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Immer um eine Idee zu spät

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„Österreich kommt immer um eine Idee, ein Jahr oder eine Armee zu spät.” Hier soll nicht untersucht werden, ob dieses Tadelwort dem Herzog von Marlborough während des Spanischen Erbfolgekrieges entschlüpft ist, oder Friedrich dem Großen und später Napoleon im Übermut ihrer militärischen Überlegenheit; oder dem britischen Premierminister Pitt angesichts seiner Enttäuschungen mit dem österreichischen Bundesgenossen.

Die „österreichischen inneren Hemmungen”, um die es hier geht, kamen aus der. Situation, in der das alte Österreich trotz allen Reichtums an ideellem und materiellem Besitz schwerfällig und durch eigene kulturelle, verwaltungspolitische und staatsrechtliche Unzulänglichkeiten wie durch bleierne Gewichte behindert, hinter den unaufhaltsam vordrängenden nationalen und sozialen Revolutionen des 19. Jahrhunderts Zurückbleiben mußte. Daß das multinational Empire zuletzt den Forderungen der Ära der Nationalstaaten nicht entsprechen konnte, lag in der Natur der Dinge. Aber der scheinbare Sieg des Selbstbestimmungsrechtes der Völker im Jahre 1918 hat nur die legitimierende Staatsidee Österreich-Ungarns zerstört; die Ordnungsidee Einheit in der Vielheit ist damit keineswegs zugrunde gegangen; sie ist vielmehr eine der Lösungsvarianten im Kampf um das Europa von morgen, und in diesem Sinne keine Idee, die zu spät kommt, sondern eipe, die gültig geblieben ist. Um eine Idee zu spät kommen alle, die in diesem laufenden Prozeß zuletzt zu den nationalstaatlichen Denkweisen zurückkehren; gleichgültig, ob das anderswo geschieht oder in Österreich. Aber im Falle Österreich wäre dieses Geschehen eines der letzten Kapitel in dem leidvollen und widerspruchsvollen Gang der Geschichte, den die Österreicher in den letzten Generationen durchmessen hatten.

Die Verkündung

Die Akte, mit denen diese Nations- werdung verkündet ‘worden ist, können geschichtlich, festgestellt werden: C 1946 hat Karl Renner das Wesen einer österreichischen Nation folgendermaßen definiert: „Die ausgeprägte und von allen anderen verschiedene Individualität des österreichischen Volkes gibt ihm das Recht, sich trotz der Sprachgemeinschaft mit den Deutschen des Reiches als selbständige Nation zu erklären, eine Nation internationalen Gepräges.”

Im gleichen Jahr hat Leopold Figl im Zur mmenhang mit der österreichischen Staatsidee folgendes fest- gestellt: „Tiefgehend vermischt mit jungem slawischem Blut von Norden und Süden, mit magyarischen und romanischen Elementen, entstand hier von unten herauf ein Volk, das etwas Eigenes darstellt in Europa; kein zweiter deutscher Staat und auch kein zweites deutsches Volk, nein, ein neues, das österreichische Volk.”

Beide Formulierungen weisen -.uch bei Weglassung der Datierung auf den Zeitpunkt ihres Entstehens hin und auf den unmittelbaren Anlaß. So wie sich Leopold Figl mit seiner Feststellung gegen die von Kurt Schuschnigg geprägte Formel vom „zweiten deutschen Staat” wendet, bringt Karl Renner, trotz Anerkennung des Fortbestandes einer sprachlichen Gemeinschaft, den Anspruch auf die von jeder anderen Nation unabhängige Österreichische Nation zum Ausdruck. Die Problematik beider Erklärungen ist darin zu erblik- ken, daß das an sich Richtige, nämlich die Absage an den sogenannten zweiten deutschen Staat und das Bekenntnis zu einer unbestreitbaren Eigenständigkeit des österreichischen, verbunden wurde mit einem Anspruch, mit dem die Österreicher zweifellos zu spät den Boden der Weltgeschichte betreten haben: Die Idee der Nation.

Die Gefahr der Wiederholung

Die Geschichte der Ersten Republik waT erfüllt von den leidenschaftlichen Auseinandersetzungen zur Klärung der Begriffe Nation und Staat. Während wir noch stritten, ist der Feind über uns gekommen und hat alles zerstört. Begriff und Wortgebrauch Nation sind auch heute noch mehrdeutig,. umstritten und von Land zu Land verschieden geprägt.

In dem Manifest, mit dem die österreichische Widerstandsbewegung am Vorabend des österreichischen Nationalfeiertages 1967 „ein klares Bekenntnis zur österreichischen Nation” verlangt hat, wird der historische Prozeß dieser Nation- werdung als „noch nicht abgeschlossen” bezeichnet Es soll hier nicht näher auf die Frage eingegangen werden, ob es. angängig ist, ein verpflichtendes Bekenntnis zu einem unfertigen und’ daher mehrdeutigen Begriff abzuverlangen; man wird dies den Intellektuellen, die mit ihren Streitgesprächen heute noch nicht zu. Ende gekommen sind, ebenso wenig zumuten können wie der öffentlichen Meinung, die auf ein Symbol orientiert werden soll, dessen Werfgehalt- noch näherhin zu definieren ist Dieser Vorbehalt ist insbesondere mit Rücksicht auf die Jugend anzumelden, die in unserer Zeit mehr als je zuvor mit Symbolen, Mythen und Schemata kritisch umgebt.

Damit soll der Preis des Martyriums, der im Widerstand gegen den Hitlerismus 1 erbracht worden ist, nicht vergessen sein; und ebensowenig der Weg zur Selbstbesinnung und zur Selbstverständlichkeit des österreichischen, der in den vierziger und fünfziger Jahren durchschritten worden ist Was aber gefährlich scheint, das ist die Verfestigung des österreichischen in Ideen und Begriffen, die nicht der Situation im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entsprechen, sondern aus den ideologischen Reservoiren des 19. . und zum Teil des 18. Jahrhunderts kommen. Der gemeinsame Weg der Europäer von heute geht nicht wie vor 100 Jahren auf ein System der Nationalstaaten zu, sondern auf ein Europa, in dem wir Österreicher mit Recht einen Teil der Verwirklichung dessen erwarten dürfen, was im alten Österreich jahrhundertelang die Einheit in der Vielheit gewesen ist.

Die heimatlos gewordenen Europäer, die in den Schüttzonen des atlantischen oder des osteuropäischen Brückenkopfes leben, suchen festen Boden unter den Füßen- und ein gemeinsames Dach; denn die Existenz in den Brückenköpfen ist unausstehlich. Jeder, der im Krieg in einem Brückenkopf gekämpft hat, weiß, daß das keine Dauerstellung ist. Es kommt die Unruhe, und sie drängt dazu, den Brückenkopf, zu räumen oder vorwärts auszubreehen.

Alles, was auf die Perfektionierung und die Dauerhaftigkeit der heutigen „Situation im Brückenkopf” abzielt, ist gefährlich und utopisch.

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Um so gefährlicher ist es, politische Formeln zu gebrauchen, die auf solche Wiederholungen und die damit verbundenen Gefahren abgestellt sind. Zu diesen historischen Parabeln gehört das Denkschema, wonach Zuweilen an den Gang vom Deutschen Zollverein ins Deutsche Reich von 1871 gedacht wird, wenn die wirtschaftliche Integration Europas als Nucleus der europäischen Einheit angesehen wird. In seinen „Unpolitischen Liedern” hat Hoffmann von Fallersleben die werdende wirtschaftliche Einheit im Zollverein drastisch gekennzeichnet:

Schwefelhölzer, Fenchel, Bricken, Kühe,-Käse, Krapp, Papier, Schinken, Scheren, Stiefel, Wicken, Wolle, Seifen, Garn und.Bier, - Und die anderen deutschen Sachen, Tausend Dank sei euch gebracht.

Was. kein Geist je konnte machen, Ei, das-habet ihr gemachte.

Das Europa, das im stürmischen Frühling 1968 ‘in Umrissen sichtbar wird, ist weder ein solches rein ökonomisches Experiment noch das stalinistische Modell aus 1945 oder das atlantische der fünfziger Jahre; die Lösung, die auf uns zukommt, wird auch kein Rückfall in die Vergangenheit sein. Europa wächst nicht in den Stabsquartieren der NATO und des Warschauer Paktes, es wird keine Resultante aus- EWG oder COMECON, und es kann Weder auf Straßburg noch auf Moskau hin exzentrisch geordnet werden.

Die österreichische Idee

Es wäre denkbar, daß’das Europa der Zukunft ein amerikanisches Modell wird; ein melting pot, ein Schmelztiegel nationaler Kulturen; oder ein Kunststein, gegossen aus den zermörserten nationalen Kulturen Alteuropas. Es ist keine ausgemachte- Sache, daß bei dieser Integration das Modell Österreich Einheit in der Vielheit Geltung haben wird. Das aber heißt, daß wir unser österreichertum nicht abwerfen dürfen, wenn wir in. die Europastraße einschwenken.

Einmal hat . man das alte Österreich den Völkerkäfig genannt. Im Hex-bst 1918, knapp vor dem Umsturz, sagte der tschechische Politiker Gustav Habrman seinem Ko-Nationa- len Vaclav Klofac: „Paß auf, was ich Dir sage: wenn diese verfluchte Bestie Österreich krepiert, wird sie noch im Verröcheln versuchen, um sich zu fetzen und sich an uns zu rächen.” Eine Generation später hat Max Brod in seinem Roman aus dem ersten jüdisch-arabischen Krieg das, was damals wirklich geschehen ist, beschrieben. Er war 1918 in Prag mit dabei gewesen, als die Tschechen ihre neue Republik einrichteten. Ihm konnte man nicht weismachen, daß die Übergabe der staatlichen Gewalt, sei es selbst eine unfreiwillige, so wie bei dem Ende der britischen Herrschaft in : Palästina in Unruhe und Wirrsal erfolgen müsse: „Wie nobel war das alte Österreich abgetreten, hatte in voller Ordnung:den revolutionären Tschechen Amtslokale, Eisenbahnen, Institute, alles unversehrt, zur Verfügung gestellt, so daß die neuen Herren in aller Bequemlichkeit nur in die fertigen Wohnungen einzuziehen brauchten. Die Briten dagegen, ihre Absicht war, zunächst einmal alles zu zerschlagen, ehe sie gingen. Die offizielle Linie blieb: Wir arrangieren das Chaos. Sie sollen sagen, daß es früher besser gewesen ist!”

Daß es besser wird

Den heute lebenden Österreichern geht es nicht so sehr um den Nachweis dessen, „daß es früher besser gewesen ist”; sondern darum, daß sie imstande sind, im Angesicht Europas ein Prinzip zu vertreten, das gerechter, dauerhafter und wohl auch humaner ist als das in der nationalstaatlichen Ära entwickelte. Das aber heißt, daß es nicht in der Bestimmung Österreichs liegt, im Rückblick auf die nationalstaatliohe Idee, um diese Idee zu spät zu kommen; daß es seine Aufgabe ist, mit dem, was bleibt, gegenüber dem herrschenden Zeitgeist voraus zu sein.

Viele begegnen dem Neuen, das jetzt mit unvorstellbarer Wucht auf sie zukommt, teils mit starrer Ablehnung, teils mit hilfloser Anpassung. Was wird im Europa der Zukunft übrig bleiben vom christlichen Abendland? Was wird im Vaterland der Vaterländer von unserem Vaterland übrig bleiben? Wie wird das geistige Klima des ganzen Europa sein? Und: Wird darin noch Platz und Bedarf sein für das österreichische?

Das unheimliche Neue

Am Anfang der Revolution der Gebildetein, die jetzt auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges stattfindet, kann niemand sagen, ob und wie und wann diese Bewegung einrasten wird in das Räderwerk des Politischen. Mag sein, c}aß diese Revolutionäre Brücken ins Nichts bauen oder auf einem Weg ins Chaos sind: Trotzdem wächst Europa dort, wo die Prager Studenten gegen Geistige Unfreiheit, gegen Stalini- stische Kommandowirtschaft und gegen Einparteiensystem aufbegeh- ren; dort, wo im Westen Studenten gegen eine Gesellschaftsordnung ohne Alternativen, gegen Anonyme Macht und gegen den Banausenstaat Revolte machen. Die Wendung ist im Gang, auch wenn im Feuer der Bewegung noch keine neuen Ziele aufleuchten und die Zielansprache, die Methoden und die verlangten neuen Typen zuweilen in Provokationen eines Neu-Marxismus versacken, der seltsam altertümlich einhergeht.

In einer Stunde wie dieser Stoßen aber auch die Vertreter eines Neo- Nationalismus auf die letzten Nachhuten des Hitlerismus. Hier entsteht die andere Gefahr und der große Zeitirrtum unserer Tage.

Wo viele Revolutionäre unterwegs sind, haben auch die Reaktionäre gute Zeiten. Wo viel von der Geschichtlichkeit der Wahrheit die Rede ist, ist die Antithese, die Geschichte lasse sich unverändert erhalten, gleich bei der Hand. In dieser Situation gerät das konservative Prinzip ins Zwielicht, und der reine Traditionalismus drängt darnach, mit einer Idee von gestern doch noch ins Ziel zu kommen. Das aber hieße, um eine Idee zu spät kommen.

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