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Erinnerungen an Doderer

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In meiner Beziehung zu Doderer geschah nach den in den Literarischen Blättern der „Furche“ (Nr. 43) geschilderten Einsätzen lange nichts. Obwohl sich sein Name gleich tief in mich einbohrte. Und gewisse eben doch mitbekommene heimitische Dicta stark in mir weiterschwärten. Vor allem aber mied ich peinlich den Kontakt mit der mir so widerwärtig versetzten theoretischen Schrift. Und als ihr Autor mir dann leibhaftig am Horizont einer Abendgesellschaft — einer ziemlich anderen, als der eben geschilderten — auftauchte, ließ ich mich nicht einmal vorstellen.

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In meiner Beziehung zu Doderer geschah nach den in den Literarischen Blättern der „Furche“ (Nr. 43) geschilderten Einsätzen lange nichts. Obwohl sich sein Name gleich tief in mich einbohrte. Und gewisse eben doch mitbekommene heimitische Dicta stark in mir weiterschwärten. Vor allem aber mied ich peinlich den Kontakt mit der mir so widerwärtig versetzten theoretischen Schrift. Und als ihr Autor mir dann leibhaftig am Horizont einer Abendgesellschaft — einer ziemlich anderen, als der eben geschilderten — auftauchte, ließ ich mich nicht einmal vorstellen.

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Nicht, daß sein Smoking (abgesehen vom einigermaßen desparat geschlungenen Mascherl) sieh allzu ' sehr von meinem unterschied. Er stak nur anders drin — wie in einer ächlechtgeölten Ritterrüstung etwa.

Auch war ich ihm in keiner sehr glücklichen Stunde über den Weg gelaufen — aber woher hätte ich das wissen sollen? Wir neigen doch alle dazu, große Menschen, wenn wir ihrer erstmals ansichtig werden, stets als im Normalzustand befindlich anzunehmen — wenn nicht gleich: auf dem Gipfel ihrer Persönlichkeit fundiert (wie? So schaut der aus!?) und bilden flugs unsere Urteile. Auf diese Weise wird dann — etwa — ein einmal beschwipst angetroffener Mime gleich zum notorischen Trunkenbold, ein Komponist, nicht bei Laune vorgefunden, zum stets von Schwermut gezeichneten Unglückseligen, ein bei militantem, sichtlich ins Leere gehenden Ausfall betretener Schriftsteller aber zum generell gefährlichen Wüterich.

So auch hier. Ich konnte nicht umhin, wahrzunehmen, daß Doderers Schultern geradezu geballt waren, daß er den Schädel mit den hohen Backenknochen, hinter einer breiten Stirn her, wie zum Angriff vortrug; darunter funkelten schmalgeschlitzte Augen, arbeitete ein fast erschrek-kend grimassierendes Untergesicht, formulierte ein dünnlippiger, grim-mig-grinsender Mund laut und mit überdehnter Silbenbe'tonung druck-reif-konzise Passagen, wenn er sich nicht gerade um den mit steifgespreizten Fingern hinzugeführten sogenannten „Lippensieder“ abfällig schürzte, wie man in Wien einen längst zu kurz gerauchten Zigarettenstummel nennt.

Was Doderer so mit Rauchwolken von sich stieß — jedesmal einen der ihn Umgebenden direkt adressierend, immer mit hinzugesetztem, im Notfall auch akademischem, Titel, ging so sichtbarlich über die Begriffe seiner Corona, daß der Eindruck schon fast ein lächerlicher war. Der hier von männlichen und weiblichen „Strudlhofziegen“ wie Umstellte, ja Eingefangene schien mir geradezu alarmierend gefährlich, so, als könne, ja müsse er im nächsten Augenblick detonieren, derartig schwachsinnig war, was man ihn fragte, so völlig anderes Kaliber hatten seine Antworten.

Ich hatte noch keine Zeile von ihm gelesen. Aber ich hörte nun, wie seine Sätze zu sprechen waren.

Ich fürchtete, bei der Explosion — die kommen mußte! — mit hinweggefegt zu werden.

Statt dessen fegte Doderer bald selbst hinweg, zwar noch vor dem Essen, aber ohne ausdrücklichen Eklat (er erfand sogar irgendeine Ausrede), die Damen am Rande seines Abmarsches mit gleichsam wutzitternden, aber immer beherrschten, ja überzeremoniösen Handküssen bedenkend, die Herren daneben indessen mit krachenden Händedrük-ken und stets protokollgemäßem Ti-tular. Ein Dienstmädchen ward reich betrinkgeldert, ein dem Smoking recht konträrer sportlicher Fischgrätmantel umgeworfen, ein sichtlich teurer, aber lieblos deformierter grauer Hut wüst aufs Haupt gestülpt — und fort war er, die befremdete Hausfrau indes eines mächtigen Blumenarrangements sowie eines reizend verschnörkelten, preziös formulierten, buntschriftlichen Entschuldigungsschreibens auf Ivoire-Papier gewiß, beides morgen schon eintreffend.

Ich setze eins, Jahre später an meine Frau gerichtetes, als Beispiel her:

Sehr verehrte, liebe Baronin, der alte Doderer hat sich am Abend des 14., Donnerstag, miserabel aufgeführt, indem er beim Abendessen unzulässige Lieder absang. Dafür bitte ich Sie nun, Baronin, ganz ausdrücklich um Verzeihung! Derartige Produktionen sind sonst nicht der Brauch bei mir. Aber der grausenhafte literarische Kamillentee, den man uns eine Stunde lang eingeflößt hatte, erzeugte bei mir — mangels der Möglichkeit während der Vorlesung die Fenster einzuschlagen oder wenigstens den Vortragenden zu verprügeln — jene wilden Reaktionen. Gewähren Sie mir also Ihre Absolution! Mit sehr ergebenem Handkuß stets der ihre

Heimito Doderer

Der Dichter mochte Gesellschaft sehr — er hielt sie nur zunehmend schwerer —und halt nicht wirklich immer — auch aus.

Weniges später geriet mir dann seine „Strudlhofstiege“ in die Hände. Nicht bei einem Freund oder einer Bekannten. Sondern in der Buchhandlung J. Berger auf dem Kohlmarkt zu Wien. Nicht durch einen Hinweis, sondern weil ich warten mußte. Und so griff ich, ziemlich wahllos, ins Regal und hatte ihn auch schon in der Hand: meinen ersten Doderer.

Ich las ihn übers Wochenend. Auf einen Sitz. Ich hatte vorher derlei nicht gelesen. Es schmiß mich um.

Nun wird es ja immer Romane solcher wie auch solcher Art geben, denen sohin gewiß nur mit verschiedenen Graden der Begeisterung beizupflichten ist, kluge und dumme — warum denn nicht auch letztere? Wenn sich nur ein konidiotischer Verleger findet mit zuviel Geld und entsprechend irritiertem politischem Gewissen, ästhetisches hat er ohnehin keines. Er findet sich schon. Kurz, die Vielfalt des Romanangebots, überzeitliche wie moderne Ware, ist gewaltig; überall sind für die ernstlich Beflissenen gute, bessere, beste Qualitäten — habeat sibi.

Aber ich bin halt ein unbescheidener Mensch.

Meine wirklichen und wahrhaftigen Romane, jene, auf die's mir im Grund allein ankommt, die mich, sozusagen höchstpersönlich, umschmeißen, müssen über die gewissermaßen grundlegende literarische Wertvolle hinaus gefälligst noch ganz andere Stückeln spielen:

Nämlich magischerweise meine ureigensten und allerspeziellsten. Wie soll das der Romancier nun bewerkstelligen, der mich doch nicht kennt? Keine Angst, er vermag es.

Denn er kann noch Wunder wirken. Er darf durch alle erdenklichen Diplommühlen hindurchgegangen sein und ist in seinen Mitteln und Ergebnissen dennoch kein szientifi-ziell verengter Mensch geworden, der au fond doch nur zusammenfassen und einteilen kann, was vor ihm schon tausend andere, nur halt ein bißchen anders, zusammengefaßt und eingeteilt haben, ohne je zu wissen, womit sie wirklich umgehen, der, weil immer mit Überbegriffen operierend, nur von einem Abstraktum her ins nächste mündet, auch wenn's um Einzigartigkeiten geht — und es geht immer um Einzigartigkeiten.

Hingegen habe ich — zum Beispiel — unlängst von einem lächelnden Zeitungswissenschaftler erfahren, daß die Zeitungswissenschaft eigentlich nur zum Wohle der Zeitungswissenschaft Zeitungswissenschaftler erzeuge.

Ich finde solche Inzucht nicht einmal mehr lustig. Sondern nur noch inhuman. Alle solchen Wucherungen, die nur für sich im Körper der Menschheit gedeihen, sind, sieht man aufs Ganze, kanzerös, bösartig.

Aufs Ganze sieht allein der Romancier. — Er ist der letzte. —

Wahrhaftig. Ohne ihn war' ein Begriff wie: Universalismus längst zur leeren Worthülse geworden.

Man wird nun ahnen, worin das Superplus bestehen muß, das ein Erzähler großer Prosa für unsereins zu leisten hat, was von Doderer für seine Leser habituell geleistet wird.

Zunächst einmal stößt er einem zu. Man kann sich darauf verlassen. Wer ihn überhaupt zu lesen vermag, der liest ihn auch, über kurz oder lang. Aber dem Heimitisten geht's dann bald gar nicht so sehr um Spannung oder Entspannung; auch wird er sich mit Dankbarkeit weder zu neuen Gipfeln des Menschentums noch des sozusagen überhaupt Erhabenen emporzuraffen genötigt finden. Mystische Erleuchtungen werden ihm ebensowenig vermittelt wie eine Gesinnung, eine Weltanschauung. An ihre Stelle tritt Sinnvertrauen und Weltschau. Uberscheubarkeit ist gewährt, Nachvollzug möglich. Der Autor begibt sich nicht der menschlichen Bereiche, die ausgeschritten, nicht vage vorausgesetzt werden.

Nun, wir haben unsere allgemein nützlichen Pflichtlektionen schon früh kennengelernt: die Erkenntnis, daß drei mal vier halt meistens doch zwölf ausmache und solche Sachen. Das haben wir intus.

Derlei kennen wir wahrhaftig zur Genüge, und soviel zum Gemeinwohligen, das der Mensch braucht und wie er's denn zumeist auch ausreichend versetzt kriegt.

Was wir indessen nie zur Genüge kennenlernen, ist das Schicksal, welches wir, und nur wir, erfahren haben, eben jetzt erfahren, einmal erfahren werden.

Und da hilft uns, in unserem immer speziellen Fall, die immer allgemeine Wissenschaft sowenig wie die diesfalls identisch beschaffene Astrologie: zu abstrakt sind beide. Noch hat uns im Grunde Philosophie oder Journalismus was zu sagen: diese bildet vollends ein akademisches Reservat, jener ist längst zur Monsterschau auf gut englisch: Freak-show geworden. Dazwischen stehen wir als sozusagen normale Menschen, für die dieser ganze Aufwand eigentlich getrieben werden sollte, und sind, wenn wir nicht irgendeiner Idolatrie verfallen, wiederum ganz auf uns verwiesen; Hilfe erfahren wir von diesen Seiten keine.

Lassen wir deshalb die Philosophie als ungreifbar gewordenes Institut beiseite und die Astrologie als was für Künstler ohne Kunst, Wissenschaftler ohne Wissenschaft. Und was haben, schließlich, die Zeitungen noch mit unserer Zeit zu tun? Otto von Habsburg hat einmal festgestellt, wer in ihren Spalten niemals vorkomme: Studenten, die studieren, Arbeiter, die arbeiten, Priester, die noch an Gott glauben.

Die Gleichung: Berichterstattung — Monstrositätenschau ist längst aufgegangen; Identifikation da kaum noch möglich.

Aber versuch's einmal und fahr im Wagen des Rittmeisters Eulenfeld mit (du erfährst nicht einmal die Automarke!) —dorthin geriet ich auf den paar Seiten, die ich in der Buchhandlung Berger überflog — und es passiert nichts weiter, als daß du dabei neben noch einem Herrn und neben noch einer Dame sitzest, und die reden halt ein bisserl miteinander. Nichts Weltbewegendes reden sie.

Nur, auf die Weise, wie sie's tun, unsereins Bewegendes. Es trat mich an wie eigene, nur durch irgendeine unbegreifliche Amnesie verschüttet gewesene Vergangenheit: Doderers Sprache hatte mich ergriffen. — Sie wurde nicht die meine und hat mich dennoch nicht wieder losgelassen.

Wochen später war es dann und ich hielt eben mitten in den „Dämonen“, da wollte ich, zu Besuch bei meiner Mutter, irgendeine Nummer im Telephonbuch nachsehen. Und plötzlich glitt mein Finger über die Eintragung: Doderer, Dr. Heimito, Schriftsteller.

Ich hab' sofort angerufen, gewärtig, irgendeinen dienstbaren Geist an den Apparat zu bekommen. Statt dessen sagte eine heisere, gutturale Stimme: „Heimito Doderer.“

Ich hatte kein fertiges Wort auf der Zunge, wußte nicht, was ich sagen sollte; ich stotterte nur. Aber immerhin stotterte ich auch hervor, gerade noch gelang's, sein Leser zu sein, eben bei „den Unsern draußen in Döbling“ befindlich. Ich vergaß gar, meinen Namen zu nennen.

„So, so“, hieß es darauf gemütlich und unbegreiflicherweise. „Wissen Sie was? Kommen Sie doch morgen zum Tee.“

Anderentags, es war der 10. September 1958, saß ich dann Doderer im vorderen seiner beiden kleinen Zimmer gegenüber. Er war gelöst und heiter, ganz anders, als ich ihn erinnerte. Auch hatte er die Zigarette mit einer Pfeife vertauscht; ein Geruch, verschnitten aus Capstan und Lavendelwasser, stand als unsichtbare Kulisse um unseren kleinen Teetisch; Tee gab's übrigens keinen, es gab gleich türkischen Mokka, danach, massiv, Gin. Er las mir dann, genießerisch schmunzelnd, eine, wie er sagte, kurz vor meinem Eintreffen entstandene Passage aus einer Art Hauptbuch vor (das Manuskript der „Merowinger“), dessen Raster, bei breiten Marginalien, eng mit grünen Schriftzügen gefüllt waren; manchmal sprengten auch andere Farben, in der Hauptsache rote, großgesetzte Initialen, die stets sich verjüngenden, stets nach rechts unten wandernden Kolonnen einer gestochen gleichmäßigen Schrift.

Ich mußte ihm, als er geendet hatte, sogleich meine unmittelbaren Eindrücke darlegen, und erhielt die Zensur: „Gut. Wir können beide zufrieden sein.“

Ich erzählte damals kein Wort von meinen eigenen schriftstellerischen Versuchen, ich wagte es nicht, ich blieb sein Leser.

Auch was? Immerhin! Ich wußte, daß er dümmere hatte!

Wir rauchten stark. Der Gin ward vollständig aufgebraucht. Irgendwann warf ich mich dann selber hinaus, sonst hätte es in kompletter Besäufnis geendet.

Unter der Tür, als ich wieder ins Stammeln geriet, diesmal aus alkoholischen Gründen, traf mich ein langer, funkelnder Blick aus schräggeschlitzten Augen, bellte der Romancier heiser:

„Sie schreiben doch selber, was? Wenn Sie mir ein Manuskript zeigen wollen, schicken Sie mir's, wir sprechen dann darüber.“

Ich schickte ihm was. Es dauerte lange, bis ich von ihm hörte, doch sprachen wir dann wirklich darüber.

Seitdem ist aus Spiel Ernst und ich ein Schriftsteller geworden.

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