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Die österreichische Idee

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Während des ersten Weltkrieges gab Hofmannsthal im Insel-Verlag die „Oesterrei- chische Bibliothek heraus, eine Folge von Bändchen mit Briefen und Dokumenten, Gedichten und Monographien. Es sei, schreibt er in der Ankündigung dieser Reihe, etwas Stummes um Oesterreich, worauf Worte nur selten hindeuten. ,,Manches davon ist zu Zeiten Musik geworden. Die Musik kommt immer an ihr Ziel, das Wort irrt leicht ab. Aber auch in Worten wird ein Inneres tönend, und aus jedem der Büchlein, von denen hier viele nebeneinandergestellt werden sollen, dringt ein Seelenton. Aus ihnen zusammen, wenn einer mit liebevollem Horchen sie in eins zu hören vermöchte, erklänge jene selten in der Welt gehörte Stimme: die Stimme Oesterreichs.” Die Stimme Oesterreichs auch in unseren Tagen wieder hörbar zu machen: das ist auch die Aufgabe, welche sich die Herausgeber der „Oesterreich-Reihe” gestellt haben, die im Bergland-Verlag erscheint und bereits rund 25 wohlfeile und schönausgestattete Bändchen umfaßt. Dem von Helmut A. Fiechtner zusammengestellten und eingeleiteten Band: „Hugo von Hofmannsthal: Oesterreichische Reden und Aufsätze” entnehmen wir den folgenden Beitrag.

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Während des ersten Weltkrieges gab Hofmannsthal im Insel-Verlag die „Oesterrei- chische Bibliothek heraus, eine Folge von Bändchen mit Briefen und Dokumenten, Gedichten und Monographien. Es sei, schreibt er in der Ankündigung dieser Reihe, etwas Stummes um Oesterreich, worauf Worte nur selten hindeuten. ,,Manches davon ist zu Zeiten Musik geworden. Die Musik kommt immer an ihr Ziel, das Wort irrt leicht ab. Aber auch in Worten wird ein Inneres tönend, und aus jedem der Büchlein, von denen hier viele nebeneinandergestellt werden sollen, dringt ein Seelenton. Aus ihnen zusammen, wenn einer mit liebevollem Horchen sie in eins zu hören vermöchte, erklänge jene selten in der Welt gehörte Stimme: die Stimme Oesterreichs.” Die Stimme Oesterreichs auch in unseren Tagen wieder hörbar zu machen: das ist auch die Aufgabe, welche sich die Herausgeber der „Oesterreich-Reihe” gestellt haben, die im Bergland-Verlag erscheint und bereits rund 25 wohlfeile und schönausgestattete Bändchen umfaßt. Dem von Helmut A. Fiechtner zusammengestellten und eingeleiteten Band: „Hugo von Hofmannsthal: Oesterreichische Reden und Aufsätze” entnehmen wir den folgenden Beitrag.

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Die Welt hat in diesen vier Jahren von hier eine Kraft ausgehen sehen, die sich in immer neuen Wellen fühlbar machte. Ein immer erneuter Effort kann nun und nimmer von einer inerten Masse ausgehen und man war allmählich genötigt, dieses „Konglomerat”, dieses „Bündel von Nationen”, angeblich unter irgendwelcher tyrannischen Oberherrschaft stehend, als die Offenbarung einer geistigen Kraft und einer historischen Notwendigkeit anzusehen. Hinter der naiven und andauernden Hingabe so verschiedener Elemente mußte etwas sein von größter Spannweite, das mit den Begriffen der Organisation und Mache ebensowenig faßbar war als mit den entgegengesetzten der Trägheit oder der Gewohnheitskraft. Die Versicherungen des Erstaunens und der Anerkennung, die mir darüber in der Schweiz, in Polen, in Skandinavien, wo immer, entgegengekommen sind, waren sehr belehrend. Man sprach von einer bewundernswerten Regeneration, doch ist richtiger vielleicht der Begriff eines historischen Machtkomplexes, der sein natürliches Schwergewicht zurückgewonnen hat.

Man hatte Mühe, dies mit den geläufigen Vorurteilen übereinzubringen, vielmehr diese zurücktreten zu lassen; doch hätte man vielleicht vom Anfang an mehr an das Geistige denken sollen, wie man tatsächlich jetzt zu Ende des Krieges zu tun anfängt. Man erinnert sich, daß Daseinsgesetze sich vielfältig durchkreuzen und daß historische Phänomene dadurch nicht unedler werden, ja vielleicht gerade an einer höheren Ordnung der Dinge teilnehmen, weil sie als Produkte solcher Kreuzungen unübersichtlicher als andere und nicht auf den ersten Blick zu beurteilen sind. Und man hätte finden können, daß ein aus den Tiefen dringender und offenbar weder zu entwurzelnder noch zu ermüdender österreichischer Optimismus auf zwei Faktoren sich begründete, die, wie alles sehr Naheliegende, leicht zu übersehen sind, und in der Tat gegenüber den glänzenden und militanten Ideologien, welche alle Köpfe beherrschten und alle Federn beschäftigten, in das Dunkel getreten waren: die Dauer des Bestandes dieses Reiches und seine geographische Situation. Beides, das ehrwürdige Alter dieser Monarchie und ihre beherrschende Lage im Südosten und an den Ufern des größten Stromes, der Europa mit dem Orient verbindet, hätte müssen immer sehr hoch gewertet werden: beides ist durch diesen Krieg, welcher alle Werte geprüft und in ihrer wahren Ordnung bestätigt hat, g’eichsam rehabilitiert worden.

Die geographische Situation, eine Sache, die an sich unveränderlich Scheint und doch immer neuen Interpretationen unterliegt, und das Alter, ein Phänomen, an das wenig oder nur mit der gelegentlichen Geringschätzung des Halbverstandes gedacht wird, wo man doch jener Zeilen des Machiavell nicht hätte vergessen sollen, die klar und unzerstörbar sind, wie jeder Bruchteil seines politischen Denkens: „Was den Staat betrifft, so ist die Form seiner Regierung von sehr geringer Bedeutung, obwohl halbgebildete Leute anders denken: das große Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, welche alles andere aufwiegt” — auf ihnen beiden zusammen ruht in diesem Reiche das zurückgewonnene Gefühl der eigenen Bedeutung und damit der Mut, sich selbst zu verstehen und die Popularitäten, die sich innerhalb unserer Totalität geltend machen, als lebensfördernde Konstellation zu begreifen unsere gewohnten inneren Spannungen und Krisen aber als Vorwegnahme des Tiefsten, das dem europäischen Konflikt zugrunde liegt, bei uns schon fühlbar, als noch das übrige Europa, in der Dumpfheit ausschließlich materieller Interessen und in einem prekären Gleichgewichtszustand fixiert, seinen größten politischen, das heißt geistigen Problemen ins Auge zu schauen noch nicht den Mut hatte.

Es ist nicht gleichgültig, ob man von gestern oder als Mark des Heiligen Römischen Reiches elfhundert Jahre oder als römische Grenzkolonie zweitausend Jahre alt ist und seine Idee in dem einen Fall von römischen Kaisern, im anderen von Karl dem Großen, ihrem Nachfolger im Imperium, her hat, und dies in, der Form, daß das Wesentliche dieser Idee nie abgebogen wurde, sondern sich als ein Unzerstörbares im Vorbeirauschen von zehn und zwanzig Jahrhunderten erhielt.

Das Wesen dieser Idee, kraft dessen sie die Möglichkeit in sich trug, die Jahrhunderte nicht nur zu durchdauern, sondern mit einer immer wieder verjüngten Miene aus dem Chaos und den Kataklysmen der Geschichte äufzutauchen, liegt in ihrer inneren Polarität: in der Antithese, die sie in sich schließt: zugleich Grenzmark, Grenzwall, Abschluß zu sein zwischen dem europäischen Imperium und einem, dessen Toren vorlagernden, stets chaotisch bewegten Völkergemenge Halb-Europa, Halb-Asien und zugleich fließende Grenze zu sein, Ausgangspunkt der Kolonisation, der Penetration, der sich nach Osten fortpflanzenden Kulturwellen, ja empfangend auch wieder und bereit zu empfangen die westwärts strebende Gegenwelle.

Real’biš zür Vollkommenheit urid darum ihseinen letzten Konsequenzen überreal, das Praktisch-Politische überfliegend wie alle Elemente aus der großen geistig-politischen Erbschaft der Römer — und hierin der katholischen Kirche, der großen Fortsetzung des römischen Imperiumswesens, verwandt —, läßt diese Idee in ihrer geistigen Amplitude alles hinter sich, was nationale oder ökonomische Ideologien unserer Tage produzieren können. Sie allein hat eine österreichische Geschichte ermöglicht, die schwer zu schreiben ist, weil sie eine Geschichte fließender Grenzen ist, in der sich aber die Taten der babenbergischen Markgrafen und die der habsburgischen Dynastie, die Taten des Schwertes und der Abwehr, der Kirche und der Expansion, der Kolonisation und der Musik zu einer sehr hohen Synthese verbinden und die, obgleich sie ungeschrieben ist, eine darum nicht minder große geistige Macht ausübt, welche im Laufe der Jahrhunderte stark und beständig wie ein immer wehender Wind in die Poren und ins Mark der südöstlichen Völker eingedrungen ist.

Diese primäre und schicksalhafte Anlage auf Ausgleich mit dem Osten, sagen wir es präzise: auf Ausgleich der alteuropäischen lateinisch-germanischen mit der neueuropäischen Slawenwelt, diese einzige Aufgabe und Raison d’etre Oesterreichs mußte für das europäische Bewußtsein eine Art von Verdunkelung erfahren, während der Dezennien 1848 bis 1914. Während alle Welt sich konsequent dem nationalen Problem widmete — das freilich bei England und Frankreich zugleich, aber wie geistreich verborgen bis zur eigenen Täuschung, ein übernationales europäisches, mehr als europäisches Problem war —, hatten wir in den Ereignissen der Jahre 1859 bis 1866 zuerst die der Gegenwart kaum noch verständlichen Reste einer alten übernationalen europäischen Politik zu liquidieren, dann aber in Dezennien einer schwierigen inneren Entwicklung, zu der die Welt keinen Schlüssel hatte, die innere Vorarbeit zu leisten auf den jetzigen Moment, der anonym blieb: die Grundlinien zu erfassen einer neuen übernationalen europäischen Politik unter voller Erfassung, Integrierung des nationalen Problems.

Oesterreichs Sprache war zu groß für die nachnapöleonische Zeit; erst die Ereignisse dieses Krieges sprechen und lehren wieder eine Sprache, in der wir ohne Zwang mitsprechen. Auf das, was nun kommen muß, sind wir tiefer vorbereitet als jemand in Europa. Stärker als das Engparteiliche und das Ideologische — die beide man irrtümlich für die einzigen Ausdrucksformen des Politischen hält — ist das Schicksalhafte, welches bei uns darauf geht, in deutschem Wesen Europäisches zusammenzufassen und dieses nicht mehr so scharf-nationale Deutsche mit slawischem Wesen zum Ausgleich zu bringen. Die Ideen der Versöhnung, der Synthese, der Ueber- spannung des Auseinanderklaffenden haben ihre eigene fortwirkende Kraft, ihre Spontaneität; sie nähren sich aus den Situationen, nicht aus den Argumenten, aus den wahren Erfahrungen, nicht aus den Schlagworten, seien diese nationalistisch, sozialistisch, parlamentaristisch.

Dies Europa, das sich neu formen will, bedarf eines Oesterreichs: eines Gebildes von ungekünstelter Elastizität, aber eines Gebildes, eines wahren Organismus, durchströmt von der inneren Religion zu sich selbst, ohne welche keine Bindung lebender Gewalten möglich sind: es bedarf seiner, um den polymorphen Osten zu fassen. Mitteleuropa ist ein Begriff der Praxis und des Taues, aber in der höchsten Sphäre, für Europa, wofern Europa nun bestehen soll, in der Sphäre der obersten geistigen Werte und der Entscheidungen über die Kultur der Jahrtausende ist Oesterreich nicht zu entbehren. Von hier unser Selbstbewußtsein, von hier die tiefe Sammlung und Ruhe in uns, während wir eine Welt gegen uns in Aufruhr sahen. (1917)

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