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Widcr Jen Krieg

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Im Jahre 1920 zog ich den Soldatenmantel aus wie alle anderen auch. Ich war zweiunddreißig Jahre alt und hatte gelernt, gut zuzuhören und zu beobachten. Ohne Zweifel machte ich mir schon damals nicht viel mehr Illusionen über die angeblichen Kreuzzüge für die Freiheit als heute. Ich redete mir nicht ein, daß „die Pforte zum Paradies auf Erden Verdun heißen wird“, wie irgendein Redakteur des „Echo de Paris“ damals schrieb. Glaubt mir nur, ich war weit davon entfernt, eine Zeit des Wohlstandes, des Uberflusses und vor allem der Sicherheit zu erwarten. Ich sagte mir damals: „Dieser Krieg ist gewiß nicht der letzte, aber sicherlich wird man vor Ablauf vieler Jahrhunderte einen solchen Betrug nicht wieder erleben. Die Menschen, die man durch einen Frieden zu täuschen versucht, den offensichtlich verdächtige Elemente und Gangster untereinander abschließen, ein Friede, der letzten Endes nichts weiter ist als eine zwischen Komplicen vorgenommene Liquidierung des riesigsten Bankrotts, der sich je ereignete, werden sich dies zweifellos nicht gefallen lassen, sondern viel eher das ganze System über den Haufen werfen. Wir werden schwierige Zeiten kennenlernen, aber die Menschheit steht immerhin noch nicht am Ende ihrer Möglichkeiten, noch einmal wird sie sich im Chaos erneuern. Die größten Wiedergeburten in der Geschichte haben sich immer durch die gewaltigsten Zuckungen angekündigt“ ... und dergleichen und dergleichen ... Paris war damals der Jahrmarkt der Welt, auf dem das internationale Gesindel, das in Hotelpalästen und Schlafwagen haust, sich auf dem Montmartre am Gold berauschte wie der Trinker am Wein. Die Temperatur, die einen dort umgab, war selbst im Februarregen die eines Bordellsalonsj aber der Franc fiel dafür bis unter Null, und die Verleger, die sich durch ihre Reklame selber in hysterische Zustände hineinsteigerten, so wie ein Einfaltspinsel sich durch eine bestimmte Anordnung von Spiegeln bis ins Unendliche vervielfältigt sieht, entdeckten jeden Tag ein neues Genie. Wer jene Zeit nicht erlebt hat, weiß nicht, was Ekel ist. Man brauchte bloß die Luft der Boulevards einzuatmen, um den Geruch der Massengräber zu spüren, die doch erst neunzehn Jahre später wieder aufbrechen sollten. Auch mitten im Winter kommen manchmal solche Tage, an denen uns, man weiß nicht woher, der Duft des Weißdorns anweht, obwohl er doch noch kahl ist und von hohem Schnee bedeckt. Damals ging ich umher, bald glücklich, bald unglücklich, aber im Herzen spürte ich stets eine von Angst erfüllte Leere. Ach nein! Meine Worte sind kein literarisches Geschwätz! Alle, die mich damals kannten, wissen, daß ich nicht lüge. Ich ging umher und betrachtete in den Straßen, an den Tischen der Cafes, an den Toren der Fabriken und der Werkstätten diese Männer, die fünf Jahre hindurch meinesgleichen gewesen waren, meine Kameraden, diese verhärteten Gesichter, diese Soldatenhände. Man hatte sie Jahrgang nach Jahrgang entlassen, so wie man auf Regalen noch nicht entschärfte Granaten vorsichtig aneinanderreiht — eine offensichtlich überflüssige Vorsichtsmaßnahme. Sie waren und werden immer nur eine Gefahr für den Feind sein, das heißt für das, was die Dienstvorschrift im Felde darunter zu verstehen erlaubt. Sie hatten als Bürger gekämpft, sie hatten in Massen ihre bürgerliche Pflicht erfüllt, sie waren in den Krieg gezogen, so wie sie auch zur Wahlurne gingen — nur sehr viel ruhiger als bei der Wahl —, denn sie empfanden sehr wohl, daß dies nun eine ernste Sache war, die lange dauern würde. Der Krieg hat aus ihnen nicht einmal Abenteurer gemacht; wie hätte er sie dann zu Revolutionären erziehen können? Diese Männer, die so oft ihr Leben aufs Spiel gesetzt zu haben schienen, so wie man mit einer Münze „Zahl oder Adler“ wirft, waren jetzt weniger als alle anderen Menschen zum Spielen aufgelegt. Denn sie hatten in Wirklichkeit niemals ihr Leben wie im Spiel eingesetzt, sondern sie hatten sich ganz einer Aufgabe verschrieben, die im übrigen nichts anderes als ein Handwerk war, ein Handwerk, das sie wie jedes andere erlernt hatten. Im Anfang hatten sie Lehrlinge sein müssen — das heißt — „Neue“, um dann die „Alten“ zu werden. Und sie waren ihrer Arbeit nicht gram, sie wurden immer irgendwie mit ihr fertig, ohne je zuviel zu tun, aber auch ohne je zu pfuschen. Denn so befahl es ihnen ihre wunderbare Gewissenhaftigkeit als gute Arbeiter. Sie spielten nicht mit ihrem Leben wie mit einer Münze, sie setzten es nicht aufs Spiel, in des Wortes ursprünglicher Bedeutung; man ließ es sie aufs Spiel setzen, und sie empfanden dies als durchaus berechtigt oder zumindest doch als unvermeidlich. Solange das Unternehmen nicht beendet war, hätten sie sich geschämt, diese Angelegenheit mit ihrem Unternehmer überhaupt zu diskutieren. Aber sie nahmen sich selber das Versprechen ab, sehr ruhig zu leben, sobald sie nur diesen Arbeitsplatz verlassen hätten. Ja, sicher sehen die Bilder in einem Kriegskalender anders aus... Wenn nur Van Gogh sie hätte malen können! Sie waren zu Helden geworden. Sie waren es geworden, ohne es zu wissen, denn ihr Heldentum lag ja gerade darin, sich selber vergessen zu können. Sie wollten sich nicht sehen, so wie sie waren. Und sie sahen sich immer weniger, je höher sie sich über sich selbst erhoben. Ihre Heiligkeit konnte den Krieg nicht überdauern, sie war mit diesem Krieg verwachsen, sie war ja dieser Krieg selber, ich weiß nicht, wie ich dies ausdrücken soll, denn ich bin selber nach so vielen Jahren noch nicht sicher, ob ich es verstanden habe. Gewiß, als ich sie vor einem Vierteljahrhundert voller Bitterkeit im Herzen beobachtete, ließ ich ihnen keine Gerechtigkeit widerfahren. Es empörte mich, zusehen zu müssen, wie sie sich so gehorsam in einer Zeit einrichteten, die ihre Größe und ihr Elend ganz offen verleugnete. Aber in ihrer Bescheidenheit machte es ihnen nichts aus, sogar ihre eigene Größe zu verleugnen. Und was nun ihr früheres Elend anbelangte, so schämten sie sich dessen, sie sprachen von ihm zu keinem

Menschen, sie fürchteten, den Eindruck eines Bettlers zu erwecken, der seine Hand ausstreckt. Als ich zu ihnen sagte: „Um ertragen zu können, daß sich Frankreich aus diesem Krieg in ein Karnevalstreiben stürzt, müssen wir schon hartgesottene Lumpen sein!“, betrachteten sie mich aus ihren unerbittlichen Augen, mit demselben stählernen Blick, mit dem sie die Entfernung von einem Geschoßtrichter zum anderen oder die Flugbahn einer Granate abschätzten und antworteten mir belustigt: „Mach dir um Frankreich keine Sorgen, mein Junge!“ Sie liebten Frankreich, ja, sie liebten es, wie keine andere Generation es je geliebt hat, aber sie meinten, kein Recht auf Frankreich zu haben. Und sie hatten auch wirklich keines. Aus dem Buch: „Wider die Roboter“, Verlag Gustav Kiepenheuer, Köln und Berlin.

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