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Die Welt im Jahre 200.000

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Als der große Lourdesroman „Das Lied vom Bernadette“, wenn auch nur in einzelnen Exemplaren, zu uns kam, da wußten wir, daß Franz Werfel in der Emigration jenen Weg der Entsdieidung weiter geschritten war, den er mit „Paulus unter den Juden“ allen sichtbar, in vielen Gesprächen mit vertrauten Freunden aber noch sehr viel entschiedener betreten hatte. Wir sehen erschüttert einen großen Dichter um jenen Geist der Wahrheit ringen, dessen pfingstliches Feuer er so wunderbar in seinem frühen Hymnus besungen hatte. Idi habe freilich bei uns kaum eine Besprechung gelesen, die diese auf den ersten Blick so seltsame, in Wahrheit aber nur folgerichtige Entwicklung mit vollem Ernst zur Kenntnis genommen hätte. Hier findet ein Bekenntnisjude geistig und innerlich zur Kirche. Er kehrt nicht heim, vielleicht wäre ihm eine offene Konversion wie eine Flucht vor der Fahne jener Brüder erschienen, die in den Gaskammern von Auschwitz dem Blutmythos geopfert wurden, vielleicht scheute er vor dem möglichen Vorwurf zurück, daß er etwa aus Konjunkturgründen handle. Wie dem auch sei, und wie sich, wenn wir mehr über die letzten Jahre des Dichters erfahren werden, diese Frage auch lösen möge, die Tatsache, daß hier einer aus der liberalen Welt seiner Jugend über viele Experimente und Gedankensprünge hinweg im Geiste zur Ordnung der Kirche fand, bleibt bestehen, die Tatsache, daß da einer unter uns war, wenn auch räumlich von uns getrennt, der die Dinge tiefer sah und klarer aussprach als so viele Getaufte, die. vor jedem geistigen Ringen zurückschrecken, aber auch als viele, die da meinen, sie könnten in einer aus allen Fugen geratenen Welt noch nach ihrem eigenen Plan und Planchen fügen und die dem autonomen Menschen sich verschreiben, ohne die Konsequenz dieser Autonomie zur Kenntnis zu nehmen. Die das Böse nur in seiner politischen Gestalt verfluchen, aber ihm im Geiste wacker dienen oder einer subjektiven Freibeuterei huldigen, einem sittlichen Nihilismus, gespenstische Söhne einer Vergangenheit, die diese unsere Gegenwart wahrhaftig bis ins kleinste geformt hat.

Eine Reise durch die Welt im Jahre 200.000, eine Utopie, aber was für eine! Wie platt nehmen sich die Zukunftsträume einer reichlich jungen Vergangenheit aus, die den technischen Fortschritt ins Phantastische vortreiben. Nicht, daß da ein Bekenntnisbuch vor uns läge. Diese Erzählung des Herrn F. W., der im Jahre 200.000 kurzerhand von einer „astromentalen“ Hochzeitsgesellschaft in Kalifornien zitiert wird, und nun, angetan in seinem „urzeitlichen“ Frack aus dem Jahre 1943 und geschmückt mit dem „Verdienstkreuz für Kunst und Wissenschaft“ der Republik Österreich drei Tage Leid und Freud mit den Menschen jener fernen Zukunft teilt und den Untergang der astromentalen Kultur miterlebt, diese ganze höchst komplizierte und schillernde Geschichte ist als Ganzes gesehen eigentlich weniger eine Utopie als eine Materialsammlung für eine solche, die dann, auf ein Dritteil des Umfanges gebracht, ein ebenso spannendes, ja“ aufregendes wie gescheites Buch ergeben hätte. Auch der vorliegende Reisebericht, den der Dichter ja zwei Tage vor seinem Tode noch vollenden konnte, ist gescheit in jeder Zeile, gewiß, es ist eine der genialen Konzeptionen unserer Zeit, aber nicht immer Schöpfung. Dies sei nicht kritisch festgestellt, es kann ja auch nichts mehr daran geändert werden, sondern nur wegweisend für den Leser, der, wir hoffen es, auch bei uns das Buch einmal in Händen haben wird. Er möge sich, deshalb sei es gesagt, weder durch einen mandimal unausgeglichenen Stil noch durch diese und jene nichts als phantastische Spielerei stören lassen und über die Klippen hinweg zu dem Zentrum des Buches vordringen. Es lohnt die Mühe. Wenn nämlich auch alle Register einer technischen Utopie gezogen sind (sie auch nur aufzuzählen, ginge weit über diese Ankündigung hinaus), so kommen die tieferen, die wahren Zukunftsträume doch aus dem Geiste, aus dem Herzen eines Didirers, der sich den kindlichen, den unbestechlichen Sinn für die Realität bewahrt hat. Es ist ziemlich gleichgültig, wie die Menschen reisen, wohnen und sich kleiden, wie sie als Schüler und Meister zwischen den Planeten und in Sternenräumen schwirren, wie , sie nach der großen Sonnenkatastrophe unter der Erde hausen, ob ihre Tageszeitung an den Himmel geschrieben wird, wie sie ihren letzten Krieg führen und endlich den allerletzten. All das mag im Detail bewundert oder bestritten werden, es mag uns staunen und lächeln lassen oder auch nur das Gefühl geben, die Phantasie verirre sich ins Uferlose; all das entscheidet aber nicht den Wert des Buches. Der Wert des Buches liegt durchaus im Philosophischen, in der Vision, daß auch diese unsagbar verfeinerten „astromentalen“ Menschen das Menschliche, Allzumenschliche in sich nicht überwinden, auch wenn sie ihr Leben auf 200, Jahre verlängern und dem Tode durch die Einrichtung des „Wintergartens“, durch eine wohlerdachte Rückwärtsentwicklung in den fötalen, ja pflanzenhaften Zustand scheinbar aus dem Wege gehen. Auch in diese aufs höchste gesteigerte, in allem sehr kluge und beschauliche aber auch wehleidige Kultur, wie sie nur eine sehr geringe Zahl der verbliebenen Menschen, daher eine wahre Auslese an Geist und Zucht erreichen kann, bricht der „Dschungel“ wieder ein, jene oberirdische, durchaus unserem Dasein angemessene Art zu leben, seine brutale, gesunde, widergeistige Menschlichkeit, die schließlich mit den letzten musealen „Fernsubstanzzertrüm-merern“ in wenigen Stunden die astromen-tale Welt zerschlägt und sich unterwirft. Aber auch diese vielfältigen, nach allen Seiten des Geistes und des Lebens wuchernden Erkenntnisse würden diese Uutopie nicht über andere heben, soferne sie von Dichtern und nicht schreibenden Mechanikern stammen. Die Welt, auch die utopische Welt von 200.000, ist bei Werfel durchaus eine christlidie Welt. Audi der „Jude des Zeitalters“ ist da, gewiß, aber wenn andere Utopisten an der zentralen

Wahrheit, daß die Kirche bis ans Ende der Zeiten bestehen werde, vorbei phantasieren und sie in ihren Zukunftsbildern leicht vergessen, weil sie ihr wohl audi m der Gegenwart keine echte Realität zubilligen, hier fallen die entscheidenden Worte in den beiden Unterredungen mit dem „Großbischof“, wie Werfel ihn nennt. Bei der ersten Zusammenkunft, da an ihm, dem zitierten Geist, der große Exorzismus zur Probe vollzogen wird, und bei der letzten, die ihm die „andere Hälfte“ der Wahrheit erschließt. Die Abrechnung während des Exorzismus, die Beschwörung des Bösen durch den Priester ist eine grandiose Abrechnung mit den dämonischen Kräften unserer Gegenwart und jüngsten Vergangenheit. Es ist, scheint mir, und dazu im Jahre 1943 geschrieben, die früheste, die erste objektive. Die bösen Geister, die da beschworen werden, sind nicht nur einem politischen System verhaftet, sie werden klar beim Namen genannt. Alle sind da, die gegen die reale göttliche Ordnung der Welt aufstehen im Namen irgendeines Mythos. Auch wahrhaft vergottete Größen finden wir darunter, auch jene sind nicht geschont, denen man just in den Kreisen um Franz Werfel einen großen Klang verlieh. Daß er damit sehr viele erstaunen machen wird, hat Franz Werfel auch gewußt. „Meine Zeitgenossen“, sagt er bei der letzten Unterredung mit dem Großbischof, „werden sich kaum darüber wundern, daß der Arbeiter und sein Clan aus den Strahlen der Sonne und anderer Lichtgestirne die vereinfachten, vergeistigten Gebrauchsartikel einer numerisch zusammengeschrumpften Menschheit herstellt und auf kürzestem Wege in die Häuser transportiert. Das zwanzigste Jahrhundert war die frühe und plumpe Wiege jener späten kosmischen Industrie, die auf der Ausnützung der stellaren Grundkräfte beruht. Der populärwissenschaftliche Journalismus meiner Zeit warf schon mit Alpha-Beta-Gamma-Strahlen um sich. Die altmodischen Fernsubstanz-/.ertrümmerer waren zwar noch nicht er-funden, aber die pMmitive Zertrümmerungsart gewisser Atome, und der Entbindung der ungeheuren Weltallskräfte war man schon auf der Spur. Auch daß die tellurische Gesinnung des Menschen sich zur kosmischen Gesinnung hinentwickeln muß, das ahnten die feineren Geister aller Zeiten. Was schließlich den „Wintergarten“ betrifft, so werden viele trotz der schönen Margueritenfelder abgestoßen und entsetzt sein von der stygischen Lokalität und dem ganzen Louche von schmuddeligem Umweg ums Sterben, genau wie ich es war. Wer weiß, andere wieder werden es nicht nur glaubhaft, sondern praktisch finden, daß man das Leben zurückdrehen gelernt hat wie eine Filmrolle. Bestimmt nicht glauben wird man mir, daß Euer Lordschaft (der Großbischof) und der Jude des Zeitalters existieren! Warum? Weil gerade diese bescheidenste aller Tatsachen ohne übernatürlichen Glauben nicht zu glauben ist. Ohne den Glauben an die erstletzte und endgültige Offenbarung der unbeweglichen Wahrheit durch das Alte und Neue Testament ist die Annahme, daß die Kirche Christi und Israel durch die Jahrhunderttausende fortbestehen, nicht nur ein Ammenmärchen, sondern ein Ärgernis. Den echten übernatürlichen Glauben aber besitzen nur die wenigsten meiner Zeitgenossen. Die andern werden sagen: Wenn alle primitiven Religionen durch fortschreitende Erkenntnisformen abgelöst worden sind, so kann die Kirche Christi mit ihren ge-schichtsbedingten Mythologien und Dogmen die fortschreitenden Erkenntnisformen nicht überlebt haben.“ Und wenn nun der Großbischof meint, es habe in den Anfängen der Menschheit mehr gute Christen gegeben als heute (im Jahre 200.000), so darauf F. W., wie er sich im Buche nennt, daß die Protestanten und nationalchristlichen Sekten sich kaum darüber freuen würden, daß die katholische Kirche das Rennen gewonnen habe. Und die Katholiken? Die Katholiken aber würden bitter Anstoß nehmen an dem Titel „Großbischof“ statt Erz-bischof...

F. W. dürfte auch recht vorausgesehen haben. Es werden sich viele an diesem seltsamen Reisebericht stoßen, an entscheidenden und an nebensächlichen Dingen. Aber ich glaube, wenn wir den Kern suchen und also befinden, müssen wir in Franz Werfel jetzt noch sehr viel mehr jene anima naturaliter christiana erkennen, jenen unbestechlichen christlichen Realismus, der heute überall durchbricht, wo echtes Menschentum ehrlich um die Wahrheit ringt. Vor hundert, noch vor vierzig Jahren wäre dieses Buch kaum möglich gewesen.

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