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Gleichgültigkeit ist nicht Toleranz

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Der Unterschied zwischen Toleranz und Indifferenz oder, um gute deutsche Worte zu gebrauchen, zwischen Duldsamkeit und Gleichgültigkeit ist schon immer ein (zwar selten wahrgenommenes) Hauptproblem der Menschen und der Menschlichkeit gewesen und bis auf den heutigen Tag geblieben. Dieser Unterschied ist vielen nicht klar, was oft zu großen Verwirrungen geführt hat.

Im Altliberalismus hat mangelnde Erkenntnis des Wesens der Toleranz sogar schweres Unheil angerichtet - wir meinen hier nicht den Frühliberalismus von de Tocqueville bis Acton, .der eine deutlich christliche Grundlage hatte, und auch nicht den Neuliberalismus Röpkes und Müller-Ar- macks, der ebenfalls im Christlichen verwurzelt war, sondern den „antiklerikalen“ Altliberalismus, der auch in päpstlichen. Ansprachen und Enzykliken verurteilt worden ist.

Nun aber sollte man wissen, daß Toleranz vom lateinischen „tolerare“ also „erdulden“, herkommt. Die Wurzel „toi“ dieses Wortes bezieht sich auf das Tragen: wer wahrhaft tolerant ist, duldet, erduldet, erträgt (oft schmerzlich) das Denken, Reden und Handeln anderer - eine zweifellos tugendhafte, verdienstvolle Haltung. Doch ergibt sich die Frage, wen oder was man erduldet. Einen Menschen oder sein Denken, Reden und Handeln?

Tolerant ist man freilich nur, wenn man das Denken, Reden und Handeln eines Menschen, das einem irrig, falsch oder auch schlecht erscheint, deshalb duldet, weil es einem anderen Glauben, einer anderen politischen Überzeugung, einer anderen Ästhetik entspringt; man duldet es, obwohl man es als unrichtig, wenn nicht gar schädlich verurteilt oder sogar haßt.

Einen Menschen darf man unter keinen Umständen hassen, aber mit Ideen ist das etwas anderes. (Ich bin überzeugt, daß man sogar den Teufel nicht hassen darf, denn er ist „persona“, und dieser „Affe Gottes“ ist eben im Grunde doch nur ein „armer Teufel“.) Eine falsche, böse Idee darf man hassen, besonders wenn sie verderbend oder verführerisch ist, nicht aber ihren Träger.

Ich kann also nur dann einer Idee gegenüber tolerant sein, wenn ich von ihrer Unrichtigkeit felsenfest überzeugt bin, was wiederum voraussetzt, daß ich einen festen Standpunkt habe, mag dieser religiös, philosophisch, politisch oder wissenschaftlich sein, von dem aus ich eine Idee messen und positiv oder negativ beurteilen kann. (Es gibt natürlich Ideen, die Konglomerate von Falschem und Richtigem sind, diese muß ich „abwägen“.)

Um aber einen echten Standpunkt zu haben - in welcher Domäne auch immer - muß ich daran festhalten, daß es eine Wahrheit gibt, daß ich diese Wahrheit kenne und auch vertrete. Wenn ich annehme, daß es keine Wahrheit gibt oder daß sie menschlich nicht erreichbar ist, dann habe ich kein Recht, die Ansicht eines anderen zu verurteilen, denn ich habe ja dann keine Maßstäbe und jede Überzeugung ist so gut (oder so schlecht) wie jede andere. Ich bin also zur Neutralität aufgefordert - auch dem Bösen gegenüber. Wer also keinen Standpunkt hat und nur der Überzeugung lebt, daß ein Ideenbereich (eine Weltanschauung, eine Ideologie) ebenso richtig wie falsch sein kann, beziehungsweise, daß „richtig“ und „falsch“ Begriffe ohne Daseinsberechtigung sind, der ist eben nicht tolerant, sondern indifferent; nicht duldsam, sondern geistig-moralisch gleichgültig. Freilich läuft er auch nicht Gefahr, „intolerant“ zu sein und Andersdenkende zu verfolgen, zu verhöhnen oder anzuklagen.

Das klingt alles sehr gut und schön, aber derselbe Mensch dürfte Andersdenkenden keinen Widerstand leisten. Er mag versucht sein, Ideen, von deren Richtigkeit er ja nicht wirklich überzeugt ist, zu verteidigen, muß sich aber vor Augen halten, daß die anderen genau so viel Recht haben wie er, ihren Standpunkt vorzutragen und ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Es wäre ja sinnlos, wenn er seine eigene Ansicht (die ja eben keine Überzeugung, sondern nur eine unverbindliche Meinung ist) mit dem Schwert auf Tod und Leben verteidigen würde. Er gehört zweifellos zu denen, die „lieber rot als tot“ sind.

Nun war es der große Irrtum der Altliberalen a priori jedermann zu verdächtigen, der eine fest verwurzelte, echte Überzeugung hatte, der in den Kategorien „richtig“ und „falsch“, „Sünde“ und „Tugend“, „gut“ und „schlecht“, „erhaben“ und „niedrig“ dachte und handelte. Der Altliberale hielt die Intoleranz (die es natürlich auch bei „Gläubigen“ gibt) für eine Folge der Dogmatik, dem Festhalten in absoluten Werten. Und darum verfolgte er- in unglaublich verkehrter Weise - als überzeugter Liberaler die Vertreter anderer Lehrgebäude nicht nur mit Hohn und Spott, sondern auch, wenn sie. an der Macht waren, mit sehr realen Mitteln.

Bismarck, der ursprünglich nur Preuße und Patriot war, brach mit den preußischen Konservativen und wurde der Vertreter des Nationalliberalismus und erntete als solcher den Beifall von Marx und Engels. In seinem „Kulturkampf“ gegen die große katholische Minderheit griff er zu völlig illiberalen, also intoleranten Mitteln - Verbote, Exilierungen, Gefängnisstrafen.

Wir führen ihn nur als Beispiel dafür an, wie der relativistische Liberalismus sich selbst in den Schwanz beißen kann. Und auch Friedrich Heer, gewiß ein unverdächtiger Zeuge, bestätigt uns, daß es in den hochliberalen Zeiten eine heilige, liberale Inquisition gab, die allerdings nicht mit Folter und Scheiterhaufen operierte, wohl aber so manches Schicksal auf dem Gewissen hatte.

Das Kernstück der christlichen Toleranz ist die Liebe zu den Menschen, die Überzeugungsträger sind, nicht aber zu den Überzeugungen, die als falsch oder gefährlich oder beides angesehen werden. In seinem Brief an Petelianus sagt der heilige Augustinus: „Liebt die Menschen, tötet die Irrtümer, rühmt euch des Besitzes der Wahrheit ohne Überhebung,kämpft für die Wahrheit ohne Grausamkeit, betet für die, die ihr widerlegt und des Irrtums überführt.“

Zweifellos gibt sich im Kampf gegen den Irrtum, bei gleichzeitiger Liebe und Achtung für den im Irrtum Befangenen, nicht selten ein Dilemma. Der „irrig Überzeugte“ hat nicht ein absolutes Recht jederzeit und überall alles zu sagen. Niemand darf mutwillig in einem überfüllten Theater „Feuer!“ schreien. Es gibt Dinge, die man der zarten Seele eines Kindes nicht unter allen Umständen zumuten darf.

Es ist aber auch nicht immer selbstverständlich, daß man am Irrglauben eines Irrgläubigen rütteln darf, wenn nämlich Gefahr besteht, daß man eine - wenn auch noch so unvollkommene - Wahrheit zerstört, ohne sie durch die volle Wahrheit ersetzen zu können. Ungeschickte Proselytenmacherei hat oft mehr Schaden als Nutzen gebracht.

Anders steht es mit dem Unglauben, der ein unbeschriebenes Blatt darstellt, auf das man nicht nur schreiben darf, sondern soll. Einem „hochgebildeten“ Spießer gegenüber, der nur an die UNICEF, das Rote Kreuz, den Tierschutzverein, den „Fortschritt“ und die Befreiung des Menschen durch Sexualakrobatik glaubt, brauche ich, als Christ, mich nicht zurückzuhalten.

Ich glaube auch nicht, daß eine schändliche „Literatur“ - die z. B. den Drogengenuß lobt - keiner Zensur unterliegen sollte. Es gibt da Grenzfälle, die man nach eingehender, kluger und einsichtiger Erwägung nicht „tolerieren“ darf. Den Einwand, daß „repressive Maßnahmen“ die Menschen an ihrer Selbstverwirklichung hindern, muß man nicht honorieren: Das christliche Programm ist nicht Selbstverwirklichung, sondern die Bereitschaft, den alten Adam abzulegen.

Die Selbstverwirklichung des gefallenen Menschen ist nur eine Vergrößerung und Vergröberung seiner gefallenen Natur. Der Christ muß Metanoia üben, das heißt umdenken und Buße tun, also „ein anderer“ werden. (Engel können sich selbst verwirklichen, aber wir sind eben keine Engel.)

Toleranz ist also nur dann möglich, wenn wir feste Überzeugungen haben und dem Andersdenkenden liebend gegenüberstehen - wir sagen: möglich, keineswegs sicher. Toleranz kann nur der im Absoluten Verankerte üben. Er kann aber natürlich auch intolerant sein und den Irrtum vom Irrenden nicht unterscheiden. Ein echter Christ kann tolerant sein, unter Umständen auch ein Nationalsozialist, ein Kommynist, ein Anarchist, ein Moslem oder ein orthodoxer Jude. Ein Relativist kann es nicht, und zwar unter gar keinen Umständen, denn ihm ist alles gleich-gil- tig. Seine Ideologie ist die des polite doubt,des höflichen Zweifels, der Skepsis, der A-Gnosis, die ihn zum Agnostiker macht.

Für den Agnostiker ist jedoch nichts mehr schwarz oder weiß, sondern alles nur grau. Er ist zu jedem Kompromiß bereit, denn es geht ihm ja nur um relative Dinge, da das Absolute für ihn nicht existiert. „Ich glaube, daß ich auf meine Art und Weise recht habe, und obwohl du mir widersprichst, hast du auf deine Art und Weise auch recht: Also lassen wir es zu einem Ausgleich kommen, und treffen wir uns auf halbem Weg!“

Das ist das „fiftyififty“ der Angelsachsen.

Zweifellos hat diese Haltung ihren Charme: man eckt nicht an, man lebt reibungsloser und diese Art des Sehens, Denkens und Redens wirkt irgendwie gelöst, freundlich und souverän, während der Überzeugte einen fanatischen Zug haben kann (aber nicht muß).

In einer geschlossenen Gesellschaft, die diese Haltung zu ihrem Prinzip erhoben hat, geht es sehr friedlich zu. Nur ist so eine Gesellschaft auf diesem Erdenrund zum Tode verurteilt. Sie mag zwar gegen „Fanatiker“ geifern, sich über sie lustig machen und sich obendrein noch für besser, für „aufgeklärter“ halten, zieht aber auf lange Sicht gegen die Überzeugten den Kürzeren.

Wenn, zum Beispiel, der fortschrittliche, „liberale“ Relativist meint, man solle keinen einzigen Juden umbringen, der Rassist aber darauf besteht, daß sechs Millionen vergast werden müßten, könnten sie sich auf einen Kompromiß von drei Millionen einigen. Phantastisch? Keine Spur. Solche Vorschläge wurden in Teheran im Kreise der Weltführer gemacht, und es muß zur Ehre des nicht sehr charakterfesten Churchill gesagt werden, daß er dagegen laut protestierte. Zu dieser Zeit waren schließlich schon 8000 polnische Offiziere in Katyn ermordet worden!

Oder denken wir daran, daß der agnostische Relativist behauptet, Gott sei tot, der Gläubige dem aber heftig widerspricht. Könnte man sich vielleicht darauf einigen, daß Gott halbtot sei? Die stille Liebe zum Kompromiß hat übrigens dazu geführt, daß man strittige Probleme nach Herzenslust durch kompro- mißhafte Teilungen aus der Welt zu schaffen dachte: die alte Donaumonarchie, Irland, Indien, Zypern, Vietnam, Korea, Berlin und Deutschland sind erschütternde Beispiele. Mit dem Kompromiß fangen die Übel erst richtie an.

Aus dem Vorhergehenden ersieht man, daß die relativistische Agnostik in kleinem Kreise ganz nett sein kann, auf höherer Ebene aber zu Katastrophen führt. Zum Schluß glaubt nämlich der im weiteren Sinn des Wortes Agnostische überhaupt nicht mehr an die Möglichkeit, daß irgend ein anderer ehrlich an absolute Werte glauben könne. Wer immer das behauptet, den betrachtet er gar nicht mehr als Fanatiker, sondern als Heuchler.

Kürzlich sprach ein solcher Astheniker mit mir über die Politik des Vatikans, und ich konnte ihn lange nicht verstehen, bis ich endlich drauf kam, daß er überzeugt war, die „doch hochgebildeten Päpste und Kardinale“ könnten in Wirklichkeit doch ’ unmöglich an die Dogmen der Kirche glauben. So nahm man in England (und Amerika) Jahre hindurch die Aussagen und Drohungen der totalitären Volksverführer nicht ernst und hielt ihre Reden für Theaterdonner, den nur Einfältige für bare Münze nehmen konnten.

Gegen die Tyrannen unserer Zeit haben sich deshalb die Agnostiker und Relativisten nicht bewährt. Wer mir nicht glaubt, möge Hochheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ lesen. Da wird frei zugegeben, daß es eigentlich keine Alternative zu religiöser Moral gibt - nur willkürliche Festsetzungen. Und dasselbe sagte Golo Mann in einem Interview anläßlich seines 70. Geburtstages.

Wer leistete denn in Europa Widerstand gegen die Französische Revolution? Gegen die Nationalsozialisten und Interhätionalsozialisten? Doch nur immer wieder die voll Überzeugten.

In Frankreich waren es nach 1789 die superkatholischen Bauern und Adeligen der Bretagne und der Ven- dėe, in Rußland die Monarchisten und Anarchisten. In der Französischen Revolution wurden die guten Liberalen, von Condorcet bis Malesherbes, von den Radikalen widerstandslos aufgefressen, die deut- 1 sehen gemäßigt Linken kuschten oder schrieben Protestwälzer im Exil.

Welche von den Leuten der „Mitte“ (außer solchen, die aus rassischen Gründen verfolgt wurden) können als Märtyrer ihrer Sache angesehen werden? Wenn man die deutschen Wahlen in den Jahren 1932-33 genau studiert, wird man sehen, daß die Parteien der Mitte samt und sonders zu den Nationalsozialisten überliefen, die echten Weltanschauungsparteien aber ihren Bestand bis zum bitteren Ende aufrechterhalten konnten.

Im Mai 1928 gab es 12 NS-Abge- ordnete im Reichstag, 363 Ideologiegebundene und 116 Demoliberale; im März 1933 waren es 288 NS-Vertreter, 346 Ideologiegebundene und 13 Demoliberale. Man wird in diesem Zusammenhang an die Worte von Anatole France erinnert: „Nur das Extreme ist wirklich erträglich.“

Toleranz und Indifferenz mögen also machmal äußerliche Parallelen aufweisen, stellen aber zwei grundverschiedene Phänomene dar. Ihre Wurzeln sind gegensätzlich. Toleranz ist ein Opfer aus Glauben und Überzeugung, Indifferenz aber ist nur als Intellektualität maskierte Seelenschwäche. In ihr haust der Tod.

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