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Österreich?

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In diesen Tagen gehen die Feiern zur 950-Jahr-Feier Österreichs ihrem Höhepunkt zu.

Was feiert Ihr, was habt Ihr zu feiern? Seht Ihr nicht, daß das Volk hungert? Viele sind müde, viele gehen irre, viele warten ... auf Arbeit, Brot, auf den Frieden, auf geregelte Tätigkeit, die Ruhe eines eigenen Heimes. Ihr aber schreibt und redet und verkündet in Ausstellungen die Sage von Österreich! Was ist denn dieses Österreich? Ist es nicht ein kleines Land, das gut daran tut, den Großmächten nicht noch mehr Schwierigkeiten zu bereiten, ist es nicht lächerlich und vermessen, angesichts der Machtverhältnisse unseres Zeitalters von einer österreichischen Sendung zu sprechen, von einem österreichischen Menschen? Nein, es ist nicht die Stunde heute zu feiern, und was sollten wir auch feiern? Was ist dieses Österreich? Unsern Vätern hat es viel Leid gebracht, unseren Großvätern, die auf dem fruchtbaren Boden vulkanischer Erde heranwuchsen, ging es im Grunde nicht besser und wenn wir die Geschichte dieses Landes betrachten: Ist sie nicht eine Geschichte voll von Irrungen und Wirrungen, von Enttäuschungen und Schmerzen?

Skeptisch, mit einem ironischen Achselzucken, mit dem müden Lächeln der Verneinung, lehnt der Wiener sich auf gegen Feste und Feiern, instinktiv steht der Mann der Alpenlande in Abwehrstellung, voll Mißtrauen gegen das Zentrum, er wittert nur allzuleicht Herrschaftsgelüste, die sich unter dem Mantel des Einheitsstrebens beugen ... Diese Abwehrstellung liegt dem Österreicher im Blut: Aus ihr sprechen, was oft nicht richtig erkannt wird, die sehr konkreten Erfahrungen von Jahrhunderten. In das Blut de- Wieners sind eingegangen die bitteren Erlebnisse aller Völker des Donauraumes, des Fieberns zwischen Pest, Hunger und Türkennot, die Enttäuschunsen zusammengebrochener Hoffnungen auf politische Freiheit und Selbständigkeit. Alle Wiener Aufstände, welche der Stadt eine größere Eigenständigkeit gegenüber dem Landesherrn bringen sollten, sind in sich zusammengebrochen seit den Tagen Rudolfs von Habsburg, der Ferdinande und dem schweren Jahr 1848. Die Niederösterreicher und Oberösterreicher, die Kärntner, Salzburger und Steiermärker tragen mit sich die Erinnerung an Bauernkrieg, an Reformation und Gegenreformation; ein Ringen um „Glaubensfreiheit“, so wie das Landvolk und die Stände es damals verstanden, ersäuft in Blut, Landvertreibung und Volksnot. In den Tirolern zuletzt lebt immer noch der Groll über das „Versagen“ der Zentralregierung in den Tagen Andreas Hofers; singt nicht noch heute das Volkslied vom „Verrat“ des Kaiser Franz? Vorarlberg schließlich, durch räumliche Entfernung, Landschaft und stammliche Sonderart getrennt vom übrigen Volkskörper, ragt schon weit hinein in den Lebensraum des Westens, ebenso wie das Burgenland sich breit'auftut der Steppe, der Weite des Ostens.

Hat es hier Sinn „Österreich“ zu feiern? Ist es an der Zeit von Österreich zu sprechen, ist dies Wort nicht nur ein sich prunkvoll gebärender Tarnname einer Firma, in der sich Reaktion und Revolution zu schlechtem Bündnis zusammengetan haben, ein Deckschild für politische Schleichhändler aller Art, die Parole e-chäftstüchtiger Fabrikanten und neuen Anschluß suchender Gesinnungsartisten? Wenn in diesem Herbst 1946 Österreich gefeiert wird, ist es Spiel und Traum, Revue und Museum, Sage und Geschäft, Anmaßung . und Einbildung?

0Penn wir in diesen Tagen zu den letzten Feiern „950 Jahre Österreich“ zusammentreten, dann tun wir dies nicht, weil wir zu spielen oder zu träumen wünschen, sondern weil wir wissen daß wir die Aufgaben, welche die Stunde und dieser Lebensraum uns stellen, nur meistern können, wenn wir uns der Gaben bewußt sind, welche uns in den Schoß mitgegeben sind. Österreich als Aufgabe kann nur gemeistert werden, wenn es vorher als Gabe richtig verstanden wird. Österreich als Gabe: Es ist dies eine Frucht — und leidschwere Gabe, die jedem Menschen eingesenkt ist, der in diesem Schicksalsraum geboren wurde; sie birgt in sich das Wissen um das Leid und um die Freude vieler Geschlechter, sie bestimmt und formt das Verhalten des österreichischen Menschen zur Umwelt. Daß wir uns hier nicht in mystizistischen Gedankengängen bewegen, zeigt ein Blick auf die Erfahrungen gerade der jüngsten Vergangenheit. Wo immer er sich auch befand, in den Kasernen und Schützengräben des Dritten Reiches, im Westen oder Osten, überall erkannte man den Österreicher weniger an besonders hervorstechenden Einzeleigenschaften als vielmehr an seinem Gesamtverhalten der Umwelt gegenüber: Prüfend und wägend, verhalten kritisch, Abstand nehmend, wußte auch der einfachste Mann aus dem Volke sehr schnell Bescheid um das Maß der Dinge und Erscheinungen und fand so die Kraft, Abstand zu nehmen und sich innerlich abzusetzen von oft übermächtigem Druck der äußeren Misere. Zu dieser Haltung der Abwehr, des Abstandes, des Maßnehmens, gesellt ich aber andererseits eine unerhörte Anpassungsfähigkeit, die Gabe der Hingebung, eine Weichheit, die sonst oft nur dem Kinde und der Frau eigen sind. Wir glauben, daß in dieser polaren Grundhaltung etwas von der Patengabe Österreichs an jeden Österreicher zum Ausdruck kommt: Schweres, iahrhundertlanges Geschick und Mißgeschick haben den Österreicher gelehrt, den Mächten und Gewalten dieser Erde prüfend gegenüberzutreten. In dem „Sich-nicht-imoonieren-Lassen“ des kleinen Mannes liegt doch nicht nur Trägheit des Herzens und eine billige Schläue gemeiner Denkungsart, sondern ein tiefes, teuer bezahltes Wissen um die Hintergründe von Glanz und Glorie der großen Mächte. In dieser Begabung des Abstandnehmens, des Massegewinnens, wurzelt bekanntlich ein gut Teil der österreichischen Kunst der Kritik, dieser eigentümlichen Gabe des Scheidens — und Unterschidens. der österreichischen-Lebenskunst. Dazu gesellt sich aber als notwendige Ergänzung die Befähigung der Hingabe, des restlosen Anerkennens fremder Werte und Wertigkeiten: Kunst und Musik des Landes haben reichsten Nutzen gezogen aus dieser Miteift. Die Aufgabe Österreichs besteht nun, nach außen und nach innen gewandt, in eben der Fruchtbarmachung dieser Gabe, welche die Geschichte dem Österreicher in die Wiege gelegt hat: Im Ernst und Demut bekennen wir uns zu dieser Sendung Österreichs: Nicht in .der anmaßenden Rolle des Propheten, des nationalen Messianismus, tritt der Österreicher auf die Bühne der Völker. Wir behaupten nicht, daß am österreichischen Wesen die Welt genesen wird, wohl aber glauben und wissen wir etwas anderes, Wesentlicheres: daß wir berufen sind, aus dem reichen Schatz von Erfahrungen, den wir in uns tragen, der Welt zu sagen vom Wesen des Menschen und des Menschlichen Schauspieler sind wir alle auf der Bühne der Weltgeschichte: der Mächtige wie der Ohnmächtige, der Arme wie der Reiche, der König wie der Bettler — wir Österreicher haben unsere Rolle — sie ist uns damals in den Jahrhunderten des Aufgangs des Abendlandes zugeteilt worden, als der höfische Reimar. der volksverbundene Walter von der Vogel weide und der derb-satirische Neidhardt von Reuental in und um Wien sangen, als das griechische Wiegenlied einer byzantinischen Prinzessin sich zum heimischen Eia Dope'a wandelte. Seither sind wir berufen im Gleichnis und in der Wirklichkeit unseres

Menschentums der Welt Zeugnis zu geben; nimmt es da noch Wunder, daß die schönen Künste, Musik, Theater im österreichischen Leben eine so große Rolle spielen? Wissen um hohes Leid und tieftrunkene Freude, das Pathos des Barocks ist zum Pathos des Österreichers geworden Da es sich hier nicht nur um historische Besinnlichkeiten, sondern um gegenwartsmächtige Strahlweise österreichischer Eigenart und Wesenheit handelt, mögen einige scheinbar willkürlich gewählte Beispiele zeigen.

Verkannt und wenig beachtet im Heimatland hat die Psychoanalyse Freuds heute einen Siegeszug um die ganze Welt angetreten; uns bewegt hier nicht ihre letzte wissenschaftliche Bedeutung, sondern die gerade vom Ausland her eingesehene Tatsache, daß dieser scharfe Scheinwerfer in die grollenden Untergründe des Menschen nicht zufällig zum ersten Male in der Hauptstadt der k. u. k. Monarchie erstrahlt ist. Auf ihre Weise haben bereits Nestroy und Grillparzer denselben Blick in die Tiefe des Menschen getan; Sollte es hier wieder Zufall sein, daß einer der führenden amerikanischen Dichter und Dramatiker, Thornton Wilder Nestroy übersetzt hat, daß in der Schweiz und in Frankreich gerade in diesen letzten Jahren steigende Bemühungen um die Erkenntnis Grillparzers im Gange sind? Aus dem Zerfall der Monarchie herkommend, die Brücke der Zukunft in der wunden Brüchigkeit der eigenen Seele angstvoll ahnend, ist Rilke zum Gestalter des Seelischen zwischen den Zeiten geworden; in ihm und über ihn finden wir Begegnung nicht nur mit den erlesensten Geistern des Westens, sondern auch mit den feinsinnigsten Lyrikern des Ostens: Paul Valery legt ebenso wie Alexander Blok und seine Nachfolger in der sowjetischen Lyrik davon Zeugnis ab. Ein Arzt und Denker, einige Dichter — ist dies all, was Österreich der Welt zu geben, zu sagen hat? Also doch nur „Kunst“, Musik,

Theater, Schauspiel, Mode, die Welt des schönen Scheins? Nein, Österreich hat der Welt noch mehr zu geben.

Um dies ganz zu begreifen, wollen wir noch einen Blick werfen auf ein seltsames Bild, welches das Wien der Gegenwart uns bietet und das in merkwürdiger Bedeutung Größe und Grenze der österreichischen Tradition aufzeigt:

Die großen repräsentativen Bauten der Hauptstadt des Landes sind alle vom Kriege getroffen worden, so wie auch wir alle, getroffen, betroffen sind. Stephansdom und Rathaus, Ringstraße, Museen und Ballhausplatz, Oper und Burgtheater, die G;meinde-bauten.Mehr oder minder schwer angeschlagen sind sie alle, vom Mordstrahl schuldverhan-gener Zeit getroffen; keines aber zur Gänze zerstört. Dies Bild und Gleichnis sollte uns Österreichern Mahnung, Warnung und Erhebung sein. Wir alle haben Schutt beiseite zu räumen, Schutt in den Herzen und Geistern, im Stil und der Haltung unseres Lebens. Die österreichischen Christen haben der Welt und ihrem Volk zu zeigen, daß sie frei sind von reaktionärem Klüngel und klerikaler Herrschsucht,.frei zu einem Leben im Dienste Gottes und des Nächsten. Die österreichischen Parteien müssen der Welt und ihrem Volke beweisen, daß sie imstande sind, den Kampf für ihre eigenen Anliegen zu verbinden mit dem Einsatz im Dienste wahrer Demokratie die Bundesländer haben durch die Tat zu erweisen, daß sie um die Verpflichtung der Einheit des Landes wissen, die Wiener zuletzt, daß sie sich herzlich verbunden fühlen der Eigenart aller unserer Lande.

950 Jahre önerreich — wir haben nur dann das Recht, seine Vergangenheit zu feiern, wenn wir aus seiner Geschichte gelernt h a b e n. Die Lehre der Geschichte Österreichs aber heißt: die größten Spannungen Europas haben sich, im West — und Ostgefälle des Abendlandes, in Investiturstreit, Hussittensturm, Glaubenskrieg und Türkennot, in den nationalen und revolutionären Bewegungen des 1% und 20. Jahrhunderts immer wieder gerade auf unserem Boden in gefährlichster Weise getroffen, entzündet und entladen. Keine Gewalttat, kein Krieg, kein iierrscherliches Machtwort vermochte sie zu bändigen — Herr über sie wird nur der Mensch mit dem wahrhaft weiten innerlich reichen Herzen und dem weltoffenen Geiste: der Österreicher, so wie ihn die Welt achtet, schätzt und lieben gelernt hat!

Nach außen hin hat nun der Österreicher bereits ein bedeutsames Zeugnis abgelegt für die ihm eigentümliche Begabung, Spannungen zu überbrücken, Gegensätze auszugleichen.

Das Pariser Abkommen mit Italien über Südtirol, von führenden Staatsmännern der vereinten Nationen als Vorbild für eine Welt der Gegensätze gepriesen und dargestellt, beruht geistig und seelisch auf einer Haltung und Tradition, die zutfefst österreichischem Wesen entspricht. Es ist dies der Glaube an ein ewig gültiges Recht, welches in Staatsverträgen nicht nur einige Blätter Papier, sondern monumentale Dokumente menschlichen Kulturwillens sieht, und es ist vor allem ein Wissen, daß die großen Spannungen im Leben der Völker wie des Einzelmenschen nicht durch Kurzschlußlösungen, durch Krieg und das Wort der Diktatur, sondern nur durch standhafte innere Arbeit, Offe jjh e i t zum Verhandeln auf einer gemeinsamen Plattform der Menschlichkeit gelöst werden können.

Der Österreicher von 1946 ist i;n Be?,rifie, in das große Orchester des Abendlandes wieder einzutreten: Er beweise nun auch seinen eigenem Volke, daß er, der Enkel Fischjr von Erlachs und Dietrich von Hilde-branfls, zu bauen versteht: Nicht nur Paläste und Dome, sondern, in der bewußten Überwindung aller Spannungen und Gegensätze das Haus eines freien Volkes in einem Lande, das der Freiheit wert und würdig ist, weil es immer wieder seine besten Söhne nicht für sich einbehalten, sondern derganzen Menschheit geschenkt hat.

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