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Kein deutsches, kein slowenisches Kärnten

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Als mit dem Ende des ersten Weltkrieges auch jenes Modell an sein Ende gekommen war, von dem heute in alles verklärender Erinnerung als von einem „Modell Europas“ gesprochen wird, ging in Wahrheit ein ebenso grandioses wie widersprüchliches Reich, die österreichisch-ungarische Monarchie und mit ihr die Casa d'austria, an einer langen Reihe von nicht minder grandiosen Fehlern und Irrtümern zugrunde. Die Marxisten sagen: der Über- und der Unterbau einer Klassenherrschaft war an seinen inneren Widersprüchen gescheitert. Und in der Tat, daran mag einiges wahr sein.

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Als mit dem Ende des ersten Weltkrieges auch jenes Modell an sein Ende gekommen war, von dem heute in alles verklärender Erinnerung als von einem „Modell Europas“ gesprochen wird, ging in Wahrheit ein ebenso grandioses wie widersprüchliches Reich, die österreichisch-ungarische Monarchie und mit ihr die Casa d'austria, an einer langen Reihe von nicht minder grandiosen Fehlern und Irrtümern zugrunde. Die Marxisten sagen: der Über- und der Unterbau einer Klassenherrschaft war an seinen inneren Widersprüchen gescheitert. Und in der Tat, daran mag einiges wahr sein.

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Die wahre Todesursache dieses Reiches;, oder, wie gesagt, dieses Modaus, ist aber eine ganz andere. Nicht die Marxisten hatten das Ende heraufgeführt, wiewohl sie sich vorgenommen hatten, die Monarchie zu zerstören, nicht aber das Reich. Jenes grandiose, vielgeschmähte und hochgelobte Reich starb an einem anderen Keim, der seit Beginn des 19. Jahrhunderts so gewaltig ins Kraut geschossen war, daß er schließlich die gesamte politische Landschaft veränderte: am Nationalismus, am Unabhängigkeits- und Selbstbestimmungsanspruch von Teilstaaten, Völkern und Volksgruppen. An der gewaltigen Imagination, die Welt würde besser und jedermann in ihr freier und glücklicher werden, wenn nur endlich das durchgesetzt worden sei, was man das Selbstbestimmungsrecht der Völker nannte, beziehungsweise was man darunter verstand. Man sollte diese Überlegung gerade heuer, da Kärnten den 50. Jahrestag der Volksabstimmung begeht, ganz an die Spitze aller Gedenken stellen. Denn nur auf diese Weise können wir heute noch zu einer wahrhaft nützlichen und zeitgemäßen Besinnung gelangen. Die Volksahstimmung in Kärnten war gewissermaßen der Umsprung von kriegerischer Quantität in demokratisch-politische Qualität, denn hier war nicht der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern, die Politik das Ende eines neuentflammten Krieges. Es lockt heute, Vergleiche anzustellen. Etwa der Art, daß, wären die

Tiroler dem Beispiel der Kärntner gefolgt, die Sache auch dort einen anderen Ausgang genommen hätte und wir heute nicht mehr um Dinge zu reden und zu bangen haben würden, die in jeder Phase deutlich machen, wie anachronistisch die politischen Strukturen Europas doch immer noch sind.

Indes, dies wäre ein Unrecht an den Tirolern. In ihrem Falle waren sich alle Alliierten lange vor dem Kriegsende einig gewesen, und der Preis, den sie einander zahlten, drückte sie nicht schwer, da er bekanntlich zu Lasten der Tiroler ging. Und dennoch wurde im Falle Tirols das neuproklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker, jene vom Amerikaner Wilson naiv definierte Illusion des 19. Jahrhunderts, weit erheblicher verletzt, als das in Kärnten je hätte der Fall sein können. In Kärnten lag immerhin ein Gebiet mit deutlicher Völkermischung, ungenauer Sprachengrenze und kulturellen Unterschieden vor aller Augen, in Tirol aber gab es nur e i n Volk und eine exakt verlaufende Sprach- und Nationalitätengrenze.

Die ins Land drängenden Truppen des soeben entstandenen SHS-Königreiches, ergänzt durch die schon dagewesenen, nun freigewor-denen Kriegsgefangenen der vormals serbischen Armee, beriefen sich zunächst auf das ihnen im Waffenstillstandsvertrag zugestandene Recht, „strategisch wichtige Punkte“ nach Gutdünken besetzen zu dürfen.

Sie nahmen sich dieses Recht nicht bloß aus Argwohn, Österreich könnte vielleicht doch nicht so tot sein, wie es den Anschein hatte, und auch nicht nur aus einem Gelüst nach Okkupation, sondern aus noch viel weiter reichenden strategischen Überlegungen. Der junge SHS-Staat hatte auch noch mit Italien eine Selbstbestimmungsrechnung offen hinsichtlich Istriens und Triests. Flankenschuitz des eigenen oder Flankenbedrohung des fremden Besitzstandes, einerlei — man wollte handeln. Mit diesen Intentionen floß der nationale Anspruch Sloweniens zusammen, der sich eine exzessive Auslegung des Selbstbestimmungsrechtes zurechtgelegt hatte, die vor allem auf Kärnten zielte. Rechenschaft darüber, ob sich dieses Gebiet für so eine Art Selbstbestimmung überhaupt eigne, gab man sich in Laibach nicht. Eben noch national, war man auch schon nationalistisch geworden, wie soviele andere zuvor! Die Abneigung Kärntens, sich gewaltsam „heimholen“ zu lassen, stieg. Und diese Abneigung war zunächst nicht als eine deutschnationale Reaktion zu verstehen. Es ging den Kärntnern, oder dem weitaus größeren Teil von diesen, nicht um die viel später in die Diskussion eingeführte „Deutscherhaltung des Kärntner Bodens“, als vielmehr um die Bewahrung eines aus Geschichte und Völkermischung hervorgegangenen, eigenartigen und unverwechselbaren Raumes, eben um das, was was man schlicht die „Einheit Kärntens“ nannte. Es ging auch nicht um den Staat, der jetzt auf einmal Österreich hieß, worunter knapp zuvor noch etwas ganz anderes zu verstehen war, denn für diesen Staat gab es kaum ein wirkliches Gefühl und kaum erst Liebe. Es ging ganz einfach um die Heimat, nicht ums Vaterland. Und Heimat kann zuweilen eben sehr viel mehr bedeuten...

Man spricht heute ebenso gerne wie unbedacht von einer „Volkserhebung“. Wenn wir den Archivbeständen folgen, die niemals angezweifelt worden sind, handelt es sich um nichts weniger als um eine solche. Hatten die den Widerstand organisierenden Kärntner gehofft, etwa 25.000 Mann kampfstark zusammenzubringen, die den da und dort bereits aktiven Widerstand leistenden Landsleuten beispringen sollten, so blieben von der ersten Rekrutierungswelle kaum 900 übrig! Von 6500 Einberufenen setzten 2200 sogleich ihre, Enthebung durch, 1100 waren untauglich, 1900 entfernten sich unerlaubt.

Zur Zeit des Höhepunktes der Kämpfe standen auf der Kärntner Seite 404 Offiziere und 6273 Mann in der Volkswehr. 7071 Mann standen in Alarmeinheiten, den späteren Heimwehrkompanien, einige davon in Gebieten, in denen es nie Kampfhandlungen gegeben hat. Zuweilen standen an entscheidenden Punkten 10.170 Gewehren der SHS-Streit-kräfte bloß 1790 kärntnerische gegenüber.

Dieser Kampf wäre ganz und gar aussichtslos gewesen, hätte er nicht durch seinen Lärm die internationale Diplomatie herbeigerufen, die dem Getümmel ein Ende machte. Das Land, beziehungsweise der Teil des Landes, um den es ging, sollte in einer Volksabstimmung frei entscheiden dürfen.

Lassen wir einmal die offenen und die versteckten Gründe beiseite, die unter den Alliierten zu dieser Entscheidung geführt hatten; — immer noch bleibt eine bemerkenswerte Lehre für uns zurück: auch im Zeitalter der Massenbewegungen und der Massenhysterie kommt es sehr oft nur auf einige wenige an, die nicht tun, was allen zunächst opportun erscheinen mag, die sich den heraufziehenden Ereignissen stellen und die Last der Verantwortimg auch dann und dort übernehmen, wo der natürliche Instinkt des Menschen, der auf Überleben und nicht auf Heldentod gerichtet ist, sie eigentlich warnen und behindern müßte. Doch wir können uns heute mit diesen einlachen Symbolformeln und dem Ergebnis der Volksabstimmung allein nicht zufrieden geben. Nichts in der Geschichte setzt unveränderliche Rechte. Alle Geschichte hat ihren Anfang und ihr Ende. Da mag es gut sein, zu begreifen, daß der Sieg der besten Sache nicht nur Sieger, sondern auch Unterlegene zurück läßt. Die aber sind nicht der Überzeugung, einer schlechteren Sache gedient zu haben und nie wird sie jemand davon überzeugen können. So gilt es, im Frieden die Voraussetzungen des Krieges zu überwinden und alle Gründe für einen neuen Krieg beiseite zu schaffen.

Wir alle, Mittel- und Südosteuropäer, Bewohner also eines Raumes, in welchem das „Selbstbestimmungsrecht den Völkerkerker“ sprengte, sollten uns zu einer Erkenntnis reif und bereit finden: — wir waren schon einmal mehr als bloß eine Nation! Wir hatten zumindest alles, um über diese Entwicklungsstufe hinauszugelangen, aber wir sind, von einem fragwürdigen Recht fasziniert, davon abgekommen, den entscheidenden Schritt zu tun. Und doch kann es nicht das Endziel der Entwicklung menschlicher Gesellschaft sein, bei den Nationen stehen zu bleiben. Vom umherstreifenden Jagdimenschen über die Familie, Sippe, Stamm und Volk bis hin zur Nation war. ein langer, mühevoller Weg zurückzulegen. Angesichts einer Welt, die sich anschickt, sich Parakolonien im Kosmos beizulegen, wäre es vermessen, die Nation und die eine Nation auf einem Staatsgebiet als gesellschaftliches Endziel erkennen und anerkennen zu wollen.

Wir treten allgemach in die Formeln der Indiustriegesellschaft ein. Das bedeutet: völlige Veränderung der Ökonomie, der Politik, der Kultur, der Bildung, der Moral, ja sogar der Mythen und Religionen, um es nur anzudeuten. Im Anhauch dessen werden Grenzen ungenau, lästig, unnütze Plage. Die Gartenzäune werden morsch und schief und seltsam unwirklich, was sie umzäunen Ist nicht mehr der alte Besitz, was immer auch im Grundbuch der Gemeinden und der Geschichte darüber verzeichnet stehen mag. Und — auch das muß zu diesem Anlaß gesagt werden — jene uns oft so schockierenden anarchischen Aufzüge, ob sie sich nun als bloße Lust an der Gewalt, als fellachisches Unbeteiligtsein oder gleich einem transformierten Lemmingeneffekt durch drogensüchtiges Verlangen nach Untergang äußern, sind ihrer wahren Herkunft nach nur ein Symptom dafür, daß die Gesellschaft sich noch immer nicht dazu aufraffen kann (oder nicht dazu aufraffen will), zu neuen Formen aufzubrechen. Sollten wir aus dieser Schau nun das Ergebnis der Volksabstimmung verlachen, mißachten, was nötig war, um zu diesem Ergebnis zu gelangen? Oder sollten wir, historischen Dickköpfen gleich, stets auf die „älteren Rechte“ pochen und auf die doch nur von einem historischen Augenblick zum anderen gegebene „Macht der Verhältnisse“ uns berufen? Oder sollten wir nicht doch die Schwelle zu einer längst zu erahnenden, größeren Völkergemeinschaft durchschreiten, in welcher der Streit von gestern und worum es ging, eine achtenswerte Erinnerung darstellt, aber keine bindende Hypothek mehr ist?

Kärnten darf stolz darauf sein, daß es ein Boden ist, auf dem seit Jahrhunderten, ja, seit mehr als tausend Jahren einander Völker begegneten und sich mischten, zusammen weinten und lachten, einander liebten und heirateten, Kinder in die Welt setzten und so ein besonderes Ganzes geschaffen haben, das sich nun einmal nicht mehr eignet, zwischen Minderheit und Mehrheit anders als bloß folkloristisch zu unterscheiden. Würden wir das unterlassen, würden wir kleinen Völker uns um anachronistische Ziele streiten, entstünde ein Vakuum, das zwangsläufig jeden raumausfüllenden Einbruch provozierte, nicht etwa irgend eines Nachbarn, denn die alle sind heutzutage ebenfalls kleine Völker geworden, sondern gänzlich anderer Ballungen der Macht. Niemals waren die Möglichkeiten für eine solche wahrhaft weiterführende Verständigung größer. Wir alle sollten uns nur nicht beschwatzen lassen, schon gar nicht von jenen, die meinen, es ginge noch immer um ein entweder deutsches oder anderenfalls um ein slowenisches Kärnten. Das sind Spielformen von vorgestern, die zu einer Dauerlähmung des Landes führen müßten. Es geht darum, e i n Kärnten zu haben, das sich in keinem seiner

Söhne und Töchter verleugnen muß. Ein Kärnten, das in dieser und jener Zunge spricht und keine Versuche macht, andere zu überreden. Die Beweggründe jener, die zur Abstimmung gegangen sind, waren in jedem Falle ebenso ehrenhaft wie verständlich. Die Abstimmung beendete einen Streit, dessen ehrenhafte Tote beider Seiten die Felder bedeckten, und keine Träne wiegt den Verlust eines Lebens auf, das nicht dazu bestimmt gewesen, an Kugeln und Granaten zu sterben, lange vor seiner Zeit! So war diese Abstimmung das Ende einer furchtbaren Verwirrung. So sollte sie auch der Anfang einer Zeit sein, die über die verwirrenden Umstände hinauswächst.

Die materielle Trümmerlandschaft, die zwei Weltkriege bereitet haben, konnten wir sanieren und wiederum in Ordnung bringen. Da besser, dort schlechter, aber immerhin. Doch wieviele sitzen immer noch inmitten einer geistigen Trümmerlandschaft und spielen, unwissenden Kindern gleich, mit den abgeschlagenen Teilen?

So ist Kränten nun vor aller Augen zu einem Werk herausgefordert, das schwer zu vollbringen sein mag, das aber allen Einsatz lohnt: Bedingungen im Lande zu schaffen, die allen seinen Bewohnern gleichermaßen mehr bedeuten als jene, die anderswo zu finden sein mögen. Und wir müssen wissen, daß gerade in diesem eigenartigen Lande allen Brüdern angetan wird, was einem Bruder widerfährt! Indem sich Kärnten zu einem Beispiel erhebt, das sich die Umwelt nehmen kann, erfüllt es den Sinn der Not und der Prüfungen der Geschichte, die immer noch mehr ist, als alle Wissenschaft sich träumen läßt.

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