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Dekadenz des Friedens

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Zerstörung und Aufbau sind im Leben der einzelnen und der Völker wie Täler und Höhen des Daseins. Es ist leichter, in das Tal als auf die Höhe zu gelangen. Frieden ist der Weg bergan zum Aufbau, ist vor allem auch seelische Anstrengung, schöpferisches Sehnen, Sehen und Wollen. Krieg ist der polternde Weg bergab durch Geröll in die Schlucht des Verderbens. Unsere Kultur und unsere Zivilisation sind vielleicht keine ragenden Berge. Sicher aber stehen wir hoch genug, um fallen zu können.

Sind wir an einem solchen Punkt der Dekadenz, des Abgleitens angekommen, oder geht der Weg wieder bergan? Die gewaltigsten Kriege aller Zeiten haben die Menschheit wie mit kurz aufeinanderfolgenden Schlägen heimgesucht; aber noch immer hält die gigantische physische Expansionskraft unserer Zivilisation an. Kann man angesichts einer solchen, das Wunderbare erreichenden Leistung überhaupt wagen, die Frage aufzuwerfen, ob es vielleicht abwärts geht? Gewiß, man muß dies sogar, denn unsere Zivilisation ist dem Turmbau zu Babel nur zu ähnlich. Die physische Expansion scheint den Menschen so sehr in Anspruch zu nehmen, daß er für die seelische Expansion, für das seelische Streben nach Einheit und Aufbau keine Kräfte mehr zur Verfügung zu haben scheint. Vielleicht könnte man dennoch an eine Menschheit glauben, deren Kräfte zu versagen scheinen, wenn Wille und Sehnsucht, wenn Herz und Phantasie, wenn die Seele also nach neuer Einheit der Menschen, nach Gemeinsamkeit und Aufbau vernehmlich riefen. So sieht jedoch die seelische Situation nicht aus, und hierin liegt die Gefahr der Dekadenz des Friedens. Der Friedensgedanke unserer Zeit ist deutlich eine Zeugung der Angst, nicht der Liebe. Wir rufen nach Einigkeit, weil wir Angst haben, daß der Krieg unsere elende Vergangenheit, das 18 und 19. Jahrhundert, zerstört, an deren Laster wir noch mit unseren Herzen hängen. Wir rufen nach Frieden aus wirtschaftlichen und allen möglichen oder unmöglichen Gründen, aber nicht etwa, weil wir uns nach größerer Zukunft, nach eindr reicheren, wahrhaftigeren Gemeinschaft sehnen, nicht etwa, weil ein schönes Bild der Hoffnung und des Glaubens uns gefangen hält. Mit allen möglichen Rechtskonstruktionen will man den Frieden sichern, abe? für die Seele wird kein Raum geschaffen. Wir brauchen Sicherheit auch im seelischen und geistigen Raum, nämlich die Gewißheit, auf dem richtigen Wege zu sein. In den Köpfen vieler Staatsmänner und Journalisten gleicht Paneuropa oder die Vereinten Nationen einer Aktiengesellschaft aufs Haar. Für sie sind dies nicht zuerst Ideen, Ideale, Bilder eines Lebens, das sie ersehnen, sondern lediglich Institutionen, Versicherungsgesellschaften zum Schutz ihrer geistigen Engbrüstigkeit und ihrer Steckenpferde aus einer vergangenen Epoche. Der Friede als Wagnis der Zukunft ist ihnen unbekannt. Sie suchen den Frieden als Sicherung der Vergangenheit. Vergebens verfluchen sie die „-ismen“ und bleiben doch an dieser oder jener Stelle unbewußt im Gestrüpp des Marxismus oder des Nationalismus hängen, die vom Ueberschwang der Wissenschaften und ihrem Mißverstehen seit der Französischen Revolution geboren wurden. Noch immer versuchen die Menschen der Vergangenheit bewußt oder unbewußt das Leben in ein Schemenbild wissenschaftlicher Erkenntnis zu pressen, während die Zukunft nach einem neuen Verhältnis von Denken und Tun ruft, nach einer Verbindung ohne Unterordnung, nach einer Zuneigung zweier selbständiger Elemente, nach einem neuen Eros, der unabhängigen Geist zu selbständiger Tat bindet.

Der Spuk des Klassenkampfes, den das Kommunistische Manifest karikiert, wäre heute wirklich schon trotz aller Gewaltanstrengungen der Marxisten zum Schemen verblaßt, wenn sein feindlicher Zwillingsbruder Nationalismus nicht noch so kräftig umginge. Von der Masse und nicht wenigen ihrer Führer noch immer angebetet, zugleich als Faktum der Biologie und als Mythos, als unverrückbares Gebilde des Daseins, treibt der nationale Aberglaube sein Unwesen. Wie lange noch werden Individuen und Völker in einem Geist des Widerspruchs leben können, der die Nation in der westeuropäischen Konzeption des 18. Jahrhunderts bejaht, den Nationalismus aber zu verneinen vorgibt? Wann wird man endlich die moderne Konzeption der Nation überhaupt verwerfen? Wann wird man endlich einsehen, daß diese Konzeption mit dem Aufbau größerer Gemeinschaften, mit einem kräftigen Neubau der Welt völlig unvereinbar ist? Ist alles gut, was historisch geworden ist? Sind Bewußtseinsinhalte heilig, nur weil wir uns an sie gewöhnt haben? Empfindet niemand die Enge unserer geistigen und seelischen Situation? Wir scheinen keine Jugend zu haben. Hätten wir eine Jugend, so würde sie fühlen, daß wir erstickt werden. Blicken wir um uns, so sehen wir, daß cs nur die alten Herren sind, die an Europa und an der Welt bauen. Aber sie handeln aus ganz anderen Gründen. Wirtschaftliche Notwendigkeiten, strategische Erwägungen, das sind ihre Motive. Kein Wunder, daß die Entwicklung Europas unter dem Zeichen des Zuspät und Zuwenig steht. Solange nicht die Jugend aus Verzweiflung über die seelische Enge zu neuen geistigen Horizonten durchbricht, solange sie nicht das Leid und die Pracht der neuen Welt aller Menschen erblickt, so lange wird das .Abendland, auf sich zurückgezogen, dahinsiechen. Solange wir uns nur selbst sehen, wenn wir von Menschheit reden, wird es wohl kaum vorwärtsgehen. Unablässig ist die Apologetik der Nationalstaatsidee wie in der Vergangenheit so auch in der Gegenwart bemüht, die schroffen Gegensätze zwischen Nationalismus und Universalismus, zwischen engstirnigem Gruppenegoismus und Verantwortung gegenüber den sich gegenseitig bedingenden und stützenden Größen: Kontinent, Weltgemeinschaft und Menschheit, . äbzuleugheri und zu vertuschen. Nationale Ideen und Interessen tverden umfangreich und konkret behandelt; die Schicksalsfragen des Kontinents, der Gesellschaft, Kultur, Zivilisation und Weltgemeinschaft dagegen werden kurz und allgemein abgetan, um am Ende zu behaupten, daß die Nation, so wie sie sein wolle, Europa und der Menschheit verbunden sei. Daß die Nationalstaatskonzeption, so wie sie sich konkret verwirklicht hat, auf das engste mit der Entstehung zweier Weltkriege verknüpft ist, hat unsere Zeit bisher in ihrem Nationalwahn kaum irremachen können. Die Beschöniget nationalpolitischer Enge und Willensbildung finden fast überall noch gern Gehör und internationale Anerkennung. Nur wenige Einzelgänger beeilen sich, die Unvereinbarkeit des nationalen Denkens in der Politik mit einer gesunden Zukunft nachzuweisen. Wirtschaftskonstruktionen genügen nicht, um die eingefahrenen Geleise zu verlassen. Geistige und seelische Wandlung ist notwendig. Friede verlangt nach Ringen der Seele und Kampf des Gewissens. Auch im Politischen kann das gute Gewissen nicht ohne ein Wissen um das Gute, nicht ohne Kampf um ein wahres Sehen des Wirklichen gewonnen werden. Das Gewissen also gilt es zu wecken, wenn der Friede auch durch die schöpferischen Kräfte der Seele gewonnen werden soll. Einen Wirklichkeitssinn, einen „Realismus“, der nur in Wirtschaft und Strategie Kräfte sieht, kann man nur in Anführungsstriche setzen. Seelische Expansion allein hat auf die Dauer Lebenskraft zur Folge. Wenn der sogenannte Realismus der Wirtschaftler und Strategen in die Enge getrieben wird, wenn es hart auf hart geht, wenn auch strategische Erwägungen, am Ende der Weisheit angelangt, nach höheren Kräften rufen, dann werden die alten ,,-ismen“ ausgegraben, die meist wenig mehr sind als schlechte Gewohnheiten oder gar üble Instinkte. Der kalte Krieg, die unablässigen Nerven- und Kraftp benbringen uns dem Zustand aufgepeitschter Instinkte immer näher, während das eigentliche Ziel, die Gesundung, der Aufbau, die Harmonie einer wohlgefügten Welt immer mehr aus dem Gesichtsfeld schwindet.

Das maritim-atlantische Rüstungskombinat steht dem asiatischen gegenüber. Vorsichtig im Geplänkel messen sie die Kräfte. Die Gefahr ist nicht völlig von der Hand zu weisen, daß die Sinne der Völker immer mehr vom grimmen Schauspiel militärischer Macht fasziniert werden und darüber den Weg zu großgespannter neuer Gemeinschaft vergessen, der allein dauernde Ueberlegenheit, Gesundung und neues Leben bringen kann. Zusammenhalt entscheidet. Wer der Welt keinen echten Weg brüderlichen Zusammenwachsens, keine Ueberwindung nationalpolitischer Enge zeigt, kann auf die Dauer nicht siegen, da es heute weit mehr darum geht, das Chaos zu besiegen, als Menschen zu überwinden. Eben darin liegt ja die Krise unserer Zeit, daß die wissenschaftlichen, industriellen und militärischen Mittel, über die wir so reichlich verfügen, keine Antwort auf die babylonische Verwirrung des 20. Jahrhunderts darstellen, eine Verwirrung iedoch, die nicht lediglich Zerstreuung in alle Winde bedeutet, sondern Selbstmord im eng gewordenen Raum. Gerade auf diesen Konflikt zwischen den Erfordernissen des Raumes und der Manie der Nation als politisches Maß der Dinge spitzt sich die innere Krise unserer Zeit immer mehr zu.

Welche Eigenschaft, welcher Charakterzug der nationalen Konzeption ist es, der sie zum Widersacher Europas und der Welt macht? Die kulturelle Individualität ist es nicht. Nichts wäre unserem Schicksal verhängnisvoller als die Einschmelzung der Menschen in einen gleichförmigen Brei. In einer solchen Welt würde es sich nicht lohnen, zu leben. Im Gegenteil, die Vertrautheit mit der Vielheit der Kulturen, ihr Widerstreit und Zusammenklang, ihr Zusammenfließen und Trennen, ihre Wechselwirkung und Spannung sind ja das eigentlich Lebendige. Eine isolierte Kultur wäre ein Widerspruch in sich. Eiserne Vorhänge vertragen sich nicht mit Kultur, ebensowenig aber auch psychologische Barrieren. Gerade solche Barrieren richtet jedoch der N a t i o n a 1 g e d a n ke unserer Zeit auf, weil er von der Idee der Macht zutiefst korrumpiert ist. Die Verbindung von kultureller Individualität und Macht muß gelöst werden. Es ist der verhängnisvollste Irrglaube unserer Epoche, daß Kultur nur im machtpolitischen Rahmen gedeihen könne und daß nur das wirklich Kultur sei, was irgendwie vom Machtgebilde der historisch gewordenen Nation sanktioniert werde. Ja, politische Nation und Nationalkultur haben sich in unserer Vorstellung so verquickt, daß es einer Anstrengung bedarf, um das Widernatürliche der politischen Zwangsjacke zu erkennen, in der unsere Nationalkulturen so mühsam leben. Kein Wunder, daß die Kunst des Jahrhunderts mit Protesten erfüllt ist; sie sucht nach neuem Raum, neuen Berührungen. Die falsche Konzeption der Macht als nationale Macht ist eine geistige Fessel, aus der wir uns befreien müssen. Erst wenn wir wirklich zum allge mein Menschlichen und zum Menschheitsgedanken durchgestoßen sind, werden wir die Plattform gefunden haben, von der aus wir die Individualitäten der einzelnen und der Gruppen freier und stärker entfalten können. Dann erst wird es auch gelingen, dem Unheil der Vermassung Schritt für Schritt wieder Boden abzuringen.

Die Entwicklung unserer Zeit hat einen gleitenden Charakter. Die politischen Grundlagen unserer Existenz, soweit sie im 18. und 19. Jahrhundert gelegt wurden, sind geistig, moralisch und materiell auf schiefer Bahn. Wir können nicht mehr wagen, uns auf sie zu stützen, uns an ihnen anzuhalten. Staatssouveränität, Volkstum, Nation, die politischen Ideale, die festen Punkte und Maßstäbe der Vergangenheit, sie vermögen uns nicht mehr zu tragen. Würden wir uns wirklich ganz auf sie stützen, so müßten wir immer schneller abwärtsgleiten. Halt und feste Maßstäbe können in solcher Lage nur durch festes und beherztes Zupacken nach vorn gewonnen werden. Europa, atlantische Gemeinschaft, Weltverband; das sind die raumbestimmten Einheiten, die als Kristallisationspunkte des politischen Empfindens, Leidens, Hoffens, Strebens unserer gleitenden Zeit wieder Halt und Sinn geben können. Im politischen Bereich müssen wir die ethnischen und nationalen Bindungen aufgeben und die Bindungen an den Raum beleben und stärken. Der Raum und seine Geschichte ist die Grundlage der Politik, die Gesellschaft freier Menschen also, nicht dagegen der politische Pferch: Nation; nicht Ethnos als politisches Ethos, nicht das Völkische als Maß der rerum politicarum. Das Erwachen der großen Räume, die Konsolidierung Europas in der

Lebensgemeinschaft der Kontinente, macht es erst möglich, der Totalität der Zerstörung die Totalität des Aufbaues gegenüberzustellen. Nur so kann aus der Dekadenz die Aszendenz des Friedens werden. Um mit dem totalen Krieg fertig zu werden, genügt es nicht, ihm die totale Wirtschaft gegenüberzustellen. Neben die Weltwirtschaft muß die wirkliche, fest organisierte, im Existenzbewußtsein lebendige politische Gemeinschaft der Völker treten.

Tun wir wirklich alles, um den nationalen Separatismus, den menschheitsfeindlichen, allzu beschränkten Gruppenegoismus zu überwinden? Wann wird man es wagen, zu proklamieren, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie wir es in den letzten Jahrhunderten kennenlernten, nichts ist als das feierliche Recht, dem Nachbar an die Gurgel springen zu dürfen? Sagen wir es den Völkern offen: Selbstverwaltung, ja; Staatssouveränität, nein! Weit besser wäre es, die Selbstbestimmungsrechte der einzelnen Menschen wenigstens im kontinentalen Raum zu erweitern, als den Kollektiven und Gruppenegoismen bei jeder Gelegenheit ein Bravo zuzurufen und ihnen bei jedem Anlaß noch ein moralisches Mäntelchen umzuhängen. Gewiß, der vordringlichste Kampf unserer Zeit ist der Kampf gegen Diktatur und Terror, gegen Zwang und Gewalt. Ist es aber nicht doch ein wenig kurzsichtig, wenn dieser Kampf im Namen der nationalen Befreiung geführt wird? Verspricht man damit nicht im Grunde nur eine akute Krankheit durch Siechtum abzulösen? Allerdings — will man wirkliche Gesundung versprechen, proklamiert man, daß die Befreiung aus dem Kerker schließlich die Gesellschaft freier Menschen im kontinentalen

Raum bedeuten wird, dann muß man das Bild leuchtender Freiheit und wahrer Gemeinschaft der Völker auch vorleben. Von diesem Ziel sind wir jedoch trotz Montanunion und Europarat, trotz NATO und EVG noch sehr weit entfernt. Sicherlich vermögen Theorien allein nicht viel. Haben wir es jedoch nötig, das ewige Zuwenig und Zuspät höflich grinsend hinzunehmen? Wäre es nicht klüger bei den Selbstgefälligen, den Gestrigen und den Engstirnigen etwas mehr Aergernis zu erregen? Wer hat denn eigentlich Rechte auf die Saar, auf Triest, auf Ostdeutschland, auf Polen, das Donautal und so vieles andere? Ist es nicht jeder von uns überall in Europa? Ist es nicht höchste Zeit, daß sich die Gesellschaft freier Menschen in Europa und' im atlantischen Raum nicht nur wirtschaftlich und strategisch fester organisiert, sondern sich endlich auch zu einer seelischen Mobilmachung entschließt? Es gilt das pragmatische, nach der funktionellen Theorie einherhumpelnde Europa durch eine Revolution der Herzen und der Selbstbehauptung zu ersetzen. Die Hybris der Egoisten und der auf die Vergangenheit zielenden politischen Horizonte muß der neu entstehenden Souveränität politischer Großgemeinschaften vor allem auch in unserem moralischen Bewußtsein weichen. Haben wir nicht das Recht, verzweifelt und empört zu sein, wenn immer wieder hier und dort ein Kollektivpopanz in Europa aufsteht und, laut auf sein nationales „Recht" pochend, uns alle in Not Und Gefahr zu bringen droht? Nur wenn wir zunächst einmal das Unrecht beim Namen nennen, werden wir einst mit der Dekadenz des Friedens fertig werden und mit dem eigentlichen Aufbau beginnen können.

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