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Antisemitismus heute?

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Wir vier Sprecher und der Vorsitzende saßen oben auf dem Podium. Der Saal war bereits gesteckt voll, und noch immer versuchten Leute hineinzugelangen. Junge und alte Gesichter, offene und verschlossene, blickten erwartungsvoll zu uns herauf. In der zweiten Reihe ein jüngerer Mann, kein schlechtes Gesicht, das dennoch haßerfüllt auf meine jüdische Physiognomie gerichtet war. Da war er wieder, der böse alte Haß, so wohlvertraut von Kindheit her! Gegen den dort unten hatte ich bereits verloren, was immer ich an diesem Abend sagen würde. Da war auch schon das alte Gefühl von Vergeblichkeit

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Wir vier Sprecher und der Vorsitzende saßen oben auf dem Podium. Der Saal war bereits gesteckt voll, und noch immer versuchten Leute hineinzugelangen. Junge und alte Gesichter, offene und verschlossene, blickten erwartungsvoll zu uns herauf. In der zweiten Reihe ein jüngerer Mann, kein schlechtes Gesicht, das dennoch haßerfüllt auf meine jüdische Physiognomie gerichtet war. Da war er wieder, der böse alte Haß, so wohlvertraut von Kindheit her! Gegen den dort unten hatte ich bereits verloren, was immer ich an diesem Abend sagen würde. Da war auch schon das alte Gefühl von Vergeblichkeit

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Eine Stange Bärenzucker würden sie gerade noch mit mir teilen, bei der Schularbeit würden sie aus meinem Heft abschreiben, doch jene letzte Zuneigung würde ich nie von ihnen erhalten, die Kinder leichter als Erwachsene vergeben. Ich war ihnen kaum böse darüber. Ihre Judenfeindlichkeit wurde immer noch von einiger Bubenkameraderie durchbrochen. Zudem war sie für mich nur ein Teilchen einer universelleren, und sich mir immer weiter enthüllenden Feindschaft, je älter ich wurde. Für mich symbolisierte sie sich bereits in einem Wald von Kruzifixen, die sich aüerortens als Symbol jüdischer Verurteiltheit entgegenreckten: von der Stirnwand des Schulzimmers, von den vielen Kirchtürmen in unserem so katholischen Land, ja noch aus den Bildern alter Meister mit Darstellungen Christi im Museum. Ihm und Seinen Aposteln wurde vergessen, daß sie Juden waren, nur jenem nicht, der so günstig passend Judas hieß.

Nicht, daß nur Feindlichkeit ringsum gewesen wäre. Da war Ernestine Biedermann, meine Lehrerin in der Volksschule, Wien V, Grüngasse; klein und rundlich, warme, graue Augen. Sie lud uns unterschiedlos immer wieder in kleinen Gruppen zu sich nach Hause zu Kakao und Mohnkuchen ein. Wir durften aus ihrer bosnischen Wasserpfeife rauchen, ein aus Pappendeckel gefertigtes kubistisches Harlekinskostüm anprobieren, und mit ihren sonstigen Schätzen, etwa einem Marionettentheater, hantieren. Sie war keine besondere Freundin von Juden — höchstens nur von Menschen, zu denen sie allerdings auch die Juden zählte, doch nicht, weil es „auch“ nette Juden gab. Und sie gehörte gewiß nicht zu jenen Leuten, die sich peinlich darum bemühten, „es“ sich nicht anmerken zu lassen. Vergeblichste aller Bemühungen gegenüber in zwei Jahrtausenden erlernter Fähigkeit, nicht nur einen der Unsrigen in einer Menschenmasse, sondern auch die eher häufigeren Hamans zu erkennen! Es war dafür gesorgt, daß man nicht durch die Ernestine Biedermanns zu falschen Schlüssen gelangte. So in der Mittelschule durch jene Professoren, welche die gute Leistung eines jüdischen Schülers mit leicht verdüstertem Gesicht oder mit Ironie zur Kenntnis nahmen.

Von den Kameraden und später von anderen Leuten entgegengebrachtes Übelwollen konnte irgendwie verdaut werden, nicht aber wenn's von einem Lehrer kam. Denn das war nicht der „Giz“, den er auch sonst gegen irgendeinen Unglücklichen aus mehr oder weniger berechtigtem Grunde haben mochte. Dieser Giz war ganz und gar fatal, galt er einem doch nicht als Individuum, sondern als Kategorie, und war daher unabänderlich. Nicht als ob ich damals — und noch viel mehr im späteren Leben bis heute — nicht die groteskesten Versuche miterlebt hätte, etwas an dieser Unabänderlichkeit zu ändern. Was immer diese Unglücklichen taten, jenen konnten sie es nie recht tun. Wenn sie rechts standen und konservativ waren, wurden ihnen ihre ekelerregenden Peijes und Kaftane und von den Christen die Abgeschlossenheit ihrer Orthodoxie, ihre Starrsinnigkeit im Glauben vorgeworfen. Wenn sie links standen und Sozialisten, Kommunisten, Agnostiker waren, wurden sie der Zersetzung und Unterwühlung der Gesellschaft und des Glaubens bezichtigt. Wenn sie Liberale waren, warf man ihnen Eigennutz vor und Raffgier — auch wenn sie sich durch großzügige Stiftungen von dem Vorwurf (vergeblich) loskaufen wollten. Wenn sie große Leistungen zum Wohle der Gesamtheit erbrachten, wurden diese nicht oder nur ungern anerkannt, doch selbst wenn das Letztere geschah, wurde es gar nie dem Volke gutgeschrieben, dem sie entstammten und dem sie letzten Endes ihr Genie verdankten (Der Teilnehmer an dem Forumgespräch in Salzburg, der Arzt und FPÖ-Nationalratsabgeordnete Doktor Scrinzi, vermochte es dort, von den großen Leistungen mancher jüdischen Mediziner zu sprechen, „die er zu allen Zeiten anerkannt habe“, und in gleichem Atem zu beklagen, daß es vor dem Kriege so unverhältnismäßig viele Juden unter den österreichischen Ärzten gegeben habe. Daß es ohne diese „Unverhält-nismäßigkeit“ in der Zahl der letzteren nicht zu der Unverhältnismäßig-keit in der Zahl der Genies hätte kommen können, ist dem Dr. Scrinzi nicht aufgefallen. Nicht davon zu reden, daß es seltsam klingt, wenn sich ein Arzt darüber beklagt, daß es jemals wo zu viele Ärzte, welcher Herkunft auch immer, gibt.) Faktisch jedoch wäre es den Antisemiten viel lieber gewesen, wenn die Juden sich gar nie um die Gesellschaft verdient gemacht hätten. Es komplizierte und erschwerte, sie als Kategorie abzulehnen. Um wieviel leichter fiel es doch, so echte Außenseiter wie die Zigeuner an „ihrem Platz zu verweisen“!

So hat es für mich nicht erst des März 1938 bedurft, um zu wissen, was mich und meinesgleichen erwartete. (Vorwurf eines Magistratsbeamten nach 1945: „Sie sind ja kaum als NS-Opfer anzusprechen, wenn Sie schon 1936 weggegangen sind.“ Worauf ich ihm zu bedenken gab, daß ich wahrscheinlich überhaupt nicht mehr ansprechbar wäre, wenn ich bis 1938 gewartet hätte — zwei Tage nach dem Einmarsch der Deutschen kamen österreichische SS-Leute, um mich abzuholen.) Wie kurz aber das Gedächtnis jener Leute, welche, was damals und bis 1945 geschah, als ein plötzlich über alle hereingebrochenes Elementar-ereignis ansehen wollen! Gewiß, was damals anhob, war fürchterlich, weil „nun einmal System in die Sache und diese zu ihrer letzten Konsequenz gebracht“ wurde. Mir selbst war der Antisemitismus des „Kikeri' nicht weniger fürchterlich gewesen, eben weil er einen Stößer aufhatte und eine Vetschina im Schnabel. Was den Antisemitismus vor 1938 so fürchterlich machte, war just eben, daß er kein staatlich dekretierter und systematisierter war, sondern von unseren Mitbürgern, Wohnungsnachbarn, Arbeits- und Berufskollegen, von allen Seiten des öffentlichen Lebens, tagtäglich aus der Presse, von den Podien des Parlaments, der Versammlungssäle, ja auch aus dem Munde von Priestern wie giftiger Schleim an uns herankam. Das ist's, was den Österreichern zum historischen Vorwurf zu machen ist: ihr Antisemitismus kam nicht von oben („oben“ war man in Österreich immer weniger antisemitisch als unten, zumindest seit dem Tode Maria Theresias), sondern von „unten“; er entsprang einem Herzensbedürfnis, kam aus dem Gemüt, aus dem Bauche. Den Deutschen war er vornehmlich nur aus dem Kopfe gekommen, als Theoretik der Schlosser, Keppler, Marr, Treitschke, Mommsen, Dühring, H. St. Cham-berlain. Der Nazismus kam bei ihnen als Faschismus an die Macht — nicht als Antisemitismus.

Freilich hat der staatlich dekretierte und administrierte Antisemitismus dem „gemütlichen“ unserer Österreicher so etwas wie eine Schockbehandlung verschafft. Dennoch kam ihr ,jdas haben wir nicht gewollt“ nicht nur zu spät, es war einfach nicht konsequent gedacht. Wer eine rassische, volküiche, nationale Kategorie von Menschen als Ganzheit verurteilt, öffnet jenen den Weg, welche die Schmutzarbeit übernehmen, das Urteil physisch zu vollstrecken.

All das und noch anderes ging mir vor Beginn des Forumgesprächs zu Salzburg durch den Kopf. Nun aber wurde von mir erwartet, daß ich etwas über den Antisemitismus von heute sage.

Daß es ihn überhaupt gäbe, erläuterte einer meiner Vorredner, der Sozialstatistiker Blecha. So etwa, daß 45 Prozent der bei einer Umfrage angesprochenen Österreicher immer noch einen Widerwillen empfinden, wenn sie einem Juden die Hand reichen sollten. Zu ihrem Glück kommen nur die wenigsten von ihnen je in die peinliche Lage — es gibt nicht mehr genug Juden in Österreich reihum. Was mich persönlich betrifft, halben sie gleichfalls nichts zu befürchten: ich habe einigermaßen gelernt, die Leute zu erkennen, denen ich die Hand reiche. Ganz leicht ist es allerdings nicht mehr in Österreich, die anderen zu erkennen. Der Antisemitismus ist hierzulande verschämt geworden. Zumindest gegenüber den Juden. Seit 1945 hat mir keiner „Saujud“ ins Gesicht gesagt. Was anderes ist's, was er über mich sagt, wenn ich nicht dabei bin. Es gibt Leute, die mir's wiedererzählen; manche tun es nicht, obwohl sie — weil sie Freunde sind: sie wollen mich nicht kränken. Haben die eine Ahnung! So erinnert mich der Antisemitismus bei uns heute eher an ein zwar nicht seltenes, aber dennoch geheimes Laster, dessen man sich nur unter Vertrauenswürdigen rühmt. Daß es Organe gibt, die gerade damit ein gutes Geschäft machen, auch dieses Laster, wenn auch in geschickt gewählten Formen und als Antizio-nismus getarnt, öffentlich zu rühmen, gehört dazu.

Ich kenne weiter den Antisemitismus der beim Anblick meines jüdischen Gesichtes Überraschten: „Ja, so was gibt's noch immer?“ Bei anderen versteinert das Gesicht alsogleich, was besagt: „Für mich bist du auf keinen Fall ein Mitmensch.“ Da ist der Antisemitismus der Gerüchte und Legenden, etwa jener sich hartnäckig erhaltenden von der Steuerfreiheit und anderen Privilegien der Juden in diesem Lande. Da sind die unsympathischen Politiker, die taxfrei zu Juden gemacht werden. (Der einzige wirkliche, den wir derzeit haben, möchte selber keiner sein; so ist es schwer, über die einigermaßen verklemmte Problematik dieses Falles zu sprechen.)

Da ist der gesellschaftliche Antisemitismus, der einen jüdischen Freund, einen Speditionsarbeiter, zwang, auf seinen Vornamen David zu verzichten und statt dessen einen nichtjüdischen Vornamen im Kreise der Berufskollegen zu tragen. Als David hätte er sich keine Woche unter ihnen als Gleichwertiger halten können. Leute, die durchaus keine Judenfeinde sind, scheuen sich, einen Juden zu sich nach Hause einzuladen: dem einen oder anderen aus der Familie möchte es seltsam vorkommen; auch könnte sich einer der anderen Eingeladenen geniert fühlen. „Wer paßt denn schon gern die ganze Zeit auf jedes unbedachte Wort auf, das man sagen könnte?“ Dergleichen kann jedoch auch passieren, wenn der Gastgeber selber ein Jude ist: „Ein Jude im Hause ist gerade genug, ein zweiter bereits de trop.“ Manche nicht jüdisch aussehende Juden zeigen sich ungern zusammen mit jüdisch aussehenden. Wie denn überhaupt die Situation des verschämten Antisemitismus der Solidarität unter den Juden gar nicht zuträglich ist. Gott verzeih es ihrer armen Seele.

Das besondere politische Anliegen des Antisemitismus von heute in Österreich wurde recht eindringlich von dem Abgeordneten Scrinzi und zahlreichen Sekundanten im Publikum verkündet: Man begrabe oder musealisiere die böse Vergangenheit; man höre auf, die NS-Verbrecher zu verfolgen; pageat Wiesenthal; gäbe es ihn nicht, dann gäbe es auch keinen Antisemitismus in Österreich mehr. (Daß die Leistungen Wiesenthals kaum je von der österreichischen Justiz und nur von ausländischen Behörden in Anspruch genommen werden, mutet dabei recht eigentümlich an.) Vor allem aber eines:

Uns Juden ist schon lange nicht mehr nach Rache zumute. Dazu ist uns zuviel angetan worden. Man wird jedoch verstehen, daß wir keinen zweiten Holokaust erleben möchten, weder das neue nationale Zentrum, das in Israel erstanden, und das uns unsagbar teuer ist, betreffend, noch eine jüdische Minderheit irgendwo auf der Welt. So richten wir uns gegen jene, die einen neuen „praktikablen“ Antisemitismus erfunden haben, einen, bei dem sie um den bösen Vorwurf, Antisemiten zu sein, herumzukommen glauben: den AntiZionismus. Beide Versionen laufen auf das gleiche hinaus: in der einen auf die Vernichtung der Juden als Minderheit, in der anderen auf ihre Vernichtung als Staat, als Nation. Der Staat Israel wurde von Zionisten geschaffen. Die Idee, daß die Juden in ihrer alten Heimat eine endgültige sichere Heimstätte vor allen Verfolgunigen und Heimsuchungen finden sollen ist die zionistische Idee. Antizionismus bedeutet daher, den Juden diese Heimstätte zu nehmen, und das heißt, sie wieder in das zurückzustoßen, das sie 2000 Jahre lang erdulden mußten. Uns ist nicht nach Rache zumute. Uns liegt auch kaum noch etwas daran, daß die Leute, die an uns so schuldig geworden sind, nach so langer Zeit, noch eine — in jedem Fall inadäquate — Strafe für ihre Verbrechen erhalten. Wohl aber liegt uns viel daran, daß vor Gericht und auch sonst aufgezeigt und etabliert werde, was alles damals geschehen und daß es überhaupt möglich gewesen ist. Es ist noch keinem Volke geschehen, daß es als Volk wie Ratten in Betonbunker getrieben und mit Giftgas vertilgt worden ist, und es soll keinem Volk mehr geschehen. Das sage ich als Jude. Als Österreicher jedoch, einer Familie entstammend, die in vierhundert Jahren diesem Land-einiges gegeben hat, sage ich, daß die Österreicher, die mit dem Geschehenen von gestern ebenso heillos verquickt waren wie mit dem Vorgestri-den, das es ermöglichte, es bedürfen, daß nichts davon verschüttet werde. Es ist einfach eine Sache nationalmoralischer Hygiene gegen eine tief in der Blutbahn liegende Seuche, von der die Jugend und weitere Generationen befreit und vor der sie beschützt werden müssen. Nur so werden sie, die zu Recht „mit alldem nichts mehr zu tun haben wollen“, wirklich nichts mehr damit zu tun haben.

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