österreichs schicksalhafter Lage und Überlieferung nur das spürbar, daß wir es niemandem recht machen können, daß wir uns zu nichts entschließen können, daß wir unsere Überlieferung in staatlicher Ausformung weder bejahen noch verleugnen können, ohne in das Kraftfeld weltpolitischer Spannungen zu geraten, auf Widerspruch hier, auf Zustimmung dort zu stoßen, und ohne daß sich dies alles auch in innerpolitischen Gegensätzen ausformte.

Österreichs Sinn und Seele, sein Schicksal und .seine Geschichte liegen darin, daß sich hier nicht die vitalen Kräfte nationalen T \seins — in der üblichen Bedeutung dieses Wortes — die Form eines Staates gaben, sondern daß die umfassende Kulturidee der christlichen Völkergemeinschaft Menschen' von überall her anzog ' und Menschen formte, um sich politische Gestaltungskraft zu geben. Diese kulturelle Idee sollte im so geformten Menschentum und durch dieses Menschentum den Fluch der Einseitigkeiten überwinden, vielfach gerade jener Einseitigkeiten, die in unserer Zeit Europa zum Sturz brachten. Das war Österreichs Lebensbedingung, etwas Großes, solange das kulturelle Prinzip in voller Lebenskraft stand, ein „Fortwursteln“, sobald dieses Prinzip seine menschengestaltende Kraft einzubüßen begann. Österreich aber verliert seine Seele, wenn seine Menschen die innere Beziehung zu diesem kulturellen Prinzip verlieren und sich irgendwelchen Einseitigkeiten verschreiben, sei es nationalen, politischen oder sozialen. Und mit seiner Seele verliert Österreich unerbittlich seine tatsächliche Selbständigkeit. Daran wird auch die Zukunft nichts ändern. Österreich ist vor allem politisch gestaltete Kulturidee. Hitler wußte das. Er verbot den Namen Österreichs, denn dieser Name ist das mahnende Gewissen aller derer, die Europas Kultur vergewaltigen wollen. Darum kann Österreich nur getragen werden von solchen, die aus seiner Geschichte und aus den tiefsten Prinzipien seiner Kultur geformt sind, in denen diese Prinzipien noch Prinzipien des Lebens sind und nicht bloße Erinnerung. Hier liegt die grundsätzliche und konkrete Bedeutung des österreichischen Konservativismus. Jeder rührt an den menschlichen Grundlagen unserer Staatlichkeit, der ihn ausschalten will, aber auch jeder, der ihn an Formen binden will, die nicht mehr Formen des Lebens sein können.

III.

Um die seelischen Schwierigkeiten einigermaßen zu verstehen, die sich für den Neubau unseres Staates aus diesen Tatsachen ergeben, genügt ein geschichtlicher Blick auf den Grund seines Bestandes. Schlagwortartig — nicht wissenschaftlich genau — kann man ihn so formulieren: Österreich im heutigen Sinne ist nie entstanden. Österreichs Schicksal war es — übrigzubleiben. Es ist übriggeblieben im Jahre 1806, übriggeblieben 1866, 1918 und 1945. (Schon daraus ergibt sich, daß e? ein grundlegender Irrtum wäre, zu glauben, man könne dieses Österreich nun positiv aufbauen unter Berufung auf jene staats-bildcnden Kräfte, die sich im 19. Jahrhundert in Mitteleuropa auswirkten und 1918 ihren Höhepunkt fanden. Denn sie waren Österreich gegenüber staatszersetzende Kräfte. Man kann nicht heute, da die Kraft der Nationalismen sich überschlägt, eine solche Kraft für Österreich neu erfinden. Und es ist die Kehrseite des gleichen Irrtums, zu glauben, man könne dieses Österreich zugleich negativ darauf gründen, daß es diesen Nationalismen entgegensteht, während sie ringsumher hochgezüchtet werden. Das wäre von vornherein Einseitigkeit.)

In dem Übriggeblieben-Sein liegt Österreichs Tragik, liegt seine gegenwärtige Problematik und liegt — so merkwürdig es auf den ersten Blick scheinen mag — auch sein geschichtlicher Sinn.

Österreichs Tragik besteht darin, daß es seit mehr als einem Jahrhundert gleichsam neben der Geschichte stand, mögen auch deren Ergebnisse sicherlich nicht Gerechtigkeit, Frieden und Ordnung heißen. Heute aber steht das Problem einer gerechten Friedensordnung gebietend vor uns, jenes Problem, das zu überwinden Österreich bis 1918 als seine klare Aufgabe erkannte. Wenn wir vor kurzem aus höchst berufenem Munde hörten, daß in diesem Räume Europas heute weder die geographischen noch die ethnologischen noch die ökonomischen Voraussetzungen zu einer befriedigenden Ordnung führen könnten, so wächst der Ur- und Kulturgedanke Österreichs in seiner ganzen Größe und seinem ganzen menschlichen Gehalt vor uns empor und veranlaßt uns darauf hinzuweisen, daß es neben den genannten Voraussetzungen noch den G e-sichtspunkt des Geschichtlichen gibt, den man nicht machtpolitisch, sondern kulturpolitisch fassen muß, und den man um so mehr berücksichtigen sollte, wenn er sich etwa auch noch mit dem ethnologischen deckt (Südtirol!). Gewisse „Umsiedlungen“, die einem gesunden Geschlecht unfaßbar wären, beweisen, was aus diesem Räume werden muß, wenn die Erben der großen schicksalhaften Idee sie nicht mehr zu fassen vermögen: ein Glutofen des Hasses und der Rachsucht!

Aus den Problemen der Zeit erwächst so von neuem Österreichs Sinn. Er wird sich in dem Maße gestaltend erheben, in dem sich die Einseitigkeiten politischer Gestaltungsgrundsätze totzulaufen beginnen. Österreich war der letzte Versuch, eine Friedensordnung der Völker auf dem Grunde der großen europäischen Einheitsidee erwachsen zu lassen. Österreich war als Rest dieser Idee — übriggeblieben, übriggeblieben in einem Räume, in dem sie unmittelbar politische Gestalt annehmen mußte, um verwirklicht werden zu können. Darum wird Österreich in seiner Elite immer geistig ringen um die Begründung eines weltweiten Ordnungsprinzips, aus seiner wesenhaft christlichen Substanz heraus Das ist nicht Anmaßung, das ist sein Wesen. Aus diesem seinem geschichtlichen Wesen lebt Österreich — sofern es lebt — um dem gequälten Europa das zu geben, was es so dringend braucht: die endliche Überwindung der einander gegenseitig blutig abwürgenden Einseitigkeiten sozialer und politischer Doktrinen. Dazu aber bedarf es Ehrfurcht vor der eigener! Geschichte, lebendiger Träger der Überlieferung, junger Kräfte aus altem Grunde.

Einer unserer führenden Männer hat den Gedanken ausgesprochen, daß große Ideen nicht von politischen Großmächten auszugehen brauchten Das gilt heute in besonderem Maße. Denn die Probleme unserer Zeit wurzeln tief im Menschlichen. Sie müssen von Menschen, nicht von Organisationen überwunden werden. Darum wird unser österreichisches Schicksal davon abhängen, ob das geistig-kulturelle Restösterreich noch in uns selbst lebendig zu machen ist, und ob wir es lebendig auswirken können kraft unserer Eigenstaatlichkeit. Das liegt gewiß nicht n u r an uns, liegt aber auch an uns. Der Nationalismus hat der Nation den Sinn geraubt, den sie nur finden kann in einer von einem kulturellen Prinzip getragenen Völkergemeinschaft: Österreichs Tradition! Vielleicht ist aber heute ein anderes noch wichtiger: die Einseitigkeiten des politischen Doktrinarismus zu überwinden, der nicht ein Volk, sondern die Welt erobern will, das menschlich Berechtigte zu erkennen, das unmenschlich und ungeistig Gewaltsame auszuscheiden im Namen der universalen Kulturidee Europas, die dort am wirksamsten ist, wo sie am längsten und am intensivsten die Menschen geformt hat. Das wäre österreichische Aufgabe, die wir nur erfüllen können, wenn wir nicht glauben, uns im Namen der Demokratie und anter dem Eindruck des politischen Augenblicks vor der eigenen Geschichte fürchten zu müssen. Die Tragik unserer Geschichte ist die Last und die Hoffnung unseres Daseins, die Tragik: daß wir abseits der Triumphe großer Einseitigkeiten lebten, leider aber nicht abseits der Katastrophen, die sie herbeiführten, die Hoffnung: daß wir als Rest bewahrt haben, was alle brauchen. Österreichs Aufgabe war eine wesenhaft konservative! Wer hier neu gestalten will, muß in der Vergangenheit wurzeln, und der, dem die Vergangenheit teuer ist, muß den Blick resolut der Zukunft zuwenden. Es kann ja doch nur die gleiche Sonne sein, die den Abendhimmel rötet und dem Morgenhimmel seinen Glanz gibt.

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