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Volk, Staat, Nation (iv)

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Die Freiheitliche Partei hat ihr Bekenntnis zur deutschen Nation als einzige österreichische Partei in das offizielle Parteiprogramm aufgenommen. Auf verschiedenen Umwegen aber wird auch gelegentlich versucht, auf einzelne regionale Organisationen und Redaktionen der beiden Regierungsparteien Einfluß zu gewinnen. Dabei fehlt es gewiß nicht an Bekenntnissen zur Eigenstaatlichkeit. Das Wort Vaterland Österreich kommt schon etwas schwerer von den Lippen und wird, wenn möglich, durch das viel unverbindlichere „Heimat“ ersetzt. Welche Geistigkeit in den restaurierten nationalen und völkischen Vereinsleben sich wieder breitmacht, davon gibt die Festrede, die der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft freiheitlicher Akademikerverbände Österreichs erst vor kurzem gehalten hat, ungeschminkt Auskunft. Der beschwört zunächst, wie üblich bei solchen Gelegenheiten und in solchen Kreisen, den Geist des Turnvaters Jahn, um dann fortzufahren:

„Der Rückblick auf jene Zeit vor 150 Jahren zeigt uns aber auch viele Parallelen zu unserer unerfreulichen Gegenwart. So wie heute war damals unser Volk von einem übermütigen Sieger in eine große Anzahl von Staatswesen zerrissen, so wie heute gab es damals Liebediener

und Schmalzgesellen, die um irgendeines Vorteils willen die Geschäfte unserer Gegner besorgten. Daß damals jene Krise überwunden werden konnte, war entscheidend der Wiedererweckung eines gesunden völkischen Geistes zu danken. Und darin liegt auch heute die große Aufgabe, die uns volksbewußten Akademikern und Turnern gestellt ist , die wir als solche nur bestehen können, wenn wir eine unzerstörbare, geschlossene Front des geistigen Widerstandes bilden. Gegen den Ungeist der unwürdigen und verächtlichen Selbstbefleckung, gegen den Ungeist des .Etatismus und Separatismus', der sich wieder breitmacht, gegen den eklen Wurm der deutschen Zwietracht, der wieder allenthalben sein Haupt erhebt, gegen den Ungeist des Materialismus und der kollektivistischen Gleichmacherei, gegen den Ungeist der Verwirrung, den überstaatliche Mächte in vielerlei Gestalt in unsere Reihen tragen “

Da geben sich frisch, fröhlich, aber wenig fromm Phrasen wieder ein Stelldichein, die man schon einmal irgendwo gehört hat. Separatismus, überstaatliche Mächte. Es fehlen nur die Jesuiten, die Juden und die Freimaurer. Ich überlasse es dem Leser, für jene Geisteswelt den richtigen und entsprechenden Namen zu finden.

Wie liquidiert man Österreich geräuschlos?

Auch die Europafahne, nach der heute sehr viele Hände greifen, soll mitunter freilich andere Farben verdecken. Mit welcher Vorsicht und welchen Reserven gerade Bekenntnisse zur österreichischen Eigenstaatlichkeit bei gleichzeitiger lautstarker Betonung der Zugehörigkeit zur deutschen Nation aufzunehmen sind, dafür gibt es auch sehr bezeichnende Ausführungen. Man könnte sie unter den Titel „Wie liquidiert man Österreich geräuschlos?“ stellen. Auf dem Gildentag 1963 der Akademischen Gilden- schaft befaßte sich Dr. Fritz Ursin mit „großeuropäischen Perspektiven“. Zunächst wird de Gaulles Konzept eines Europas der Vaterländer kritisch untersucht, um hierauf zu folgenden Schlüssen zu kommen:

„Wir müssen uns aber auch darüber im klaren sein, daß die europäischen Staaten in ihrer heutigen Form nichts Ewiges sind. Auch die Staaten kommen und vergehen in der Geschichte. Die Völker bleiben, wenn sie stark genug sind, den Widerwärtigkeiten der Geschichte im Geist zu begegnen. Ich sagte, die Staaten sind vergänglich. Wir selbst haben in unserem Leben diese Vergänglichkeit zur Genüge erlebt. Aber andere Völker, sie bestehen Es wäre aber klüger gewesen, de Gaulle hätte nicht von einem Europa der Vaterländer, sondern von einem Europa der Nationen gesprochen. Die Zukunft, glaube ich, wird ein Europa der Nationen und nicht der derzeitigen Staaten bringen.“

Das strategische Operationsziel des neuen deutschen Nationalismus in Österreich ist hier mit dankenswerter Offenheit dargelegt. Erste Etappe: vehemente Ablehnung

Österreichs als Nation bei gleichzeitigem Lippenbekenntnis zur Eigenstaatlichkeit. Zweite Etappe: hinein in ein „Europa der Nationen“, aber nicht als eigene Individualität, nicht als eigener österreichischer Baustein zu diesem Europa, sondern als Bruchteil der deutschen Nation. Was Adolf Hitlers Gewaltstreich letzten Endes nicht vermochte, auf sanften Umwegen soil’s gelingen. Finis Austriae.

„Schlechte“ Nachricht aus Bonn

Wie schon Bismarck für die Germania irredenta in Österreich, so hat auch das Deutschland von heute für solche Gedankengänge äußerst geringes Verständnis. Gleich einem Keulenschlag aber muß es jene Kreise, die jedes Bekenntnis zur österreichischen Nation gerne als Ausgeburt extremer Deutschfeindlichkeit zu denunzieren belieben — was nicht ohne Eindruck zeitweilig auch auf manche politische Kreise In Österreich war —, die Nachricht

getroffen haben, die im Juni dieses Jahres aus Bonn kam.

Bundespräsident Dr. Schärf war in der Bundesrepublik Deutschland zu einem Staatsbesuch eingetroffen. Bei dem Diner, das der deutsche Bundespräsident zu Ehren seines österreichischen Gastes gab, stand Dr. Lübke auf und sprach an die Adresse von Dr. Schärf:

„Sie können versichert sein, daß Ihr Besuch in Deutschland in der deutschen Öffentlichkeit einen großen Widerhall findet, denn die deutsche Nation fühlt sich durch sehr herzliche Beziehungen mit der österreichischen Nation verbunden und steht dadurch dem österreichischen Staat mit besonderer innerer Anteilnahme gegenüber “

Unck einen Tag später brachte der deutsche Bundeskanzler Prof. Ehrhard einen Trinkspruch aus, in dem er versicherte,

„ daß sich das deutsche Volk der freiheitsliebenden österreichischen Nation in der Gesinnung einer gutnachbarlichen Freundschaft, gegenseitiger Achtung und in dem Bewußtsein der gemeinsamen europäischen Aufgabe verbunden fühlt“.

Diese Worte waren deutlich. Es ist schon so: schwarzrotgold ist heute kein übergeordneter Wert zu rotweißrot. In Frieden und Freundschaft mögen beide Fahnen nebeneinander wehen.

Die Nebel heben sich

Am Vorabend des 20. Geburtstages der Zweiten österreichischen Republik und der zehnten Wiederkehr des Abschlusses des Staatsvertrages und der Proklamierung der immerwährenden Neutralität Österreichs sind sich zunächst alle Bewohner dieses Landes darüber wohl einig, daß es doch nicht die schlechteste Sache ist, „das eigene Gärtchen zu bebauen“. Auch wenn sie sich dadurch anscheinend in Widerspruch zu einem Großen ihrer Geschichte setzen (Ignaz Seipel). Der Widerspruch verschwindet sofort, wenn die Bebauung dieses unseres eigenen Gärtchens in Übereinstimmung mit dem Geist der Geschichte, unserer österreichischen Geschichte, erfolgt, wenn uns nicht der wirtschaftliche Wohlstand das letzte Ziel und die Neutralität das ideale Faulbett, ihn zu pflegen ist. Der als „Vater des Staatsvertrags“ von vielen Lippen gefeierte Altbundeskanzler Julius Raab war alles andere als ein weltferner Ideologe. Er galt zeit seines Lebens als nüchterner Realist. Aber niemand anderer als Julius Raab zeigte seinen Landsleuten, daß das Bekenntnis zur Neutralität und das „Ja“ zur österreichischen Nation zusammengehören. Beide bedeuten nicht, wie mitunter behauptet wird, einen Austritt aus der Geschichte, sondern erst sie

bilden die feste Basis, in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Übereinstimmung mit dieser Geschichte zu leben. Julius Raabs Blick war frei, seine Sprache klar, als er am Ende des langen Weges von der Befreiung zur Freiheit am 26. Oktober 1955 vor den Nationalrat trat und sprach:

„ Der Staatsvertrag hat für Österreich zum erstenmal seit der Gründung der Republik im Jahre 1918 die Möglichkeit einer wirklich aktiven und konstruktiven Außenpolitik eröffnet. Für diese Außenpolitik wird unsere Neutralität die neue, zukunftsreiche und dauernde Grundlage darstellen. Wenn diese Neutralität im vorliegenden Gesetzentwurf als immerwährend bezeichnet wird, so ist dies von ausschlaggebender Bedeutung. Unsere Neutralität ist keine provisorische, wiederrufliche Beschränkung unserer Souveränität, die wir etwa unter dem Zwang der Verhältnisse widerstrebend auf uns genommen haben, sondern eine dauernde Basis für eine Außenpolitik, die unserer Heimat und unserem Volk für alle Zukunft Frieden und Wohlstand gewährleisten soll Der Gedanke der Neutralität ist in der österreichischen Bevölkerung auf sehr fruchtbaren Boden gefallen. In überraschend kurzer Zeit hat sich dieser Gedanke, der immerhin in seiner Form für unser Volk neu war, allgemein durchgesetzt. Mit dem heutigen Tag wird der Unterschied gegenüber der seelischen Verfassung des österreichischen Volkes gegenüber 1918 voll sichtbar: Das österreichische Volk bejaht heute einmütig seinen Staat. Das österreichische Selbstbewußtsein hat sich — trotz oder gerade infolge der zahlreichen erlittenen Unbilden — bis zu einem eigenständigen österreichischen Nationalbewußtsein gesteigert.“

Und am Abend seines Lebens, als schon die ersten Schatten fielen, wandte sich Julius Raab nicht von ungefähr an die Träger der Zukunft, an die Jugend. Als Ehrengast und Sprecher vor der österreichischen Hochschülerschaft, am „Tag der Fahne“ 1961, hören wir gleichsam als ein politisches Vermächtnis folgende Worte:

„Unsere österreichische Neutralitätsvariante besteht darin, die uralte, geschichtlich gewordene und

traditionell verpflichtende Brücken- und Mittleraufgabe unseres Vaterlandes zwische. den Kräften des Westens und jenen des Ostens neu zu beleben Die politische Mission Österreichs, getreu seiner Idee, muß es bleiben, am internationalen Wegkreuz in Europa die Hände nach beiden Seiten hin auszustrecken und über die Abgründe hinweg zu verbinden, ohne selbst in den Auseinandersetzungen Partei zu ergreifen “

Solche Erkenntnisse der nationalen Aufgabe, die den Österreichern in der Gegenwart gestellt ist, sank aber nicht mit Julius Raab ins Grab. Gerade in der letzten Zeit scheint die Bereitschaft zu wachsen, den Kopf über die vielfältigen tagespolitischen Interessen und Verpflichtungen zu heben und Blickpunkt Zukunft zu nehmen. Wie anders wären die Worte, die Bundeskanzler

Dr. Klaus anläßlich der neunten Wiederkehr des 15. Mai sprach, zu verstehen:

„Das freie und selbständige Österreich ist bereit, an internationalen Friedensaufgaben und am internationalen Austausch kultureller

und materieller Güter mitzuwirken, und es ist entschlossen, ein Faktor der Stabilität im Herzen Europas zu bleiben. Österreich will nicht Bollwerk, sondern Bindeglied sein. Im Bewußtsein seiner Freiheit scheut das österreichische Volk nicht die Begegnung mit anderen Völkern, sei es nun im Westen oder im Osten, denn hinter dem Staatsvertrag stehen nicht nur die Unterschriften seiner Signatarstaaten, sondern der Glaube der Österreicher an Österreich.“

Und wenn Minister a. D. Stadtrat Dr. Drimmel im Juli 1964 die Forderung aufstellte, die vermauerten Fenster und vernagelten Türen nach dem Osten weit aufzureißen und Wien zur Stadt der großen Konfrontation zwischen den Teilen der noch gespaltenen Welt zu machen, so liegt dies auf derselben Linie. („Die Nachbarschaft hat guten Verkehr angeboten; wir dürfen dieses Angebot nicht mit finsteren Blicken beantworten.“)

Patrioten und Nationale

Wir kommen zum Schluß. Das Österreich, welches 1945 wieder ins Leben tritt, ist ein anderer Staat als jener, der 1918 gleichsam in die eigene Existenz hinausgestoßen wurde. Er ist ein gewolltes Kind. So liegt es nahe, daß auch sehr bald ein Nationsbegriff in die politischen Wörterbücher Eingang findet und sich ausbreitet, der sich von dem sprachlich-biologisch determinierten, pseudoreligiösen des 19. Jahrhunderts (Arndt: „Ein Volk zu sein, ist die Religion unserer Zeit“) unterscheidet und in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der modernen Staatswissenschaft, der Geschichte, dem Raum und vor allem dem politischen Wollen den Vorrang einräumt. Dieser Nationsbegriff ist in erster Linie Gemeingut der mit der Republik gewachsenen Generation. Die vormals dynastisch

bestimmte Österreichidee wurde von ihr auf den neuen Souverän, das österreichische Volk, übertragen. Hier ist der alte Gegensatz von Patrioten und Nationalen in Österreich aufgehoben. Wo er sich dennoch zeigt, werden Leitbilder propagiert, die von gestern stammen. Dahinter wird keine neue Ordnung sichtbar, es werden nur alte Ressentiments gepflegt. Dazwischen stehen einzelne rechtschaffene „Deutsch-Österreicher“, die als Patrioten vielfach in der Ersten Republik angetreten sind und deren Nationsbegriff die Prägung jener Tage trägt. In der nachrückenden Generation hat diese geistige Haltung keine Vertreter. Erich Körner hat deshalb wohl recht, wenn er den von Zeit zu Zeit mit gewisser Heftigkeit immer wieder auflebenden Disput über Staat, Nation und Volksbewußtsein in Österreich nicht zuletzt als ein Generationenproblem ansieht.

Ein Aufruf zur Sammlung

Das letzte Wort sei ein Wort der Versöhnung, ein Aufruf zur Sammlung. Versöhnung und Sammlung unter den rotweißroten Farben erfordern bald 100 Jahre nach König- grätz und 20 Jahre nach dem Ende des blutigen großdeutschen Zwischenspiels, Respekt vor dem Richterspruch der Geschichte. Sie verlangen aber auch Klarheit über die Perspektiven der Zukunft. Doktor Günter Nenning sprach für jene in die politische und geistige Verantwortung einrückende Generation, als er folgenden Brückenschlag anbot:

„Wollen wir ernstgenommen werden in der Welt, so müssen wir die Vereinbarkeit dieser drei Dinge begreifen:

1. Ausbildung eines gesunden österreichischen Patriotismus, inklusive der politischen Nationswer- dung, sowie Pflege jeglicher Besonderheit, auch sprachlicher, literarischer, kultureller Art.

2. Verbleiben im Aktivstand deutscher Sprache, Literatur, Kultur.

3. Aktives Hineinwachsen nach Europa als einem supranationalen Bund demokratischer und gleichberechtigter Einzelstaaten, zu guter Letzt in Ost und West.“

Der Verfasser zögert nicht, den Weg über diese Brücke für alle

Gutgesinnten gangbar anzusehen — bedeutungslos, woher sie kommen, gleichgültig, von wie weit sie aufgebrochen sind.

ENDE

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