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Dieser chinesische Priester…

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In dem starken Echo, das der Leitaufsatz „Geburt der Wahrheit — Krippe in China“ der Weihnachtsnummer der „Furche gefunden hat, fällt der untenstehende Brief eines Lesers durch seinen unerschrockenen Mut zu harten Wahrheiten und seine rücksichtslos-offenherzige Sprache auf. Wir bringen ihn im folgenden mit nur unwesentlichen Kürzungen im Wortlaut.

„Die Österreichische Furche“

Ich schmeichle mir nicht, daß Sie diesen meinen Brief in irgendeiner Form in der „Furche“ bringen könnten, und ich will auch gar nicht, daß auch nur die geringste Spur von schriftstellerischer Eitelkeit mit ihm verbunden sei — dazu ist die Sache, um die es geht, viel zu ernst. Selbstverständlich scheue ich mich nicht, mich zur Autorschaft dieses Briefes gegebenenfalls auch öffentlich zu bekennen.

Es handelt sich, um den Eingangsaufsatz in der Weihnachtsnummer der „Furche“ — um den Bericht über den chinesischen Priester T ong. Mich hat in meinen letzten Jahren — ich kann wohl sagen letzten zwanzig Jahren — wenig so aufgewühlt, wie das Ringen dieses Priesters um Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit in seinem Denken und in seinem Entschließen. Es läßt mich nicht mehr los. Ja, ich stelle mir vor, daß dieser Bericht wie die Posaune eines

Gerichts unsere Herzen zum Zittern bringen müßte — daß darum auch die Schulen, gerade sie, nicht achtlos an ihm vorübergehen dürften, vor allem die Volkshochschulen sich eindringlich mit ihm auseinandersetzen müßten. Wenn ich besonders letztere erwähne, so werden Sie es mir verzeihen — jedoch ich habe ihnen nach dem Krieg das meiste von der Kraft gewidmet, die ich noch besitze. Allerdings, ich fürchte nicht nur, ich weiß es, daß meine Vorstellung eine Illusion ist — unsere Herzen werden taub bleiben, unsere Volkshochschulen weiterhin lahmen.

Dieser chinesische Priester sucht seinen Weg der Wahrhaftigkeit in ganz klarer Bewußtheit zu gehen — keine Phrase, keine gefühlsmäßige Berauschung, kein sich Hineinsteigern in große laute Worte und Gebärden, nicht einmal eine Anwandlung von Sentimentalität — immer Ringen und Beten um klares Erkennen und um geläuterte Liebe.

Dieser Priester gewinnt aber Kraft auf diesem seinem schweren Weg — heraus aus „Lüge, Schwäche, Angst, Terror“, wie Ihr Aufsatz es nennt, und hin zur Wahrhaftigkeit und zur Wahrscheinlichkeit des Martyriums — aus einem für unsere Herzen schier unfaßbaren Umstand: aus der Anerkennung, ja „Bewunderung“ der Qualitäten derjenigen, deren Meinung er nicht teilen kann, deren Zumutung er ablehnen muß, also der Qualitäten seiner Gegner, der Kommunisten. Er schmäht sie nicht, er setzt sie nicht herab — er ist fest überzeugt, daß sie sich in ihrem Unglauben „täuschen“, dennoch rühmt er ihre Qualitäten im Leben. Als ich diese Teile seiner Rede gelesen und mich mit ihnen auseinandergesetzt habe, da habe ich für Ihre Zeitung, die „Furche“, jähen Dank empfunden, denn ich befürchte nur zu sehr: die meisten unserer Zeitungen hätten sie nämlich unterschlagen.

Damit bin ich bei sehr Wichtigem — weswegen ich Sie überhaupt mit diesem Brief bemühe.

Mir kommt vor, daß alle unsere Anstrengungen und Kämpfe, die allgemeinen europäischen und die besonderen österreichischen, wider den Kommunismus, doch nicht bloß wider ihn allein, und um unsere eigene Stärke und Einheit von vornherein zu so belastender Hoffnungsarmut, um nicht zu sagen Hoffnungslosigkeit, verurteilt sind, weil wir so selten, wenn überhaupt, imstande sind, den Menschen, deren Überzeugungen wir nicht teilen können und auch bekämpfen müssen, als Menschen Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Wir setzen sie herab, wir schmähen sie, wir leugnen sogar ihr Menschtum überhaupt. Wir bemühen uns nicht um sachliche und menschliche Beurteilung des Gegners, ja auch des nur Andersdenkenden, sondern wir diffamieren. Das trifft nicht bloß auf die ermüdenden Wiederholungen wie Bourgeois und Prolet, Roter und Schwarzer usw. zu, sondern noch verhängnisvoller auf modernere Diffamierungen.

Solche Diffamierungen sind Sendboten der „Vermassung“. Sie helfen nicht Wahrheit gebären, sie verschütten sie.

Es möge jetzt ganz beiseitebleiben, inwieweit in dieser Unlust, gegenüber dem Gegner oder dem Andersdenkenden Gerechtigkeit walten zu lassen, das eigene schlechte Gewissen sich ausdrückt, selber im geheimen von der Krankheit befallen zu sein, die man den anderen an den Kopf wirft. Das mag, wie gesagt, auf sich beruhen bleiben — mir freilich scheint es, daß es so manches Mal so ist; und daß es auch damit zusammenhängt, daß selbst bitterste Emigration noch immer wohlfeiler ist als Martyrium. Auf jeden Fall aber scheint mir der „Glaube“ eines Menschen auf sehr unverläßlichen Beinen zu stehen, der, um sich stärker zu machen, erst den Gegner oder den Andersdenkenden niedriger machen muß. Wie klein muß solchen Gläubigen die eigene Sache vorkommen — vorausgesetzt, sie glauben überhaupt an etwas! Da brauchen wir uns wohl nicht zu wundern, daß es mit der Einigung Europas nicht weitergeht. Und auch darüber nicht, daß so viele gegenwärtige Verteidigung von Demokratie stumpf ist.

Es mag das mit anderem Zusammenhängen — nämlich damit, daß für uns, für uns europäische Menschen, geistige Auseinandersetzungen sehr rasch zum Machtkampf zu entarten scheinen. Verstörende Beispiele dafür hat die Geschichte genug. Nur ein markantes jüngeres: Marx konnte sich die „Vermenschlichung“ der „entmenschlichten“ Proletarier nicht anders vorstellen, als daß diese die alleinige „Macht“ in die Hände bekämen — seine geschichtlichen Widersacher hatten auch nichts anderes als Machtgedanken in sich. Fast jeder Artikel über Straßburg heute verläuft sich schnell in maditkämpferische Erwägungen, selbst dort, wo er „Ideologien“ abhandelt. Tagore nennt in seiner Rede über den westlichen Nationalismus denn auch die westliche Kultur „eine Kultur der Macht“. Darum konnten und können wir wohl, innerhalb wie außerhalb Europas, niemals „befreien“, ohne zu „unterdrücken“. Darum arten unsere „Koalitionen“ so rasch in ein gegenseitiges Ablisten von Macht aus, wird der „West - Ost“ - Konflikt, die „Aufrüstung“, die „soziale Befriedung“, kurz alles, alles im Handumdrehen zum oft schamlosen Kampf um oft nackte Macht. (Ich wende mich damit nicht etwa gegen militärische Stärke in abgewogenem Ausmaß, ich möchte nur unsern steigenden Verlust an innerer Wahrhaftigkeit feststellen.) Diese geschichtlichen und soziologischen Fragen wären selbstverständlich eingehend zu untersuchen — darin liegt noch eine große, allerdings auch fruchtbare Aufgabe.

Ob diese Untersuchungen angegangen werden oder nicht — was uns heute aufs äußerste not tut, das ist (und damit komme ich ans Ende dieses für Sie möglicherweise sonderbaren Briefes) der Hebammendienst an der Nahrhaftigkeit, der endlich von denen angegangen werden müßte, die sich zur geistigen Führung berufen fühlen! Es nützt nichts, wenn Sie vom chinesischen Priester Tong berichten, wenn eine Münchner Zeitschrift in diesen Tagen mitteilt, daß der amerikanische Msgr. F. J. Sheen sagte: „Man muß die Kommunisten um so mehr lieben, je radikaler man den Kommunis- muß bekämpft“, wenn der „Temoignage Chrėtien“ das Gebet empfiehlt, es möge Gott uns begreifen lehren, daß auch die Regierung derjenigen, die gegen unsere Stimmen gewählt werden, an Gottes Licht teilhat — aber dies alles nur literarisches Sensatiönchen bleibt, eines mehr oder weniger kleinen Kreises, ja manchmal gar Klüngels, bleibt, in einigen Tagen über neuen Sensatiönchen vergessen wird und nicht die Herzen und Geister der vielen bewegt, diese nicht durch unser beispielhaftes Vorleben belehrt und stärkt und auch immer wieder aufrüttelt. Ich meine dabei die Herzen und die Köpfe von sehr, sehr vielen der sogenannten „kleinen“ Leute — auch so eine Art von Diffamierung — und meine auch, daß diese Herzen nur darauf warten, endlich finden zu dürfen — finden zu dürfen bei denen, die sie führen oder zu führen vorgeben.

Darum wende ich mich an Sie. Sie fragen zum Schluß Ihres Aufsatzes: Wer von uns die Sprache des Priesters Tong wagen darf? Mein Herz zittert, wenn es sich sagt, daß mit dieser Frage nun alles abgetan sein soll. Dürfen wir überhaupt, wenn wir Tongs Sprache wirklich vernommen haben, jene Frage stellen? Müssen wir nicht vielmehr sofort darangehen, selber seine Sprache zu wagen?! Hat denn nicht auch für uns der Priester Tong gelebt und — mög’s nicht so sein! — gelitten? Verraten wir ihn nicht, wenn wir, obschon wir von ihm wissen, noch warten? Ehe der Hahn zum dritten- mal kräht… Worauf wollen wir eigentlich warten? Dürfen wir über „Vermassung“ klagen, wenn wir selber überall der Vermassung Vorschub leisten? — Spricht nicht Pascals Wort vom Gekreuzigten, der durch uns am Kreuz nicht sterben kann, sondern zu endloser Agonie verurteilt ist, immer vernehmlicher in unserer Zeit?

Geben Sie doch Raum in Ihrer Zeitung, um diese „große furchtbare, uns alle wörtlich, handgreiflich und seelisch ,angehende' Realität in umfassendem Sinne bis zum letzten ernst zu nehme n“!

Zum Schluß möchte ich Ihnen nochmals danken, daß mir Ihr Aufsatz Anlaß zu diesem Brief gegeben hat. Andererseits werden Sie begreifen, daß in einem Brief manches nur angedeutet, manches überhaupt nicht erwähnt werden kann, was in einer eindringlicheren Erörterung ausführlich erwogen werden müßte.

Erlauben Sie mir den Ausdruck meiner besonderen Wertschätzung!

Ihr ergebener

Schwaz (Tirol), Freundsberg 48

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