Es war das erste Mal, daß die Missionen ein Meeting der katholischen Schüler in der afrikanischen Stadt veranstalteten. . Seit dem frühen Morgen zogen auf allen Straßen Kindergrupen heran, geführt von jungen Patres, Klosterfrauen und Katechisten. Im Stadion zählte man mehr als 7000 Schüler, die sich vor dem Podium versammelten, das von einem riesigen Kreuz überragt wurde. Als das Credo von den Kindern und der übrigen Menge angestimmt wurde, sah ich P. Derval neben mir stehen. Er schien tief bewegt. Ich trat etwas zurück, um ihn besser betrachten zu können. Es war ein anderer Derval, größer und schöner, als ich ihn bisher gekannt hatte. Kein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Fast schien es mir, er könne sich nie mehr in den lebensfrohen Burschen verwandeln, den ich schon seit langem zu kennen glaubte. Als der Gesang zu Ende war, atmete er tief auf, und seine Miene entspannte sich.
Am Nachmittag kam Derval nicht ins Stadion. Ich sah ihn erst sehr spät abends in der Mission wieder.
„Sind Sie nicht zu müde, um mich zu begleiten?“
Er führte mich zu dem Lastauto, das er gestern abend übernommen hatte. Dann teilte er mir mit, daß wir zuerst den unteren Teil der Stadt besuchen würden.
Zählen Sie einmal, wie viele Schenken es hier gibt.“
Jedes dritte Haus war eine Schenke, von der armseligen Baracke bis zum schon modernen Weinhaus, jedes mit einem anderen Kundenkreis.
Beim Vorbeifahren sah ich sogar einen Weißen mit den Allüren eines Eingeborenen hinter der Theke stehen.
„Alkohol!“ sagte Derval. „Erstes Nebenprodukt der Zivilisation; wir sind am Monatsanfang, das ganze Gehalt wird draufgehen.“
Etwas weiter sprach ein Weißer ein Mädchen an, sie suchte ihn festzuhalten. Er wandte sich zu einer anderen, verhandelte mit ihr, und sie gingen zusammen fort.
Ein Schild „Au petit Montmartre“. Ein Neger und ein Weißer tanzten miteinander. Noch weiter ein anderes Tanzlokal: ein Hof, mit altem Wellblech bedeckt. Viel Musik, Geschrei, zweideutiges Gelächter.
„Besser nicht stehenbleiben“, sagte Derval, „man hat mich gewarnt.“
Bald darauf lenkte er in eine andere Richtung. Zwei Männer kamen uns entgegen, der ältere, etwas betrunken, stützte sich auf seinen Gefährten.
Derval hielt den Wagen an und stieg aus „Was machst denn du hier?“ fragte er den Jüngeren. „Arbeitest du wenigstens?“
„Nein, Pater, ich habe noch keine Stelle gefunden.“
„Wer gibt dir denn dann zu essen?“
„Dieser da“, antwortete er und wies auf seinen Gefährten.
Derval ging auf eine annselige Hütte zu.
„Ist das da deine Hütte? Ist es dir denn in Kito nicht besser gegangen?“
Wortlos senkte der andere den Kopf.
„Antworte mir, Guy-Albert!“
„O ja, Pater.“
„Also kehre in dein Dorf zurück, mein Lieber ... Habe ich da nicht recht?“ „Ja, Pater.“
„Wenn er zurückgeht“, sagte Derval zu mir, „tut er es erst, wenn er ein paar Socken und eine Krawatte hat, damit er sich rühmen kann, hier gut zu verdienen. Die anderen werden seinem Beispiel folgen, und dann können sich die Aerzte und alle die anderen, die helfen wollen, zu Tode schinden.“
Derval war jetzt ganz ruhig. Ich hörte etwas wie Bangigkeit aus seiner Stimme heraus.
„Sehen Sie, manchmal hab' ich doch recht. Die Stadt wird zu einer Sammelstelle, wo sich die Eingeborenen nicht mehr wiedererkennen. Die Landarbeit wird immer geringer geschätzt, der Afrikaner, der sein Dorf verläßt, findet sicher irgendwo Verwandte, viele .Brüder', bei denen er monatelang als .Fremder' gilt, geschützt durch das übliche Gesetz der Gastfreundschaft. Das Leben im Dorf gab ihm einen Halt, der hier wegfällt. Wenn der Exodus nach den Städten nicht geregelt wird, werden alle die Männer, die da müßig herumstehen, dazu bereit sein, sich bei Unruhen mit einem Vorrat an Steinen und Eisenabfällen zu versehen.“
„Arbeiter sind aber doch auch da“, warf ich ein.
„Ja, und mit der wirtschaftlichen Entwicklung wird ihre Zahl steigen, und sie werden sich je nach der Klugheit ihrer Propaganda organisieren. Die heutigen Propagandisten — woher immer sie auch ihre Weisungen nehmen — wissen nicht, welches Schicksal im Lauf der fortschreitenden Entwicklung auf sie wartet: ein immer zahlreicheres und unzufriedeneres Proletariat wird sie bald unter die Ausbeuter rechnen. Dabei wird niemand profitieren.“
Wir fuhren langsam weiter und Derval spann seine Gedanken fort. „Und schmerzlich ist es, daß dieses Elend etwas ganz Neues ist, etwas völlig Willkürliches, in gewissem Sinn etwas Künstliches, und doch wieder etwas viel Aerge-res als das Elend, das wir vorgefunden haben, gegen welches man ankämpfen konnte, weil es Mittel gab, den Leuten begreiflich zu machen, weshalb man es verdammte. Das angefaulte Elend einer zivilisierten Gesellschaft ist das Geschwür, das man noch mit den Händen eines heiligen Vincent de Paul pflegen kann. Aber dies hier... !“
Ich fühlte mich gezwungen, etwas zu sagen, um mein Interesse zu zeigen:
„Vielleicht ist es nicht überall das gleiche.“
„Sie haben recht. Man soll nicht verallgemeinern, wenn man von Afrika spricht. Auch hier gibt es anderes.“
Wir waren am Stadtrand angelangt. Derval hielt beim Eingang einer Siedlung, die mir in der Nacht wie die Rekonstruktion eines Dorfes aus dem Busch vorkam.
„Sie haben recht“, sagte Derval, „hier wohnen wirklich Menschen der gleichen Sippe, die sich wieder zusammengefunden haben und an den Bräuchen ihres Heimatlandes festhalten.“
Auf dem kleinen Platz kauerten Männer, Frauen und Kinder auf dem gestampften Lehmboden und wiederholten mit dem alten Katechisten, wie täglich vor dem Abendgebet, einen Abschnitt aus dem Katechismus.
Sie hielten nicht inne, als wir näherkamen.
„Der Pater gehört zur Familie. Seit dreiundzwanzig Jahren lehrt sie der alte Robert die beste Weise, in ihr Paradies zu gelangen.“
Derval redete sie in ihrer eigenen Sprache an, stellte Fragen und ermutigte sie in freundlichem und gewinnendem Ton, der fröhliches Gelächter hervorrief.
„Mit Recht“, sagte er bei der Rückfahrt, „wird dieses Stadtviertel .Vorsehung' genannt. Kürzlich haben die Leute von selbst eine Sammlung für ein von Hungersnot heimgesuchtes Dorf veranstaltet. Und doch sind sie nicht reicher als andere. Durch diese Menschen entdecken wir täglich die wunderbaren Möglichkeiten, die in den Afrikanern stecken.“
Durch die Mangobaumallee kehrten wir zur Stadtmitte zurück
In mehreren Gegenden gibt es den sogenannten kleinen Markt. Der Schwarze hat eine ausgesprochene Vorliebe für „sitzende“ Berufe, aber nicht jedermann kann Beamter oder Schneider werden. Jeder kann jedoch ohne Ausbildung oder Lehrzeit einen fliegenden Handel betreiben, das heißt, ein Klapptischchen vor sich hinstellen, auf dem Zigaretten, Seifen. Sandalen, Knöpfe, Schnürriemen, Bonbons und sonst noch allerhand zum Detaiiverkauf ausgestellt sind. Entlang des Gehsteiges, unter den Bäumen, sind die Tischchen aufgereiht und von Kerzenstümpfen, Windlichtern und Oellampen beleuchtet. Zahlreiche Käufer gingen zwischen den Stellagen hin und her.
Ich konnte nicht anders, als meiner Bewunderung über dieses malerische Bild Ausdruck verleihen.
.,Bravo, daß Sie es bemerkt haben.“
Das gab ihm die Gelegenheit, eine neue Theorie zu entwickeln, die ihn wie gewöhnlich vom Gegenstand abbrachte.
„Da es malerisch und schön ist, ist es auch echt, entspricht etwas daran einer Notwendigkeit. Warum sollte man diese nicht zu entdecken suchen? Und ich meine .entdecken' im wahrsten Sinne des Wortes. Da es niemand schadet und dem Afrikaner Spaß macht, warum sollte man nicht versuchen, ihnen Mittel und Wege zu weisen, ihren Handel selbst zu verbessern? Aber du wirst sehen, das moderne Leben wird das alles niedermähen.“
Derval ging mir inmitten der Käufer und Gaffer einige Schritte voraus. Er blieb bei einem Klapptischchen stehen. Ich war zu Anfang der Szene nicht dabeigewesen und verstand nicht, was mein Mitbruder sprach. Er hielt ein Stück Seife in der Hand und erzielte mit seiner geläufigen Zunge einen großen Lacherfolg. Ich sah nur, daß ihm der kleine Händler Geld zurückgab. Eine Gruppe hatte sich um Derval gebildet, der lächelnd weiterging.
„Er hat genau gesehen, daß ich mich geirrt habe. Das hat er benützt, um alles einzustecken. Darüber kann man sich nicht wundern. Der Weiße verdient sein Geld mühelos. Merkwürdig ist nur die Art, wie er es wieder gut gemacht hat. Er hat es auf die natürlichste Art der Welt getan.“
„Was haben Sie ihm gesagt?“
„Ich habe ihm sehr_ weitläufig erklärt, daß er mich nur für so dumm halten dürfe, wie ich bin — und das äst nicht wenig —, und nicht für sehr dumm, was zuviel wäre. Ich habe die Gelegenheit benützt, den Leuten klarzumachen, was nach meiner Ansicht ein Missionär sei, eia Mann Gottes, ein Weißer, der anders ist als die anderen. Ich weiß wohl, daß andere dem guten Mann die Nase eingeschlagen hätten. Aber dazu sind wir nicht da.“
Man erwartete uns in einer seit langem getauften Familie, wo am Abend vorher eine Hochzeit stattgefunden hatte. Verwandte und Freunde bildeten eine Gruppe sehr gebildeter Christen, die jedoch die alten Traditionen mit sehr viel Würde wahrten. Der junge Ehemann mußte den Ehering in einem Blumenkorb suchen und unter dem Beifall der Gäste seiner Braut an den Finger stecken. Das Oberhaupt der Familie hielt eine Rede, die man bei uns als „bemerkenswert“ bezeichnet hätte.
Derval erkannte viele frühere Schüler der Mission von Affob wieder. Ich hatte aufs neue den tiefen Eindruck wie bei dem Fest im Stadion.
Auf der Rückfahrt hielt Derval den Wagen plötzlich an und begann wie von inncrem Feuer verzehrt zu sprechen. Er sah gerade vor sich hin, die Hände auf das Lenkrad gestützt. Ich fühlte, er wollte mir den brennenden Eifer mitteilen, der ihn als Missionär erfüllte, als Missionär, der wie in einer Vision ganz Afrika im Lidite des Glaubens vereint in die Zukunft schreiten sah.
„Kleiner Bruder, hasten Sie nicht zu sehr! Lassen Sie sich Zeit, mit Ihren Leuten zu leben, um sie kennenzulernen und von ihnen erkannt zu werden. Stellen Sic den menschlichen Kontakt her. Gott wird es ganz von selbst auf Sich nehmen, Ihr Priestertum so fruchtbringend zu gestalten, wie Er es sich vorstellt. Ich habe einen Missionär gekannt, dem man vorwarf, er tue zuwenig. Vielleicht war es so. Aber schicken Sie ihn nur in das Dorf zurück, wo er gelebt hat, und Sie werSen sehen, was für einen Empfang man ihm bereitet.
Es hat keinen Sinn, mit den Leuten im Busch zu diskutieren. Diskutieren Sie mit Ihren Mitbrüdern, die Liebe zum Amt erfordert es. Aber Diskussionen haben noch niemand bekehrt. Wenn Sie auch noch so lange über Religion reden, der andere erfährt doch immer zuwenig davon. Lassen Sie Ihre Ueberzeugung ausstrahlen. Wenn Sie wirklich überzeugt sind — besonders an Tagen der Entmutigung —, daß Ihr Amt dennoch das herrlichste ist, das es gibt, dann wiegt das alle gescheiten Gedanken auf, auch Ihre eigenen besten. An den schlechten Tagen sieht das nach nichts aus, aber Sie werden sehen, in manchen Stunden wird es seine volle Bedeutung gewinnen; wenn Sie zum Beispiel abends im %isch an der Seite eines Menschen sind, dem Sie sich ganz nahe fühlen, weil Sie ihn zuerst die Liebe gelehrt haben.“
Nach einem Stillschweigen kehrte Derval wieder zur Erde zurück und sagte lächelnd:
„Wie wär's, wenn wir jetzt schlafen gingen...“