6557790-1948_32_01.jpg
Digital In Arbeit

Vaterland Europa

Werbung
Werbung
Werbung

„Schon seit langem ist Europa mir Vaterland.“ Wer anders konnte ein solches Bekenntnis ablegen als ein österreichischer Staatsmann. Diese knappe Formel Metternichs ist das Leitmotiv österreichischer Geschichte. Sie ist der Schlüssel zum Verständnis der politischen Psychologie der Bevölkerung unseres Landes.

Als nach dem ersten Weltkrieg die mitteleuropäische Völkerfämilie auseinanderging, blieb der Namensträger dieser zerbrochenen Gemeinschaft in hilfloser Einsamkeit am Strande der Hochfluten des Nationalismus liegen. In kleinstaatliche Enge gepreßt, erlebte das Volk zwischen dem Boden- und dem Neusiedler See zum erstenmal in seiner Geschichte die bedrückende Realität der Grenze. Die Linien, welche die bunten Felder auf der Landkarte voneinander schieden, hatten eine neue, eine fatale Bedeutung erlangt. Bisher war Grenze weit draußen im europäischen Osten und Südosten Abwehr gegen eine fremde Welt gewesen. Jetzt legte sie sich mit kaltem Druck um das Herzstück einer Gemeinschaft, die der Österreicher immer noch als eine Familie empfand. Was hier vor sich ging — Entfremdung, Absonderung, extremste Individualisierung staatlicher Einheiten — war das Schicksal Europas und die Tragik unseres Landes. Die nationalistische Zergliederung Europas bedeutete den Untergang einer Idee, jener Idee, die höchster und tiefster Sinn österreichischer Geschichte war. Der imperiale Gedanke der geistigen und politischen Einheit des christlichen Abendlandes hatte das politische Bild, das politische Antlitz des Österreichers geprägt.

Die weltanschauliche und nationale Toleranz, die Neigung, sich überall zu Hause zu fühlen und allen ein Zuhause zu sein, waren Ausdruck dieser übernationalen, verbindenden, niemals imperialistischen, aber wesentlich imperialen politischen Konzeption. Es war nicht verwunderlich, daß Österreich sich in der neuen Welt nicht zurechtfand. Nicht nur der Verlust der Großräumigkeit, mehr noch der Verlust der Möglichkeit, seinem politischen Wollen Ausdruck zu geben, haben jegliches Handeln gelähmt. Die rührenden Versuche, sich in seiner kleinstaatlichen Existenz zurechtzufinden, das verzweifelte, irregeleitete Bemühen, im Nationalismus ihr zu entrinnen, können nur aus diesem, österreichischem politischem Wesen so abgrundtief fremden politischen Klima des Europa zwischen den Kriegen verstanden werden.

Der zweite Weltkrieg hat dieses Klima entscheidend verändert. Wir wollen davon absehen, daß Österreich, so wie am Anfang seiner Geschichte, wieder zur Grenze geworden ist, denn wir sehen in diesem Grenze- sein eine Episode und nicht das Wesentliche der gegenwärtigen Situation. War ja auch Österreich damals und in allen Zeiten, da es mit den Steppen Asiens in Berührung kam, mehr Kristallisationspunkt und Ordnungsprinzip als Wehr. An der Idee, die Österreich lebte, brach sich der Sturm aus dem Osten und nicht an Österreichs — niemals überwältigender — physischer Kraft. Immer hat Österreich der militanten, totalitären Macht, dem brutalen Eroberungswillen zähen Widerstand entgegengesetzt. Lange ehe noch die Französische Revolution ihr „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ in die Sterne schrieb, hat Österreich die Beziehungen zwischen Völkern nach diesem Grundsatz gestaltet. Der zweite Weltkrieg hat es neuerlich erwiesen, daß Europa einig, frei und stark sein muß, ohne jemals zum bloßen Kraftfeld einer Nation werden zu können. Dem innerstaatlich demokratischen

Prinzip entspricht im internationalen Rahmen das föderative. In beiden verbindet sich Freiheitswille mit dem Willen zur Gemeinschaft. Die europäische Geschichte hat staatliche Einheiten werden lassen, deren ausgeprägte und in sich geschlossene Gestalt wie deren Eigenwille nur eine einzige Unterordnung ermöglicht, nämlich eine Föderation, die unter der Autorität eines freien Willens geformt ist. Jeder Versuch, die Einheit Europas von einem Machtzentrum aus zu erzwingen, mußte mißlingen, mochte Napoleon oder Hitler Träger eines derartigen Anspruches sein. Man kann die Geschichte dieses Teiles der Erde nicht ungeschehen machen. Wer gegen sie anrennt, zerbricht. Europa ist kein geeignetes Objekt für irgendeinen zu Imperialismus übersteigerten Nationalismus. Der Individualismus seiner Völker hat immer noch jedem zentralistischen Despotismus getrotzt. Mehr noch. Er wurde zersetzt, sobald er mit diesem Individualismus in Berührung kam. So ist die Ursache der Zerrissenheit und der Schwäche Europas gleichzeitig die Quelle seiner Kraft in der Abwehr gegen jedes ihm fremde Prinzip.

Wir durchleben jene Phase der Geschichte, in der die Völker Europas — nicht alle noch haben die bittere Lektion gelernt — zu erkennen beginnen, daß sie ihre eigene Form des Zusammenlebens und Zusammenwirkens, des Ausgleiches der Interessen, des brüderlichen Lebens entwickeln müssen: Freiheit in der Ordnung auf der Ebene der internationalen Beziehungen; Einigkeit nach außen; Toleranz im Innern. In dieser historischen Situation verknüpft sich das Dasein und die Geschichte unseres Landes neuerlich mit dem Schicksal Europas. Als Österreich im Jahre 1918 aus seiner Bahn geworfen war, als der Ungeist des Nationalismus und Materialismus die Völker verwirrte, da schien es, als sei Österreich eine jener historischen Stätten geworden, über die der Bauer friedlich seine Furchen ziehen werde. Die Unruhe aber, die unser Volk erfüllte, jenes mit zähem Behauptungswillen gepaarte flackernde, ziellose Wollen, das so oft mißdeutet ward, haben bewiesen, daß Österreich nicht ausgelöscht, sondern nur verschüttet wurde. Audi die Enge unseres Raumes beengt uns nicht mehr. Haben wir doch erkannt, daß es sinnlos ist, Grenzen oder gar Völker zu verschieben; Grenzen sind Zeugen einer vergangenen Zeit. Heute und morgen gilt es, sie zu überbrücken, zu überbauen, Mauern abzutragen, Völker zu verbinden. Österreich, , das keinen Haß kennt, keine Ansprüche stellt, das sich nicht abschließt, das allen seine Hände reicht — dies Österreich ist aus dem Taumel der vergangenen drei Jahrzehnte zu sich selbst erwacht. Im Schicksalskampf Europas liegt zu unseren Füßen die Fahne, die wir einstmals getragen; das Banner der Einheit, der äußeren und inneren Freiheit des christlichen Abendlandes. Möge die Schicksalsstunde, die auch unsere Stunde ist, uns nicht zu schwach oder zu feige finden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung