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Der alte Arbeiter im verfallenden Stadtteil

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Er sagte, daß er knapp nach dem ersten großen Krieg geboren wurde. Er hielt inne, musterte sein Gegenüber, und schien zu überlegen, ob dieser junge Mensch ihn überhaupt verstehen könne. Er schwieg eine Weile, saß still auf der Parkbank aus Stein, und nur solche gab es noch, die anderen aus Holz waren schon lange zersägt und während des Winters verheizt. Aber es war Sommer. Die Morgensonne hatte die Steinplatte erwärmt, und man saß angenehm zwischen staubigen Föhren und den alten Platanen, deren Stämme gemustert waren wie die geflickten Röcke, die manche Menschen in jenem Stadtviertel noch trugen, und die man nach dem zweiten großen Krieg einst aus den erbeuteten Stoffen für die Tarnanzüge des damals besetzenden Militärs in großen Mengen für die Bevölkerung geschneidert hatte. Auch er trug eine solche Jacke. Sie war zu groß für seine schlanke Gestalt und es schien, als ob er in einen zu kurzen Mantel gekleidet wäre. Dabei trug er dieses uralte Kleidungsstück mit großer Würde, und es war, als ob der Bischof der Stadt seinen prunkvollsten Ornat angelegt hätte.

Danach hatte er offenbar Vertrauen in die Verständnisfähigkeit seines jungen Gegenüber gefaßt. Er setzte fort und sagte, daß diese Gegend hier immer eine der armen Leute gewesen sei. Fabriken rundum, und heute werde nur noch in wenigen gearbeitet. Früher sei das anders gewesen, aber früher sei vieles anders gewesen als heute. Fabriken und Wohnhäuser für die Arbeiter habe es hier gegeben, seit der Stadtteil vor hundert und mehr Jahren entstanden war, Wirtshäuser dazu, und einige kleine Läden. Er zögerte, und schaute sein Gegenüber noch einmal prüfend an. Niemals hat es in diesem Bezirk eine Kirche gegeben, sagte er schließlich, und so ein Gebäude wäre damals auch überflüssig gewesen. Niemand wäre hinein gegangen. Heute schon? Die Frage schien den alten Mann zu überraschen. Er überlegte. Dann sagte er, daß hier nur noch wenige Menschen wohnen, Leute, die mit ihm alt geworden wären. Die würden wohl hingehen, sagte er, aber niemand wird hier eine Kirche bauen. Danach forderte er sein Gegenüber auf, doch um sich zu blicken. Überall Verfall, sagte er. Sehen sie doch, wie der Wind in den Abfallhaufen spielt, und mit den losgerissenen Fenstern der unbenutzten Gebäude.

Dann war es, als ob er mit einem Mal nicht nur Vertrauen in die Verständnisfähigkeit seines Gegenübers habe, sondern auch von dessen Lauterkeit überzeugt wäre. Mein Vater war Arbeiter, setzte er fort, und ich war Arbeiter. Mein Sohn, dereine, der am Leben blieb, ist Ingenieur. Er lebt irgendwo, und ich weiß nichts von ihm. Nie hat er auf mich gehört und manchmal denke ich, daß es gut war. Aber oft meine ich, daß er das Wichtigste im Leben unwiederbringlich versäumt, weil er niemals hören wollte, was ich von meinem Vater hörte, und dieser wieder von seinem Vater einst zu hören bekommen hatte, und was uns alle zu glücklichen Menschen gemacht hat.

Er saß aufrecht. Er strich mit der rechten Hand über seinen wei-'ßen Bart, der ihm bis über den Hals reichte, und augenbhcklang sah er aus wie einer der Kirchenväter einer alten Ikone. Es ist schön, sagte er, daß ein junger Mensch wie Sie unseren alten Arbeiterbezirk besucht, um darüber in einer Zeitung zu schreiben. Die ganz Stadt verfällt. Ich weiß es, da ich manchmal in andere Bezirke gehe, um mir dies oder jenes anzusehen. Aber nirgends ist der Verfall größer als hier. Und es sind nicht nur die Häuser, die verfallen. Er lachte, weil sein Gegenüber erschrocken war. Mein Vater, setzte er fort, und auch ich, wir hatten einst vieles von der damals revolutionär genannten Literatur gelesen. Heute redet keiner mehr davon, und manchmal meinte ich, daß wir alles ganz falsch verstanden hätten. Aber wir hatten schon richtig verstanden. Außerdem waren wir nicht allein. Damals hat es hier sehr viele Menschen gegeben, die wie mein Vater, die wje ich, gedacht und gehandelt haben.

Sie langweilen sich, sagte er, als der andere in den Taschen zu kramen begann, um zuletzt eine verbogene Zigarette herauszuholen, sie rasch zu entzünden, und den Rauch gierig in die Lungen zu ziehen. Sein Gegenüber wollte verneinen, begann aber zu husten, worauf ihm der Alte hilfreich auf den Rücken klopfte. Also sehen Sie, sagte er, Sie sollen etwas Interessantes zu schreiben haben. Also hören Sie zu. Alle im Bezirk, die wenigen Wirte und Händler ausgenommen, waren einst Arbeiter, und die Familien waren immer Arbeiterfamilien gewesen. Wir hatten wenig, aber wir konnten leben. Manchmal wurde einer der Familie gekündigt. Die anderen rückten zusammen und er wurde selbstverständlich mitgetragen. Das war aber nicht nur innerhalb der Familien so. Freunde, Bekannte, ja sogar Fernstehende wurden mitgetragen, haben bei jenen, die im Augenblick mehr hatten, gegessen und getrunken, und oft sogar das Geld für überfällige Mieten geborgt bekommen, bis alles einmal wieder besser sein würde. Niemand hat damals an sich allein gedacht. Ich habe das noch von meinem Vater gelernt. Nie durfte ich ICH denken, immer nur WIR. Keiner von uns ist in den Jahren vor und nach dem zweiten großen Krieg auf die Idee gekommen, er hätte ein Recht, dies oder jenes für sich zu verbrauchen, er hätte ein Anrecht auf Glück, Freude, Wärme, auf bequemes Leben. WIR haben dieses Recht darauf, wir alle, aber niemals ein einzelner Mensch. So hat mein Vater gedacht, so haben damals alle hier gedacht, und so denke ich heute noch. Es ist nur gleichgültig geworden, was ich denke.

Er sah die großen, staunenden Augen seines Gegenüber. Er lachte und sagte, daß jener wohl staune, daß er als alter Mann solchen Abstieg, wie er hier zu merken sei, mit so großer Gelassenheit hinnehmen, und sich dazu noch etwas fröhliche Zufriedenheit bewahren könne. Denn das merke er doch, und das bringe ihn zum Staunen. Der andere nickte bloß. Der alte Arbeiter setzte fort, und schien nun nur noch beiläufig zu plaudern. Aber sein Gegenüber horchte auf, als der Alte erzählte, daß er jedes Mal, wenn er diesen seinen Wohnbezirk verlasse, im Zentrum der Stadt unter anderem in die große Kirche gehe. Die alte Revolution ist immer gegen die Kirche gewesen, erklärte der Alte rasch, aber wir in unserem Fabriksbezirk hatten ohnehin nie eine, weder ein Gebäude, noch Priester, noch die dazugehörigen Gläubigen.

Sein Gegenüber wollte eine Frage stellen, und hob die Hand. Aber der alte Arbeiter war nicht mehr zu unterbrechen. Sie staunen, daß ich fröhlich bin. Der Grund dafür ist einfach, und alles ist leicht zu verstehen. Sie wissen schon, daß ich, wenn ich zwei oder drei Mal des Monats ins Zentrum gehe, die große Kirche besuche. Dort habe ich mich mit einem Priester befreundet, der so alt ist wie ich, oder noch älter, und der mir sogar ein wenig ähnlich sieht. Und ich sage es gleich jetzt: Unsere Revolution, die meiner Vorfahren und die meine, mag erledigt sein, und sie mag der Vergangenheit angehören. Trotzdem wird sie immer am Leben bleiben.

Wieso? Das wollen Sie wissen? Ich habe es vom alten Priester in der großen Stadtkirche erfahren. Er sagt, daß niemand je allein das Reich nach und jenseits dieser Welt betreten wird. Das habe dieser Menschenfreund Jesus als Christus vor zweitausend Jahren gesagt, und seither glaubt man ihm hier oder da. Immer nur wenige glauben es, hat mir dieser alte Mann gesagt, aber man glaubte ihm durch die Jahrhunderte. Sehen Sie, das tröstet mich. Unser Vater, sagen diese Leute, nicht mein Vater, unser tägliches Brot gib uns, und nicht meines mir, unsere Schuld vergib uns, nicht mir die meine, erlöse uns, und nicht bloß mich allein. Jeder denkt heute ICH, und niemand denkt WIR. Diese Kirchenleute aber denken dieses WIR schon zweitausend Jahre lang. Und rede ich mit dem alten Priester, meine ich oft, meinen Vater zu hören, der auch immer bloß WIR gesagt hat, und niemals ICH.

Also gehen Sie, mein junger Freund, und schreiben Sie in Ihrer Zeitung über diesen sterbenden Stadtbezirk, über unsere toten Fabriken und die leeren, verfallenden Häuser, und vergessen Sie nicht, wie zärtlich der Wind hier manchmal die Abfallhaufen vor sich hin treibt und hinter den Höfen der versperrten Fabriken versteckt. Und schreiben Sie über den alten Arbeiter, der trotz allem fröhlich und getröstet ist, weil er erfahren hat, daß es allem Gelächter der Welt zum Trotz durch zwei Jahrtausende Menschen gab und heute noch gibt, die niemals aufhören werden, WIR zu sagen an Stelle von ICH.

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