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Leid und Mahnung

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Herr Pfarrer György Kis hat mich gebeten in Berufung auf eine jahrzehntelange Bekanntschaft, zu dem vorliegenden Buch eine kleine Einführung zu schreiben. Ich tue dies gern, weil ich davon überzeugt bin, daß dieses Buch, gedruckt und auch gelesen, einen wichtigen und guten Dienst in der Gesellschaft und der Kirche tun kann.

Ich habe in diesem Vorwort nicht über die schriftstellerischen und vor allem nicht über diejenigen Qualitäten zu urteilen, die man an ein Buch stellen kann, das ein Stück der jüngsten Geschichte und einen guten Teil des eigenen Lebens berichtet. Vor allem kann ich natürlich über all das nicht urteilen, was sich auf Ungarn und seine jüngste Geschichte bezieht. All das würde meine Kompetenz weit überschreiten.

Ich möchte aber zu erklären versuchen, warum dieses Buch sich die Bekämpfung eines unter-

schwelligen, aber durchaus noch gegebenen Antisemitismus in unserer Gesellschaft zur Aufgabe macht und dies gerade in dpr vor allem autobiographischen Weise unternimmt, die die Eigenart dieses Buches ausmacht.

Daß es einen fast zweitausend Jahre währenden Antisemitismus in der Christenheit gab, der unmenschlich, unchristlich und somit verwerflich war, daran kann man nicht zweifeln. Man kann tausend Gründe beizubringen versuchen, um zu zeigen oder einigermaßen zu erklären, wie dieser unchristliche Antisemitismus in der Religion und Kirche Jesu aus dem Volk und der Religion der Juden überhaupt möglich gewesen ist. Die Wirklichkeit dieses unwahrscheinlichen Phänomens in der ganzen christlichen Geschichte bleibt bestehen.

Wenn die Christenheit und die Kirche diese Vergangenheit nicht einfach dadurch „bewältigt“, daß sie, die doch immer aus ihrer Geschichte leben muß, diesen Teil ihrer Geschichte einfach verschweigt oder vergißt (zu vergessen und zu verdrängen versucht), und wenn überdies auch heute noch das Faktum einer unterschwelligen Animosität gegen die Juden in der Kirche und auch in der sich liberal gebärdenden profanen Gesellschaft besteht, woran kein Zweifel berechtigt ist, dann ist der Kampf gegen den Antisemitismus auch heute noch eine ernste und wichtige Aufgabe in der Kirche. Wenn jemand einer solchen Aufgabe sich ausdrücklich weiht, ist er aller Achtimg imd Hilfe würdig.

Aber wie soll man eine solche Aufgabe und Absicht durchführen? Die ungeheure Komplexität des Antisemitismus, bei dem die verschiedensten Ursachen mitwirken, bringt es natürlich mit sich, daß die verschiedensten Weisen einer Bekämpfung des Antisemitismus legitim und auch notwendig sind. Der Historiker, der Soziologe, der Theologe sind gleichermaßen aufgerufen, an diesem Kampf gegen den Antisemitismus mitzuwirken.

Aber wenn sie dies mit den von diesen Wissenschaften her nahegelegten Methoden tun, dann ist die Gefahr gegeben, sowohl daß sie in der gelehrten Abstraktheit ihrer Wissenschaften steckenbleiben und darum für den durchschnittlichen, aber antisemitisch infizierten Menschen von heute für die Reinigung seines Bewußtseins unwirksam bleiben, als auch daß sie sich konzentrieren auf die massivsten und ungeheuerlichen Phänomene des Antisemitismus, auf die Judenverfolgungen zur Zeit der Kreuzzüge, auf die gesellschaftspolitischen xmd -rechtlichen Seiten des Phänomens, auf den Holokaust und so weiter und damit beim „Normalverbraucher“ den Eindruck erwecken, das alles seien Dinge einer fernen Vergangenheit, mit der er heute doch nichts mehr zu tun habe. Darum meine ich, müßte zu all diesen gelehrten oder populärwissenschaftlichen Arbeiten im Kampf gegen den Antisemitismus noch eine andere Kampfweise hinzutreten.

Es muß gerade nicht nur von den schrecklichen Ereignissen in der Geschichte des Judenhasses gesprochen werden, nicht nur von den Großereignissen des Antisemitismus, sondern von dem Antisemitismus des spießbürgerlichen Alltags. Es muß auch gehandelt werden von den scheinbar unbedeutenden Ungerechtigkeiten, Lieblosigkeiten, Schikanen, unter denen gestern und auch heute noch in unserem alten Europa ein Jude zu leiden hat, dem dem oberflächlichen Anschein nach niemand etwas zuleide tut.

Es muß vom banalen Alltag antisemitischer Einstellungen, Gefühlen und kleinen Handlungen berichtet werden, die verstohlen von einer vielleicht uneingestan denen, aber wahren Abneigung gegen die Juden inspiriert sind. Es muß von diesem Alltagsantisemitismus auch in der Kirche und nicht nur in der profanen Gesellschaft gesprochen werden, sonst fühlt sich der Durchschnittsbürger und der Durchschnittschrist von heute zu schnell, zu harmlos und selbstzufrieden von einem Antisemitismus frei oder entschuldigt auch heute noch sein Quentchen Antipathie gegen die Juden, das er vielleicht zugibt, mit den Fehlern der Juden, die es natürlich auch gibt, weil auch diese Menschen sind wie wir.

Eine solche Art eines Kampfes gegen den Antisemitismus wird dann fast unvermeidlich autobiographisch, denn man kann diesen Alltagsantisemitismus der selbstgerechten Christen fast gar nicht anders deutlich machen als dadurch, daß ein Jude oder ein Judenchrist konkret erzählt, wie es ihm selber in seinem Leben ergangen ist.

Und das tut György Kis in diesem seinem Buch. Natürlich kommen berechtigterweise auch die großen schauerlichen Fürchterlichkeiten des Judenhasses zur Sprache. Aber wenn dies in etwa doch nur am Rande geschieht und selbstverständlich keine gleichmäßige Geschichte des christlichen Antisemitismus noch einmal berichtet wird, dann ist dies kein Fehler an diesem Buch, sondern von seiner eigentlichen Absicht her gerechtfertigt und notwendig.

Wenn viele ,3^1einigkeiten“ erzählt werden, die der Judenchrist Kis bitter erlebt hat, dann erzählt er nicht Bagatellen, die ein vernünftiger Mensch großzügig verschweigen möchte, weil sie uninteressant sind und in jedem Menschenleben passieren, sondern er berichtet paradigmatisc/t solche Dinge, weil sie uns aufmerksam machen können darauf, wieviel versteckter Antisemitismus auch heute noch in der Gesellschaft und der Kirche existieren und wirksam sein kann.

Wenn da zum Beispiel erzählt wird an konkreten Beispielen, wieviel Gleichgültigkeit gegenüber der Judenfrage harmlos und wie selbstverständlich, aber praktisch sich auswirkend, gegeben ist auch in der heutigen Kirche und auch nach der nur halb geglückten Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über diese Frage, dann eigentlich — nur dann — wird einem Christen deutlich, daß die Uberwindung des Antisemitismus in den Herzen und dann in Kirche und Gesellschaft auch heute noch eine Aufgabe ist, die das christliche Gewissen herausfordert.

Wenn so Sinn und Ziel dieses Buches gesehen werden, dann ist es letztlich gleichgültig, ob da und dort die berichteten Einzelheiten auch vielleicht anders gedeutet werden könnten. Daß sie so gesehen wurden, wie sie Kis berichtet als feinfühliger Mensch und auch als Priester seiner Kirche, ist ein Faktum, das man nicht schnell überspringen kann mit dem Gedanken, man könne dieses oder jenes Berichtete auch anders sehen und deuten.

Bei Büchern dieser Art könnte der Leser zunächst, voreilig, oberflächlich, den Eindruck haben, mit Einzelheiten eines Lebens behelligt zu werden, die ihn nicht interessieren. Aber in der Konkretheit eines Lebens steckt oft mehr an Ernst und verpflichtender Bedeutung als in abstrakten Reden, mögen diese noch so tiefsinnig und umfassend sein. Der Leser ist gefragt, ob er ein Verständnis aufbringt für einen solchen Bericht, der in einem gewissen Sinn auch „narrative Theologie“ ist.

Zum Schluß noch eine Bemerkung: Dieser Bericht ist auch ein kleines Stück der Geschichte der Kirche der Sünder. Wenn hier (letztlich doch milde und bescheiden) auch harte Anklagen und Verurteilungen ausgesprochen werden müssen, dann darf der gerecht und demütig urteilende fromme Christ sich nicht weigern, solche Urteile anzuhören und für gerecht zu halten.

Die Kirche ist sicherlich nicht unmittelbar verantwortlich für den Holokaust, und an diesem unsagbar schrecklichen Ereignis unserer Gegenwartsgeschichte sind viele andere Ursachen wesentlich mitbeteiligt. Aber wäre dieser Holokaust möglich gewesen, wenn es nicht zuvor durch so viele Jahrhunderte und hinauf bis in die höchsten Spitzen der Kirche und hinunter bis zu den normalen frommen Christen und Predigern einen Antisemitismus gegeben hätte, der schlicht und einfach unmenschlich und unchristlich war und der deutlicher eingestanden werden müßte als dies auch in der heutigen Kirche geschieht?

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