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Menschenfischer

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Wenig genug hörten wir in den vergangenen Jahren von den wesentlichen Dingen, die außerhalb unserer Heimat sich vollzogen. Selbst innerhalb Österreichs erfuhren wir ja aus den anderen Städten und Bundesländern das, was wir wirklich wissen wollten, meist auf eine mehr zufällige Art, bestimmt nicht durch die Zeitung. . . und wir hatten auch mit uns selbst und mit den Verhältnissen in dieser unserer engeren Heimat volllauf zu tun und fragten wenig danach, was anderswo geschah. Nun aber beginnt doch langsam die Mauer abzubröckeln, die uns noch immer von Europa scheidet; Aufsätze, Bücher und Zeitschriften kommen zu uns, wir hören von der Jugendbewegung der Schweiz und Englands, von dem großen geistigen Umschwung in den westlichen Staaten ... und so liegt nun wieder ein Buch aus der Schweiz vor uns, eine Ubersetzung aus dem Französischen: der „Menschenfischer“ von M. van der Meersch*, ein Buch von der J. O. C. **, der christlichen Arbeiterjugend Frankreichs.

Wir haben alle schon gehört von dieser Bewegung, die, in Belgien Anfang der zwanziger Jahre gegründet, wenige Jahre später auch in Frankreich Fuß faßte und dort, rein auf weltanschaulichen Dingen aufbauend, dennoch auch in der politischen Sphäre jene Kräfteversdiiebung vorbereitete, die dann zwanzig Jahre später die große Überrasdiung nach dem Ende des Krieges wurde und deren wahre Bedeutung sich auch heute, da Frankreich noch längst nicht zur Ruhe gekommen ist, noch gar nicht abschätzen läßt. Wir lasen von !hr in den Zeitungen, wir lernten ihre Grundsätze und ihre Gliederung kennen aus der „Mappe Guerin“ und aus den Straßburger „Dokumenten“; und was wir solcherart schon wissen, das läßt uns begierig nach diesem Buch greifen, das uns hierüber nicht mehr viel Neues sagt, das aber einfach erzählt vom Leben der J. O. C., gespiegelt an ihrem Ringen um eine nordfranzösische Industriestadt; in nüchterner, kunstloser Sprache und dabei rein durch die Gewalt und Spannung des Geschehens mitreißend, daß man es nicht mehr aus der Hand legen mag, erzählt das Buch von den Anfängen der Bewegung, von den erbitterten Kämpfen — Frankreich Mitte der dreißiger Jahre!—, von den Streiks, den sozialen und sittlichen Mißständen; erzählt von Abbe Cardijn, dem kleinen Vikar, der die J. O. C. gründete und der in seiner abgeschabten Kutte bis zum Papst ging — und der Papst sagte: „Sie sind mein Mann! Bisher redete man mir immer nur von Elite. Sie sind der erste, der vom Heimholen der Arbeiter m a s s e spricht. Gewiß braucht der Arbeiter notwendig die Kirche; aber ebenso notwendig braucht die Kirche den Arbeiter.“

Das bloße Wissen um ein paar Satzungen und theoretische Arbeitsmethoden gewinnt an diesem Buch in uns padeendes Leben. Und doch ist das noch nicht der tiefste Grund, der wohl vor allem uns Junge so begierig danach greifen läßt. Denn wir spüren — nein, wissen es — daß auch in Österreich die Kirche in Gefahr ist, den Arbeiter — diesmal endgültig — zu verlieren, und daß vielleicht Sein oder Nichtsein Österreichs überhaupt davon abhängt, ob diese Entwicklung weiter mit wachsender Schnelligkeit ihrem Ende zuläuft oder ob es gelingt, ihr eine Bewegung entgegenzuwerfen, die sie noch einmal nach der anderen Richtung mitreißt und damit für Österreich eine Entwicklung möglich macht und anbahnt, die wir heute im einzelnen noch nicht einmail ahnen können. Denn wie ist es denn in allen unseren katholischen Jugendgruppen, sie mögen heißen wie immer? Noch immer wird die Arbeit in ihnen fast ausschließlich von Studenten und Schülern, dazu einigen Handwerkern und Angestellten getragen . . . Wo aber sind die wirklichen Arbeiter, die Arbeiter aus den Fabriken, von den Bauplätzen —? Und es kann doch kein Zweifel sein: nie wird ein Vorstoß unter der Arbeiterjugend irgendeinen Erfolg in die Breite erzielen, trotz aller Enzykliken, solange die einsatzbereiten Führer aus den Reihen der jungen Arbeiter selbst für diesen Vorstoß fehlen. Aber. . . „Wenn einmal diese Menschen gewonnen sind“, schreibt van der Meersch, „dann werdet ihr die Masse auch gewinnen . .. denn sie verstehen das kleine Volk, weil sie am eigenen Leib das gleiche Leid erfahren haben. Und deshalb tragen sie genügend Empörung und Gerechtigkeitshunger in sich, um gegen die Schandflecken unserer Zivilisation energisch loszuziehen ...Diese Minderheit, diese Elite führt die große Masse.“

Wir meinen nicht, daß sich französische Methoden einfach auf Österreich übertragen lassen. Aber wir wissen auch, daß die „Katholische Jugend“, die die Bischöfe vor einigen Wochen nun eirtheitlich für ganz Österreich geschaffen haben (und wir sind ihnen sehr, sehr dankbar dafür), erst eine Grundlage ist, der Boden, auf dem aufgebaut werden muß (nicht mehr und nicht weniger)

— in Werk, das wohl von vielen wägbaren und unwägbaren Dingen noch abhängt. Und wann immer wir heute auf diese Fragen kommen, dann steht — geheim oder laut ausgesprochen — die bange Frage zwischen uns: Wo wird in dieser Katholischen Jugend der junge Arbeiter unseres Landes stehen? Wird er wieder außerhalb und getrennt von uns bleiben oder wird durch ihn die Jugendbewegung zu einer der großen Kräfte wachsen, die die Geschicke unseres Landes bestimmen?

Seit über einem Jahr haben sich nun viele hauptsächlich, aber beileibe nicht durchweg junge — Priester wie Laien um diese Fragen gemüht, haben gebangt und gehofft und den Boden zu bereiten gesucht für die geschlossene Arbeit der Kirche, die in diesem Bereich auch in Österreich vielleicht doch einmal in großem Stil einsetzen wird. Wir sehen freilich heute Schwierigkeiten, die wir früher nicht ahnen konnten, und manchmal möchte man alle Hoffnung aufgeben. Aber hier kommt uns die wertvollste Erkenntnis zu Hilfe, die wir aus diesem Buch aus Frankreich gewinnen: es geht nicht nur uns in Österreich so; aille die Schwierigkeiten, mit denen wir zu ringen haben, mußten auch die Jocisten überwinden, als sie anfingen, Frankreich zu erobern... Da sind die Widerstände unter den Priestern, deren Arbeit abgestimmt ist auf die Bedürfnisse ihres bürgerlichen Kreises und von denen viele die Jungen — die Arbeiter — im letzten nicht verstehen, vielleicht trotz ehrlichen Bemühens; da sind die angesehenen „katholischen“ Leute aus eben diesem gutbürgerlichen Kreis, die am Sonntag vorn in der Kirche sitzen und die Säulen der Pfarre sind, die aber kein Aufsehen machen wollen und sich ihrer radikalen Mitbrüder schämen, wenn diese mit Mitteln arbeiten, die vielleicht nicht ganz wörtlich im Evangelium vorgesehen sind; da sind die Vorwürfe gegen die Jungen, weil sie die Konvention brechen, die längst zu hohler Fassade geworden ist, oder weil sie überkommene Formen über Bord werfen, weil sie ihnen nichts mehr zu sagen haben. Und noch viel persönlicher: da sind die Stunden der Schwäche, die auch die Tapfersten überfallen, weil immer wieder allles umsonst zu sein scheint, die Mutlosigkeit, die Müdigkeit, die keinem erspart bleiben. Da sind aber auch die Männer — Priester mit der vielfältigen Bürde ihrer täglichen Arbeit, Bürger, Unternehmer — die ohne viel zu reden und ohne große Geste sich hinter die Jungen stellen, die sich bemühen, sie zu verstehen, mit ihnen mitzugehen, die ihnen helfen, auch wo sie sie vielleicht nicht mehr ganz begreifen (und der „Menschenfischer“ könnte uns etwa lehren, diese Männer auch bei uns wieder zu sehen); und da sind schließlich unter den Jungen selbst die wenigen, Unbeachteten, die trotz aller Widerstände und aller Enttäuschungen immer wieder weiterarbeiten, stur, verbissen an diese wenigen wendet sich van der Meersch, wenn er gegen Schluß des Buches sagt (und es sind das ein paar Sätze, die einen furchtbar ernst werden lassen, wenn man darüber nachdenkt): „Du bist es, der die Wahrheit weiterträgt. Du vertraust auf deine Religion. Du hältst sie noch für fähig, die Massen zu erobern ... Zu viele Katholiken von heute, die über dich herfallen wegen deiner Jocistentätigkeit, glauben nicht mehr an die Lebenskraft des Katholizismus. Sie sind vertrocknet und zweifeln an allem. Sie nennen sjch .Elite', behandeln die Masse geringschätzig, schließen sich in ihren Kirchen ein und verkrampfen sich in ihrem Egoismus. Sie denken:

,Den Menschen nachlaufen? Nicht der Mühe wert! Was verloren ist, ist verloren.'

Aber wir müssen zu den Menschen gehen. Wenn Dhoutulst mir beim ,Prix-Fix' nicht einen kleinen Prospekt zugesteckt, wenn nicht ein Kamerad zwei Jahre lang Einladungen unter die Türe Siebeis geschoben hätte, wären Siebet und ich niemals wieder Christen geworden. Wir stünden wahrscheinlich bei den Kommunisten, um uns für irgend etwas einzusetzen, gleichgültig für was.“

Und wir in Österreich? Wir, die wir in den Jahren des Krieges zusammengewesen sind mit den Studenten wie mit den jungen Arbeitern unseres Landes, wir gtlauben an sie und an die Kraft, die in ihnen darauf wartet, auf ein Ziel gerichtet zu werden. Es muß und wird wieder zu einer radikalen Gestaltung unseres Lebens aus dem Christentum auch in Österreich kommen — daran glauben wir, nachdem wir dieses Buch gelesen haben, wieder mehr denn je, auch wenn wir um alles wissen und es täglich neu erfahren, was dem im Wege steht. Wo wir diese Schwierigkeiten erkennen, werden wir auch gogen s;e angehen, immer und immer wieder; werden immer und immer wieder auch in unseren eigenen Reihen sagen, was zu sagen ist, und angreifen, was wir nach unserem Gewissen angreifen müssen, auch dort, wo es sich dabei um traditionelle, mehr oder minder altehrwürdige Gewohnheiten handeln sollte; Mißstände, werden dadurch nicht gebessert, daß man sie verschweigt, und wer in dieser Zeit die Wahrheit ins Gesicht nicht verträgt, der ist unserer Meinung nach ohnehin nicht der Mann, den wir heute an unserer Spitze brauchen.

Revolutionäre? Man mag uns so nennen. Aber allen, die uns damit einen Vorwurf zu machen meinen, wollen wir hier eki Wort Clemenceaus in Erinnerung rufen, des Ungläubigen — ein Wort, von dessen Wahrheit uns die Entwicklung in Frankreich in . dem inzwischen verstrichenen Vierteljahrhundert, wie wir sie aus dem „Menschenfischer“ kennenlernten, eine Ahnung geben mag. „Wenn die Christen nur einmail anfingen“, sagte Clemenceau, „ernst zu machen mit ihrem Glauben, dann wäre das eine Revolution, wie die Weltgeschichte noch keine gesehen hat; es würde sich hernach nicht mehr lohnen, noch irgendeine Revolution zu machen.“

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